«Trittst im Morgenrot daher»
Am 12. SepÂtemÂber 2015 ist es soweit. In Aarau findÂet das EidÂgenösÂsisÂche VolksmusikÂfest statt und der KünÂstlerÂwetÂtbeÂwerb um eine neue NationÂalÂhymne, den die SchweizÂerische GemeinÂnützige Gesellschaft (SGG) am 1. JanÂuÂar 2014 ausÂgeschrieben hatÂte, endet mit dem Finale in der Sendung «PotzÂmusig».1. August 2015 irgendÂwo im AarÂgau in einem SBB-Wagen. Der BunÂdesÂfeiertag ist TheÂma in allen Gesprächen und aus dem NachÂbarabteil ertönt, text- und tonÂsichÂer, eine JunÂgenÂstimme: «Trittst im MorÂgenÂrot daher/ Seh’ ich dich im Strahlenmeer/ Dich, du Hocherhabener/ HerÂrlichÂer! Wenn der AlpenÂfirn sich rötet/ Betet, freie SchweizÂer, betet!» — Stille und nach einÂer kurzen Zeit sagt eine dazugeÂhörende ErwachÂseÂnenÂstimme: «BraÂvo, damit kannst du mehr, als die meisÂten von uns SchweizÂern».
SperÂriger Text
Dass sich selbÂst mit dem Text vor Augen nicht automaÂtisch SangesÂbegeisÂterung einÂstellt, erlebte Jean-Daniel GerÂber, PräsiÂdent der SGG, am 1. August 2011 auf dem Rütli. ErstÂmals durfte er am Anlass zur BunÂdesÂfeier die Hymne anstimÂmen und staunte über die manÂgelÂnde BegeisÂterung, obwohl den Gästen der Text vorÂlag. «Er sah den Grund für diese Malaise im Text, der sprachÂlich sperÂrig ist und voller Bilder, die nicht unserem SprachÂschatz entsprechen», erkÂlärt Lukas NiederÂbergÂer, GeschäftÂsleitÂer der SGG. Anfang 2014 wurde dann der WetÂtbeÂwerb ausÂgeschrieben. «HisÂtorisch hat sich die SGG stets mit der Frage auseinanÂdergeÂsetÂzt: Welche Schweiz wollen wir? Was sind unsere Werte? Sie macht das heute unverÂminÂdert und diese DiskusÂsion ist nie abgeschlossen. Sie wird von jedÂer GenÂerÂaÂtion neu geführt. Mit der Suche nach einÂer neuen NationÂalÂhymne möchte die SGG diese FraÂgen gemäss ihrer TraÂdiÂtion fortÂsetÂzen», begrünÂdet Jean-Daniel GerÂber den Schritt in einem InterÂview auf der HomeÂpage der SGG.
Rege BeteiliÂgung
Der RückÂlauf an VorschläÂgen überÂraschte sogÂar die SGG: statt der erwarteten etwa 50 trudelÂten nach und nach 208 WetÂtbeÂwerbÂsÂbeiträge ein. Auch ein AarÂgauer Vorschlag, von Hans Müller aus KütÂtiÂgen, war dabei und schaffte es gar unter die besten Zehn. «SpanÂnend ist, dass sich die Öffentlichkeit und die MediÂen in der Romandie viel stärkÂer für eine neue Hymne interÂessieren als die MenÂschen in der Deutschschweiz. Ich glaube, dass dies einÂerÂseits damit zusamÂmenÂhängt, dass in der franzöÂsisÂchen KulÂtur mehr über GrundÂsatzfraÂgen der PoliÂtik und Gesellschaft reflekÂtiert und gereÂdet wird. Und anderÂerÂseits ist die franzöÂsisÂche ÜberÂsetÂzung des SchweizÂerpÂsalms schlimm», sagt Lukas NiederÂbergÂer. Eine Jury von 30 FachÂleuten aus den verÂschiedenÂsten gesellschaftlichen BereÂichen beurteilte die EinÂsendunÂgen und reduzierte sie auf sechs Beiträge, über diese konÂnte öffentlich online abgesÂtimmt werÂden; drei sind nun im Finale. Und wie ist die StimmÂbeteiliÂgung der Bevölkerung? Über aktuelle Zahlen will Lukas NiederÂbergÂer nichts sagen. Doch beim ersten Online-VotÂing besuchtÂen rund 100 000 PerÂsoÂnÂen die WetÂtbeÂwerbÂsÂseite. «NatürÂlich wäre mir am liebÂsten, es würÂden 7 MilÂlioÂnen BesuchÂer auf die Seite komÂmen, doch ich bin mit den Zahlen bishÂer zufrieden», ergänzt er. Dass der WetÂtbeÂwerb öffentlichkeitswirkÂsam ist, zeigt eine StrassenÂbeÂfraÂgung in BremÂgarten. Nur einÂer von knapp zwanzig Befragten wusste nichts mit dem TheÂma anzÂuÂfanÂgen.
