Den Stress aus dem Alltag nehmen
Matthäus 6, 25–27Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen oder trinken sollt, noch um euren Leib, was ihr anziehen sollt! Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Spanne verlängern?Einheitsübersetzung 2016Den Stress aus dem Alltag nehmen
Was habe ich mir nicht alles schon vorgenommen! Weniger Stress, mehr Bewegung, gesündere Ernährung, mehr Zeit für mich selbst, genügend schlafen, meine freundschaftlichen Kontakte pflegen und und und… Doch alle diese Vorsätze tun mir irgendwie nicht gut, weil ich sie entweder halte und damit gewaltig in Stress gerate — oder weil ich sie eben nicht halte und dann ein schlechtes Gewissen habe oder mir Vorwürfe mache. Wie befreiend klingt da der folgende Satz: «Heute — nur für heute werde ich mich bemühen, einfach den Tag zu erleben – ohne alle Probleme meines Lebens auf einmal lösen zu wollen.» — Dies ist der erste Vers aus den «Zehn Geboten der Gelassenheit» — dem wohl bekanntesten Text aus der Feder von Angelo Roncalli, besser bekannt als Papst Johannes XXIII. Zehn kurze Sätze, die jeweils so beginnen: «Nur für heute werde ich …». Dieser Mensch war ein Lebenskünstler und wusste, wie man den Stress aus dem Alltag nimmt. «Heute» war offensichtlich eines seiner Lieblingswörter. In seinem Kampf um eine Kirchenreform erfand er ein neues Wort: «Aggiornamento». Im Deutschen braucht es dafür einen ganzen Satz: «ins Heute übersetzen» oder «im Heute ankommen». Das war eine Art Leitmotiv für das Zweite Vatikanische Konzil.Wenn wir unseren persönlichen Umgang mit der Zeit etwas unter die Lupe nehmen, so entdecken wir, dass Vergangenheit und Zukunft oft viel mehr Raum einnehmen als die Gegenwart. Wie gerne würden wir Vergangenes festhalten oder Dinge rückgängig machen — doch das geht nicht. Wir können uns freuen an dem was war, vielleicht auch manches heilen lassen, aber ändern können wir es nicht mehr. Und noch häufiger sind wir mit unseren Gedanken bereits in der Zukunft, schauen in den Terminkalender, träumen von dem, was kommen wird oder machen uns Sorgen darüber. Aber die Zukunft haben wir nicht in der Hand. Es ist erstaunlich, dass wir mit unseren Gedanken so selten in der Gegenwart sind. Dabei ist das der Augenblick, den wir wirklich gestalten können und über den wir in voller Freiheit verfügen. Die Gegenwart ist der alles entscheidende Punkt im Fluss unserer Zeit. Jetzt bin ich lebendig, jetzt bin ich berührbar, jetzt bin ich ganz da. Heute, nur heute.Das letzte der «Zehn Gebote der Gelassenheit» heisst: «Nur für heute werde ich fest daran glauben – selbst wenn die Umstände das Gegenteil zeigen sollten –, dass die gütige Vorsehung Gottes sich um mich kümmert, als gäbe es sonst niemanden auf der Welt. Nimm dir nicht zu viel vor. Es genügt die friedliche, ruhige Suche nach dem Guten an jedem Tag zu jeder Stunde, und ohne Übertreibung und mit Geduld.» Was für eine wunderbare Botschaft: Wir dürfen es gelassen nehmen, denn Gott sorgt für uns!
Nadia-Miriam Keller
Theologin,
arbeitet als Spitalseelsorgerin am St. Claraspital in Basel