Seelsorge und «Exit» — Kein Widerspruch

Seelsorge und «Exit» — Kein Widerspruch

  • Katholis­che Seel­sor­gende begleit­en Men­schen, die mit der Sterbehilfe-Organisation«Exit» ihr Leben been­den möcht­en – auch wenn das von Seit­en der Kirche nicht gern gese­hen wird.
  • Andreas Zim­mer­mann ist Seel­sorg­er in der «pflegimuri» und hat eine 60-jährige Bewohner­in begleit­et, die zu Beginn dieses Jahres mit «Exit» ihrem Leben ein Ende geset­zt hat. Andreas Zim­mer­mann war bis zulet­zt dabei. Mit Hor­i­zonte hat er über diese Erfahrung gesprochen.
 Herr Zim­mer­mann, Sie haben Anfang dieses Jahres eine Frau begleit­et, die mit der Ster­be­hil­fe­or­gan­i­sa­tion «Exit» ihr Leben been­det hat. Wie kam es dazu? Andreas Zim­mer­mann: Ich habe Frau Heim­gart­ner (Name von der Redak­tion geän­dert) im Som­mer des ver­gan­genen Jahres auf der Ter­rasse ken­nen­gel­ernt. Die 60-jährige ver­mochte trotz ver­schieden­er Ein­schränkun­gen die Men­schen für sich einzunehmen und war sehr kom­mu­nika­tiv. Wir kamen ins Gespräch und Frau Heim­gart­ner wün­schte auch seel­sor­gliche Besuche. So trafen wir einan­der häu­figer. Bei unseren Gesprächen meinte sie dann oft, dass sie «ein­fach nicht mehr mag», und dass sie «mith­il­fe von Exit möglichst bald gehen» wolle. Und Frau Heim­gar­ner fragte mich dann auch, ob ich sie bis zum Schluss seel­sor­glich begleit­en würde.War für Sie sofort klar, dass Sie das machen wer­den? Das war für mich die erste Anfrage dieser Art. Für mich aber schnell klar, dass das als Seel­sorg­er zu meinen Auf­gaben zählt, jeden Bewohn­er und jede Bewohner­in seel­sor­glich zu begleit­en — völ­lig unab­hängig davon, in welch­er Sit­u­a­tion sich diese Per­son befind­et. Dabei ist mir aber wichtig, dass ich mein Gegenüber und sein Han­deln nicht beurteile und somit auch nicht seinen Entscheid, die Hil­fe von «Exit» in Anspruch zu nehmen. Man muss aber zur Sit­u­a­tion in der «pflegimuri» noch sagen: Obschon es erlaubt ist, mit «Exit« zu ster­ben, kommt es doch sehr sel­ten vor – auf 100 Ster­be­fälle ist es nur unge­fähr eine Per­son,.Hat Frau Heim­gart­ner mit Ihnen darüber gesprochen, warum sie ster­ben wollte? Ja. Seit ihrer Geburt war Frau Heim­gart­ner beim Gehen eingeschränkt. Sie wurde, so erzählte sie mir, im Laufe ihres Lebens an die 50 Mal wegen unter­schiedlichen Din­gen operiert. Seit Jugend­jahren hat sie getrunk­en und stark ger­aucht. Als ich sie ken­nen­lernte, litt sie an der Lun­genkrankheit COPD und benötigte immer wieder Sauer­stoff.Aber gle­ich­wohl schien sie nicht depres­siv, hat sich gern mit anderen Men­schen unter­hal­ten. So zumin­d­est haben Sie es beschrieben. Der Ver­lust ihres einzi­gen Sohnes hat­te ihr gemäss eige­nen Angaben den Lebenswillen genom­men — er war vor ein paar Jahren im Alter von ger­ade erst 30 Jahren nach kurz­er Krankheit völ­lig über­raschend ver­stor­ben. Frau Heim­gart­ner sah her­nach keinen Sinn mehr darin, noch