«Säkulare und Religiöse ticken oft gleich»

«Säkulare und Religiöse ticken oft gleich»

  • Säku­lar zu sein, sei heute die Norm, sagt der Reli­gions­forsch­er Ste­fan Huber, Pro­fes­sor an der Uni­ver­sität Bern.
  • Im Inter­view spricht er über den Unter­schied zwis­chen Säku­laren, Säku­lar­is­ten und Religiösen.
  • Die wach­sende Konkur­renz zwis­chen den religiösen Grup­pen kön­nte kün­ftig für Span­nun­gen sor­gen, ver­mutet der Reli­gions­forsch­er.
 Ste­fan Huber, wozu ist Reli­gion heute über­haupt noch notwendig? Ste­fan Huber: Ihre psy­chis­chen und gesellschaftlichen Funk­tio­nen sind eigentlich alle erset­zbar. Gle­ich­wohl gibt es Reli­gion. Mein­er Ansicht nach liegt der Grund dafür schlicht darin, dass wir die Fähigkeit haben, an Gott zu glauben. Diese Möglichkeit auszupro­bieren zieht Men­schen an. Ausser­dem bieten Reli­gio­nen starke Antworten auf Sin­n­fra­gen an. Sin­n­fra­gen kön­nen jedoch auch ohne Reli­gion gestellt wer­den. Genau dies tun die Säku­laren. Aus dem Bauch her­aus würde ich sagen: Die Säku­laren sind heute eigentlich die Nor­malen in unser­er Gesellschaft.
Wie meinen Sie das? Eine Kul­tur­wis­senschaft­lerin erzählte mir von einem Inter­view in der ehe­ma­li­gen DDR, ein­er der säku­larsten Regio­nen in der Welt. Darin ergab sich fol­gen­der Dia­log: «Sind Sie religiös?» – «Nö.» – «Sind Sie athe­is­tisch? ” – «Nö.» – «Was sind Sie?» – «Nor­mal.» Das erscheint mir typ­isch für eine säku­lare Hal­tung, die mehr und mehr zum Main­stream wird. Dadurch set­zt die wach­sende Gruppe der Säku­laren Nor­men. Radikale Reli­gion­s­geg­n­er­schaft und starke Reli­giosität sind heute die Abwe­ichun­gen.Sie nehmen Säku­lare als Unter­suchungs­ge­gen­stand reli­gion­swis­senschaftlich­er Stu­di­en. Macht man sie nicht zu ein­er religiösen Gruppe, wenn man sie über Reli­gion definiert? Diese Ten­denz ver­suchen wir mit unser­er Studie ger­ade zu über­winden. Seit 10, 20 Jahren wer­den die Nicht-Religiösen oder «Nons» zum Forschungs­ge­gen­stand empirisch­er Unter­suchun­gen. Dabei wurde zum Beispiel klar wider­legt, dass Reli­gion für Moral notwendig ist. Auch Nicht-Religiöse tun Gutes. Doch in diesen Unter­suchun­gen wer­den die Säku­laren meist neg­a­tiv als Nons definiert. In unserem Pro­jekt wollen wir diese Per­spek­tive über­winden und pos­i­tiv fra­gen: Was ist ihnen wichtig? Welche Werte und Ziele haben sie? Wie gehen sie mit Sin­n­fra­gen um? Wie ver­ste­hen sie sich selb­st?Wie ver­ste­hen Sie Säku­lare? Es geht um Men­schen, die von sich selb­st sagen, sie seien nicht religiös oder athe­is­tisch. Die Gren­zen sind aber nicht ein­deutig: Säku­lare kön­nen dur­chaus Mit­glied ein­er Kirche oder spir­ituell sein. Wir wollen den Säku­laren keine Def­i­n­i­tion über­stülpen, son­dern sie selb­st zu Wort kom­men lassen. Auf dieser Basis unter­schei­den wir ver­schiedene Typen von Säku­laren.Wie ist spir­ituell in diesem Fall zu ver­ste­hen? Oder athe­is­tisch? Wir fra­gen zum Beispiel: «Wie oft medi­tieren Sie?» Oder: «Wie oft haben Sie das Gefühl, mit allem eins zu sein?» Darin kommt Ver­bun­den­heit mit einem grösseren Ganzen zum Aus­druck, was typ­isch ist für spir­ituelle Erfahrun­gen. Oder wir wollen wis­sen: «Wür­den Sie sich als Athe­ist beze­ich­nen?» In ver­tiefend­en Inter­views erzählen die Befragten dann, was Athe­is­mus, Spir­i­tu­al­ität und