So geht christlich abstimmen
Christinnen und Christen teilen gemeinsame Werte, die sie auch geltend machen bei Abstimmungen. Biblisch gestützte Argumente gibt es auf der Seite der Befürworterinnen und der Gegner. Thomas Wallimann-Sasaki, Leiter des Instituts für Sozialethik «ethik22» findet in drei Schritten aus einem Dilemma.
Aktuell hängen keine Banner von den Kirchentürmen, wie zu Zeiten der Konzernverantwortungsinitiative, als die Kirchen sich öffentlichkeitswirksam für die Vorlage ausgesprochen haben. Dennoch gibt es einige kirchliche Gruppierungen, die sich für ein «Ja» zur Biodiversitätsinitiative aussprechen. Die «oeku – Kirchen für die Umwelt», die sich für Nachhaltigkeit und umweltbewusstes Handeln in Kirchgemeinden, Pfarreien und kirchlichen Institutionen einsetzt, unterstützt die Initiative. Auch die Koalition «Christ:innen für Klimaschutz» empfehlen ein «Ja» zur Biodiversitätsinitiative am 22. September. Ihre Argumente stützen sie mit Bibelstellen. Die Initiantinnen und Initianten verweisen auf den hohen Wert der göttlichen Schöpfung und dass die Vielfalt der Geschöpfe gottgewollt sei. Die Menschen, denen die Schöpfung anvertraut ist, hätten darum den Auftrag, die Vielfalt angesichts des Artensterbens besser zu schützen. Sollten Christinnen und Christen also aus christlicher Sicht die Biodiversitätsinitiative befürworten?
Die Biodiversitätsinitiative in Kürze
In der Schweiz sind die Lebensräume für Tiere und Pflanzen unter Druck. Das wirkt sich negativ auf die Artenvielfalt aus. Gründe dafür sind das Wachstum der Bevölkerung in der Schweiz und der damit im Zusammenhang stehende Siedlungs- und Infrastrukturdruck ebenso die intensive Landwirtschaft im Mittelland.Getragen wird die Initiative von verschiedenen Umweltverbänden, dem Schweizer Heimatschutz der Stiftung Landschaftsschutz. Sie will den Bund und die Kantone für den Schutz stärker in die Pflicht nehmen und dies in der Verfassung verankern.Der Bundesrat und das Parlament lehnen die Initiative ab.
Selbst entscheiden
«Das kommt auf das Natur- und Schöpfungsverständnis der Menschen an», sagt Thomas Wallimann-Sasaki, Leiter des Instituts für Sozialethik «ethik22», auch wenn Christinnen und Christen die Natur als Schöpfung und Geschenk wahrnehmen, gingen doch alle mit diesem Geschenk etwas anders um. Je mehr der Natur aber ein Eigenwert zugesprochen werde und die Menschen sich selbst als Akteurinnen und Akteure begriffen, die dieser Natur Sorge tragen müssen, desto eher würden diese Menschen die Natur schützen wollen. Ob die Initiative das richtige Mittel sei, um dies zu tun, müsse jede Christin und jeder Christ für sich selbst entscheiden.
Sozialethisches Institut «ethik22»
Das sozialethische Institut «ethik22» will Orientierung zu komplexen wirtschaftlichen und politischen Gesellschaftsfragen bieten. Der Theologe Thomas Wallimann-Sasaki ist der Leiter des sozialethischen Instituts. Er und sein vierköpfiges Team orientieren mittels podcasts, Newsletter und einem gedruckten Magazin. «ethik22 – Institut für Sozialethik» besteht seit 1999 und ist aus dem Engagement der KAB (Katholische Arbeiterinnen und Arbeiter Bewegung Schweiz) entstanden.
«ethik22», der Name des Instituts, spielt auf den englischen Ausdruck «Catch 22» an für ein fast unlösbares Dilemma nach einem bekannten Roman. Dilemmata gibt es auch bei der anstehenden Abstimmung. So sollen sich der Ausbau der erneuerbaren Energien und der Schutz der Natur und Landschaft teilweise im Weg stehen. Befürchtungen werden geäussert, dass die Ernährungssicherheit für die Schweizerinnen und Schweizer mit der Umsetzung der Initiative nicht mehr gewährleistet sei. Schliesslich fürchtet der Schweizer Bauernverband bei der Umsetzung der Initiative um die Existenz der Landwirtinnen und Landwirte. Thomas Wallimann-Sasaki wendet für den Weg aus dem Dilemma die Methode der ethischen Entscheidungsfindung in drei Schritten an.