irgend­wie «durchzuhal­ten».Wie denken Sie über Men­schen, die mit ein­er Ster­be­hil­fe­or­gan­i­sa­tion ihr Leben been­den möcht­en — ins­beson­dere solche, die nicht unmit­tel­bar vom tödlichen Ver­lauf ein­er schlim­men Krankheit betrof­fen sind? Wis­sen Sie, ich habe im Rah­men mein­er seel­sorg­erischen Tätigkeit hier schon einiges gese­hen. Die Betrof­fe­nen entwick­eln ihren Ster­be­wun­sch ja nicht leicht­fer­tig, son­dern weil sie lei­den. Bei ein­er Muskel­erkrankung beispiel­sweise funk­tion­iert neben vielem anderen irgend­wann auch die Dar­m­musku­latur nicht mehr. Das bedeutet per­ma­nent Durch­fall und Windeln. Und auch das Schluck­en geht nicht mehr. Und da ist dann noch die Angst vor dem Erstick­ungstod. Oder dann sind da Men­schen, die nicht mehr auf­ste­hen kön­nen, Tag und Tag liegend im Bett ver­brin­gen und mich fra­gen: «Warum kommt der Her­rgott mich denn nicht holen? Mein Leben hat doch so keinen Sinn mehr.» Da kann ich gut ver­ste­hen, dass jemand ein­fach nicht mehr will.Ver­ste­hen ist das eine, aber was für eine Hal­tung vertreten Sie als Seel­sorg­er? Ich muss ja nicht beurteilen, ob das richtig oder falsch ist, was die Men­schen machen. Meine Auf­gabe ist es, als Seel­sorg­er für die Men­schen da zu sein, wenn sie das wollen.Aber bei Ster­be­hil­fe ver­weigern nicht sel­ten die Seel­sor­gen­den die Arbeit – und das mit dem Segen ihrer Bis­chöfe. Auch Felix Gmür hat sich da ja klar posi­tion­iert. Ja, dur­chaus. Und das belastet die Men­schen, die ein­fach nicht mehr wollen und in der Ster­be­hil­fe den einzi­gen für sie gang­baren Weg sehen. Diese Men­schen wollen nicht allein gelassen wer­den. Gott, das Gebet und seel­sor­gliche Begleitung sind ihnen wichtig. Entsprechend erle­ichtert sind sie, wenn sie merken, dass die Seel­sor­gen­den sich nicht von ihnen abwen­den.Und wie recht­fer­ti­gen Sie das the­ol­o­gisch? Ich per­sön­lich bin überzeugt, dass es vom bib­lis­chen Haupt­ge­bot der Liebe aus meine Pflicht als Christ ist, auch solche Men­schen, die sich für «Exit» entsch­ieden haben, nicht allein zu lassen.Und wollen die Ster­be­wil­li­gen nicht auch wis­sen, wo Sie ste­hen? Natür­lich. Ich wurde sog­ar schon gefragt, ob ich mir auch vorstellen kön­nte, mit «Exit» zu gehen.Und was haben Sie geant­wortet? Ich habe ehrlich geant­wortet und gesagt, dass ich das für mich in ein­er sehr schlim­men per­sön­lichen Sit­u­a­tion auch nicht auss­chliessen würde.Das zeigt im Grunde sehr deut­lich, wo sie ste­hen. Wur­den Sie deswe­gen vom Bischof schon zu ein­er Aussprache bestellt? Nein, bis jet­zt nicht und ehrlich gesagt hoffe ich, dass auch der Bischof die Begleitung dieser Men­schen als Teil mein­er seel­sor­glichen Auf­gabe ansieht.Auch der Römisch-Katholis­chen Lan­deskirche Aar­gau gegenüber ste­hen Sie in der Ver­ant­wor­tung, da diese ja Ihren Lohn zahlt. Haben Sie von dort Rück­endeck­ung? Mein Vorge­set­zter weiss um diese Fälle und