Ver­bun­den­heit­ser­fahrun­gen für sie bedeuten.Beze­ich­nen sich die Leute auch selb­st als säku­lar? Sel­ten. Der Begriff allein stiftet keine Iden­tität. Das ist anders bei ein­er beson­deren Gruppe von Säku­laren, den soge­nan­nten Säku­lar­is­ten. So definieren wir Säku­lare, die sich aktiv für Anliegen wie die Tren­nung von Kirche und Staat ein­set­zen. Ein Beispiel sind die Frei­denker, die es in der Schweiz seit über 100 Jahren gibt. Bei ihnen spielt das säku­lare Selb­stver­ständ­nis eine iden­titätss­tif­tende Rolle.Was haben Sie über die Demografie der Säku­laren her­aus­ge­fun­den? Sie unter­schei­den sich nicht sehr vom Bevölkerungs­durch­schnitt. Ihr Bil­dungsniveau ist etwas höher, und sie sind ein biss­chen jünger. Säku­lar­is­ten dage­gen haben ein Pro­fil, das deut­lich vom Durch­schnitt abwe­icht: Sie sind meist männlich, älter, hochge­bildet, poli­tisch eher links, kom­men häu­fig aus der Stadt und arbeit­en über­durch­schnit­tlich oft im Bere­ich der Infor­matik oder der tech­nis­chen Wis­senschaften.Und was sagen Ihre Erhe­bun­gen über die Hal­tun­gen aus? Säku­lare und Religiöse tick­en oft ähn­lich. Zum Beispiel sind ihre Hal­tun­gen gegenüber den meis­ten Reli­gio­nen ver­gle­ich­bar. Bei­de sehen Bud­dhis­mus und Hin­duis­mus eher in einem pos­i­tiv­en Licht, den Islam dage­gen in neg­a­tivem. Der Haup­tun­ter­schied beste­ht in der Wahrnehmung des Chris­ten­tums: Die Säku­laren sind ihm gegenüber kri­tisch eingestellt, ins­beson­dere gegenüber den Kirchen. Ein Unter­schied zeigt sich auch bei den Werten: Für Religiöse ist Tra­di­tion wichtiger, während Säku­lare risikofreudi­ger sind.In einem Artikel ver­muten Sie, dass die Span­nun­gen zwis­chen Säku­laren, Säku­lar­is­ten und Religiösen zunehmen wer­den. Warum? Noch vor 40 Jahren gehörten über 90 Prozent der schweiz­erischen Wohn­bevölkerung ein­er der bei­den grossen Lan­deskirchen an. Das war ein sta­biles Sys­tem. Heute ist dieser Anteil auf etwa 60 Prozent geschrumpft. Die verbleiben­den 40 Prozent verteilen sich auf 25 Prozent Kon­fes­sions­freie sowie auf 15 Prozent, die andern Kirchen und Reli­gio­nen ange­hören oder unentsch­ieden sind.Wir erleben also eine Plu­ral­isierung der religiös-säku­laren Kul­tur. Dieses Sys­tem ist insta­bil. Das stim­uliert die Konkur­renz zwis­chen den religiösen Grup­pen, da jede ihren Mark­tan­teil erhöhen oder zumin­d­est sta­bil­isieren möchte. Dazu kommt, dass sich die Säku­lar­is­ten ver­stärkt zu Wort melden, was auch zu Span­nun­gen führt.Warum inter­essieren Sie sich per­sön­lich für die Säku­laren? Das ist eine gute Frage, denn als Pro­fes­sor für empirische Reli­gions­forschung ist eigentlich Reli­gion mein The­ma. Es gibt zwei Gründe: Erstens sind die Säku­laren heute ein wesentlich­er Bestandteil der Kul­tur in der Schweiz. Will man diese ver­ste­hen, ist es uner­lässlich, mehr über ihre Werte, ihr Lebens­ge­fühl und ihr Selb­stver­ständ­nis zu wis­sen. Zweit­ens hoffe ich, durch diese Forschung indi­rekt auch mehr über die Religiösen zu erfahren. Denn in Bezug auf die Säku­laren sind sie ja die Nons.Judith Hochstrass­er ist Wis­senschaft­sredak­torin beim Schweiz­erischen Nation­al­fonds. Das Inter­view erschien erst­mals im Schweiz­er Forschungs­magazin «Hor­i­zonte» (6. Dezem­ber 2018)
Marie-Christine Andres Schürch
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