Raus aus dem Dilemma
Gelangen Sie in drei Schritten zur Entscheidung.
Erster Schritt
Sehen, wahrnehmen und sich berühren lassen.
Zweiter Schritt.
Eine Sachanalyse durchführen und die eigenen Werte, Prinzipien, das Menschenbild definieren.
Zur Sachanalyse gehören Fragen wie: Wer hat die Initiative eingereicht? Wie lautet der Initiativtext? Was sagt der Bundesrat, was das Parlament? Beide sind dagegen. Was verstehen die Initianten unter den Begriffen Natur und Landschaft und in welchem Verhältnis stehen sie? Bei der Analyse werden Expertinnen- und Expertenmeinungen konsultiert. Welchen Expertinnen und Experten schenke ich mein Vertrauen? Die Frage, ob es sich dennoch lohnt, für die Initiative zu stimmen, auch wenn davon ausgegangen werden muss, dass die Umsetzung zäh und langwierig sein wird, führt weiter zur Wertanalyse: Wie verstehe ich die Welt? Was bedeutet Verantwortung? Worin gründet mein Engagement, aber auch meine Hoffnung? Welche «roten Linien» gelten in meinem Leben? Welche Regeln oder Handlungsgrundätze sind mir für die Gesellschaft, für die Allgemeinheit wichtig?
Gerade bei Abstimmungen spielten neben den sachlichen Fragen auch die Wertvorstellungen eine wichtige Rolle. «Wertvorstellungen, Normen sind wie Wegweiser, die auf einem Werteboden stehen. Dieser Werteboden ist das Menschenbild», sagt Thomas Wallimann-Sasaki. Das Menschenbild ergebe – im Wortsinn – grund-legende Aussagen zum eigenen Weltverständnis auf die Fragen: «Ist der Mensch ein Geschöpf? Ein ewiger Wettbewerbler und Konkurrent? Ein Alleskönner? Ein Zufall der Entwicklung?»
Dritter Schritt.
Handeln – Optionen bearbeiten, zur Tat schreiten und den Abstimmungszettel ausfüllen.
Das Wohl aller
Gemäss Thomas Wallimann- Sasaki hat darum aus christlicher Sicht das Thema Nachhaltigkeit gerade in der katholischen Kirche mit der Enzyklika «Laudato Sì» von Papst Franziskus ein stärkeres Gewicht bekommen. In der sogenannten Umweltenzyklika hat der Papst darauf hingewiesen, dass mit der Natur auch die Menschen gemeint sind. So hängt die Sorge für die Natur eng zusammen mit der Sorge für Benachteiligte und Arme. Damit steht das Wohl des Planeten und aller Menschen sowie die gegenseitige Abhängigkeit im Fokus. Aus dieser christlichen Ethik wird die Natur nicht als reine Ressource gesehen, über die Menschen verfügen können. Vielmehr stehen die Menschen mit der Natur in Beziehung. Rücksicht, Zurückhaltung, Sorgfalt, Masshalten und eben auch Verzicht prägen diese Beziehung. Diese Sicht auf die Schöpfung sei im Wortsinn katholisch zu verstehen – also global – und mache nicht an nationalen Grenzen halt, sagt Thomas Wallimann Sasaki. Wenn also mit Ernährungssicherheit argumentiert werde, müsste die Ernährungssicherheit aller Menschen im Fokus stehen.
Hoffnung als Haltung
«Eine christliche Ethik ist geprägt von Hoffnung», sagt der Theologe und Ethiker. Wenn Hoffnung die Grundhaltung präge, sei Aufgeben keine Option. Selbst wenn das Abstimmungsbarometer einen Trend gegen die eigene Entscheidung zeige, sei es richtig, mit der Abstimmung ein Zeichen zu setzen. Hoffnung heisse auch, sich das Bild von Menschen, die zu sich und ihrer Mitwelt Sorge tragen, nicht durch Realitäten zerstören zu lassen, die die Brüchigkeit der menschlichen Existenz offenbarten. «Auch wenn die Welt schwierig ist, lasse ich mir als Menschen den Gestaltungswillen nicht nehmen», sagt Thomas Wallimann-Sasaki.