ich füh­le mich unter­stützt.Also Seel­sorge und Ster­be­hil­fe müssen kein Wider­spruch sein? Richtig! Davon bin ich überzeugt. Das gilt übri­gens auch für Pal­lia­tive Care. In der «pflegimuri» jeden­falls wird das so gehand­habt. Hier wird alles getan, damit es den Men­schen bis zum let­zten Atemzug so gut wie möglich geht und sie so gut als möglich schmer­zlin­dernd unter­stützt wer­den. Zusät­zlich erlaubt die «pflegimuri» auch den let­zten Schritt mith­il­fe von «Exit».Apro­pos let­zter Schritt: Wie war das denn bei Frau Heim­gart­ner? Waren Sie bis zulet­zt dabei? Ja, es war ihr ganz wichtig, dass ich bis zulet­zt dabei bin.Wie ist das abge­laufen? Die let­zte Nacht durften ihre drei  Schwest­ern mit ihr auf dem Zim­mer ver­brin­gen. Als mor­gens um 10 Uhr zwei Damen von Exit kamen, waren dann ich sowie zwei weit­ere Fam­i­lien­ange­hörige dabei. Frau Heim­gart­ner war sehr klar und ruhig. Sie wollte noch eine let­zte Zigarette rauchen, sich von ihren Kol­le­gen im Raucher­raum ver­ab­schieden und mit uns im Zim­mer zum Abschied anstossen.Hat­te sie sich von Ihnen noch ein beson­deres Rit­u­al gewün­scht? Ja, das haben wir vor­ab besprochen: Ich sollte sie seg­nen.Und dann? Die bei­den Damen von «Exit» haben Frau Heim­gart­ner im Laufe des Mor­gens mehrmals gefragt, ob sie den geplanten Schritt wirk­lich tun wolle. Es hat mich beein­druckt, dass sie ganz sich­er gehen woll­ten, dass Frau Heim­gart­ner «es» wirk­lich tun will und sich ihr Entschluss nicht doch noch geän­dert hat. Schliesslich gaben sie ihr ein Magen­beruhi­gungsmit­tel und eine halbe Stunde später das Becher­lein mit dem tödlichen Mit­tel. Frau Heim­gart­ners Patenkind hat sie im Arm gehal­ten, bis sie das Bewusst­sein ver­lor und nach etwa 20 Minuten die Atmung aus­set­zte.Wie haben Sie das erlebt? Eigentlich sehr har­monisch. Wir hat­ten alle den Ein­druck, dass Frau Heim­gart­ner nun befre­it ist. Als klar war, dass Frau Heim­gart­ner nicht mehr atmet, ver­har­rten wir zunächst in Stille. Dann musste die Polizei gerufen wer­den – das Gesetz ver­langt das.Rück­blick­end betra­chtet: Wie beurteilen Sie Ihre Rolle in diesem Fall? Das ist eine gute Frage. Zunächst ein­mal war es wohl für Frau Heim­gart­ner und ihre Schwest­ern sehr wichtig, dass ich ein­fach dabei war. Weit­er sollte ich auch die Abschieds­feier in der «Pfle­gi» und die Abdankung in Frau Heim­gart­ners Wohnort gestal­ten. Dann zeigte sich, dass ich auch in der Insti­tu­tion zu ein­er wichti­gen Ansprech­per­son wurde. Es lässt das Team näm­lich nicht unberührt, wenn so etwas geschieht. Dass Frau Heim­gart­ner in der «Pfle­gi» zudem sehr offen über ihre Absicht­en sprach, brachte es mit sich, dass ver­schiedene Bewohn­er bei mir nach­fragten. Zwei von ihnen, zu denen Frau Heim­gart­ner einen guten Kon­takt gepflegt hat­te, haben mich her­nach zur Abdankung begleit­et. 
Andreas C. Müller
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