Die GottesÂfrage
Die Voten der Befragten sind überÂraschend einÂdeutig und machen einen merkÂwürdiÂgen WiderÂspruch deutÂlich. Die Mehrheit wünÂscht sich, dass die aktuelle Hymne beibehalÂten wird; gleÂichzeitÂig will ein noch grösserÂer Teil der Befragten keinen GottesÂbezug im Text. Im Fall der aktuellen VerÂsion ein Ding der Unmöglichkeit. Die BegrünÂdung ist in jedem Fall dieselbe: «Es geht in der Hymne um das Land und nicht um Gott. Warum sollte also eine Art Gebet unsere Hymne sein?», forÂmuliert es ein GesprächspartÂner. An der GottesÂfrage scheiÂden sich die GeisÂter. «Gott gehört zwinÂgend hinein», sagt MarÂcel NotÂter, GenÂerÂalsekretär der Römisch-KatholisÂchen LanÂdeskirche AarÂgau. Ihm gefalle die Hymne, auch wegen der NaturÂbilder; eine neue brauche es nicht. Luc HumÂbel, KirchenÂratÂspräsiÂdent der Römisch-KatholisÂchen LanÂdeskirche AarÂgau, sieht ebeÂfalls keine Notwendigkeit, die Hymne zu ersetÂzen. Zur GottesÂfrage sagt er: «Wenn es um die BestreÂbung gehen sollte, den Bezug zu Gott zu verÂwässern, soll man sich vor Augen halÂten, wie viele ChrisÂten in diesem Staat leben». GrundÂlage für eine TextneÂuÂfasÂsung im RahÂmen des WetÂtbeÂwerbs war die PräamÂbel der BunÂdesverÂfasÂsung, die mit dem Satz «Im Namen Gottes, des AllmächtiÂgen» beginÂnt. «Die AutorinÂnen und Autoren mussten die PräamÂbel nicht wortwörtlich in einen neuen HymÂnenÂtext umsetÂzen. AutorinÂnen und Autoren, die nicht an einen perÂsönÂlichen Gott glauben oder der MeiÂnÂung sind, dass Gott nicht explizÂit in der Hymne eines religiös neuÂtralen Staates steÂhen sollte, haben den ersten Satz der PräamÂbel nicht verÂwenÂdet», erkÂlärt Lukas NiederÂbergÂer.
Christliche Werte
In poliÂtisÂchen und gesellschaftlichen DiskusÂsioÂnen um das SelbÂstverÂständÂnis der Schweiz werÂden oft «christliche Werte» ins Feld geführt. Doch muss deshalb in der NationÂalÂhymne von Gott gesunÂgen werÂden? Valentin Abgottspon, VizepräsiÂdent der FreiÂdenker-VereÂiniÂgung Schweiz (FVS) und zuständig für das Ressort PoliÂtik, stellt in Frage, ob jedes gute HanÂdeln automaÂtisch auf eine christliche Basis zurückÂzuführen sei. Bezüglich der NeuÂfasÂsung der Hymne sagt er: «Wir wünÂschen uns eine möglichst neuÂtrale Sprache. Im Sinne des InkluÂsionÂsÂgedankens sollÂten GottesÂbezug und ReliÂgiosität, ReliÂgioÂnen und religiöse BekenÂntÂnisse nicht in unserÂer LanÂdeshymne vorkomÂmen. Diese soll ja alle ansprechen.» ÄhnÂlich forÂmuliert es auch ein TheÂologe. Robert Trottmann aus Baden, LiturgikÂer und PfarÂrer im RuhÂeÂsÂtand, hat ebenÂfalls einen neuen Text geschrieben und erkÂlärt: «Ich habe bewusst das Wort «Gott» nicht verÂwenÂdet. Das hat für mich mit Respekt für diejeniÂgen zu tun, die nicht an Gott glauben und anderÂer AufÂfasÂsung sind. Auch diese sollen sich mit dem Text idenÂtiÂfizieren könÂnen. Eine NationÂalÂhymne soll für alle da sein.» Wichtig ist ihm allerdÂings, dass die «Sache Gottes», das Reich Gottes, im Text zur Sprache kommt. Ein GesprächspartÂner bei der StrassenumÂfrage findÂet deutÂliche Worte: «Ich fände es gut, wenn es eine neue NationÂalÂhyÂmen gäbe. Doch obwohl ich Christ bin, würde ich den GottesÂbezug rausÂlassen. Viele MenÂschen könÂnen mit Gott nichts mehr anfanÂgen. Es kann nicht Sinn und Zweck einÂer NationÂalÂhymne sein, Anders- oder NichtÂgläuÂbige auszuschliessen. Gott ist schnell Grund für StreÂit, und eine Hymne soll doch Freude über das Land ausÂdrückÂen. Und Dankbarkeit.»Wer sich selÂber ein Bild von den drei FinalÂbeiträÂgen machen möchte, findÂet diese auf
www.chymne.ch
Der GewinÂner des Finales wird der BunÂdesÂbeÂhörde als neuer HymÂnenÂvorschlag vorgelegt. Die BunÂdesÂbeÂhörde entscheiÂdet dann über das weitÂere VorgeÂhen.