Nochmals zu Fuss ans Ende der Welt
Ende September bricht Hannes Leo Meier auf, um die letzte Etappe seines «Caminos» noch einmal zu gehen.
Bild: © Roger Wehrli

Nochmals zu Fuss ans Ende der Welt

Hannes Leo Meier aus Aarau vermittelt als GehCoach die Kraft, die im Gehen liegt

Mit 23 Jahren ging Hannes Leo Meier zu Fuss von Einsiedeln nach Santiago de Compostela und dann weiter nach Finisterre, dem galizischen Kap am «Ende der Welt». Erst Jahrzehnte später begriff er die wirklich befreiende, ja heilende Kraft des Gehens.


Das grosse Aha-Erleb­nis hat­te Hannes Leo Meier im Alter von 50 Jahren. Damals war er als The­ater­regis­seur tätig und gön­nte sich zu seinem run­den Geburt­stag eine drei­monatige Auszeit. Eine weite Reise lag für den Vater dreier noch junger Kinder nicht drin, deshalb set­zte er sich an den Schreibtisch und ging alte Wege noch ein­mal, neu in Gedanken. Schreibend erin­nerte sich Meier, wie er 1988 auf dem Jakob­sweg von Ein­siedeln nach San­ti­a­go de Com­postela gewan­dert war. Zu ein­er Zeit, als dies noch kaum jemand tat. Als junger Pri­mar­lehrer hat­te er dafür seinen Job gekündigt, sein Hab und Gut auf dem Estrich der Eltern ver­staut und sich aufgemacht in die offene Weite sein­er Biografie, wie er heute sagt.


Experte für das Gehen
Hannes Leo Meier ist Pri­mar­lehrer und studierte The­ater­päd­a­gogik. Er arbeit­ete zwanzig Jahre lang als The­ater­regis­seur und Autor und grün­dete die Gruppe SZENART. Heute hat er sich als Geh-Coach und Experte für das Gehen darauf spezial­isiert, Men­schen durch bewusstes Gehen zu mehr Präsenz, Resilienz und Vital­ität zu führen. Meier lebt in Aarau und betreibt dort seinen «Geh-Raum».
«Camino 1988 – Auf­bruch in die Weite», Lesung aus den Orig­inal­t­age­büch­ern, So, 21.9., 16 Uhr, Kirche Aar­burg. «Walk­ing­Space», immer mon­tags 19–21 Uhr im «Geh-Raum», Aarau.
«Die sieben Kom­po­nen­ten des Gehens», Work- & Walk­shop, Fr, 31. 10. bis So, 2. 11.
www.timeoutcoaching.ch

Basso continuo

Die vie­len Tage­büch­er, Skizzen und Zeich­nun­gen, die er als 23-jähriger Pil­ger zu Papi­er gebracht hat­te, schaute er sich als 50-jähriger Schreiben­der bewusst nicht an. Er ging den Weg im Kopf noch ein­mal und notierte, woran er sich erin­nerte. Sin­nierend und schreibend ver­set­zte er sich in die Land­schaften, durch die er als junger Mann gegan­gen war. Daraus ent­stand eine Lesung mit dem Titel «Gehen im Kopf». «Es war ein unglaublich­es Aha-Erleb­nis, als ich merk­te, dass sich nur schon beim Gedanken ans Gehen und beim Schreiben darüber eine innere und äussere Bal­ance ein­stellt», erin­nert sich Meier und fügt an: «Erst mit 50 Jahren habe ich erkan­nt, dass das Gehen der Bas­so con­tin­uo meines Lebens ist.»

Auf das Leben übertragen

Diese Erken­nt­nis war für Meier der Anstoss, dem Gehen in seinem Leben mehr Raum zu geben. Er wollte her­aus­find­en, warum das Gehen so gut­tut.
In ein­er Mis­chung aus Intu­ition und Recherche entwick­elte er «Sieben Kom­po­nen­ten des Gehens». Sie verdeut­lichen, dass alle wichti­gen Kom­pe­ten­zen, welche wir im Leben brauchen, im Gehen vorhan­den sind: Zu Fuss meis­tern wir das Los­ge­hen, das Unter­wegs­sein und das Ankom­men immer wieder. Im Leben aber hadern wir oft mit diesen Prozessen. Meier zeigt den Men­schen, wie sie die Erfahrung des Gehens auf All­t­agssi­t­u­a­tio­nen und Lebensereignisse über­tra­gen kön­nen. Wir alle, sagt Meier, kön­nen auf unser «Geh-Wis­sen» zurück­greifen und aus ihm ler­nen. Als Geh-Coach begleit­et er Men­schen, die Lebens­fra­gen ange­hen wollen oder neue Wege suchen.

Das Gehen hat transformative Kraft

Im Gehen kom­men wir in Kon­takt zu uns selb­st und zur Umwelt. Die ursprüngliche Bewe­gung des Gehens bah­nt uns einen Weg zu unser­er Psy­che. Gehen löst auch men­tale Bewe­gung aus. «Gehen ermöglicht uns, neue Denkräume zu beschre­it­en», sagt Meier. Er ist überzeugt, dass das Poten­zial des Gehens im Kon­text der men­tal­en Gesund­heit, der Lebens­gestal­tung, der Per­sön­lichkeit­sen­twick­lung und des zwis­chen­men­schlichen Umgangs noch zu wenig Aufmerk­samkeit erhält.

Alte Wege gehen

Diesen Herb­st wird Hannes Leo Meier, inzwis­chen 60-jährig, die let­zte Etappe seines Weges von damals – von San­ti­a­go nach Fin­is­terre – erneut gehen. Mit 23 Jahren ging er den gesamten Weg von Ein­siedeln her, mit 50 Jahren ging er ihn noch ein­mal im Kopf, nun nimmt er den let­zten Teil dieses Weges erneut unter die Füsse.

Auf der ersten Reise hat Meier seine Erleb­nisse und Ein­drücke in Tage­büch­ern und Skizzen aufgeze­ich­net. Würde man alle Tage­büch­er seines Lebens aufeinan­der­stapeln, gäbe es einen meter­ho­hen Stapel. Meier schreibt Tage­buch, seit er ein 16-jähriger Teenag­er war. «Tage­buch­schreiben bedeutet, Dinge zu be-nen­nen, sie bekom­men eine Bedeu­tung. Gedankengänge wer­den nachvol­lziehbar. Es gibt eine innere Land­schaft, die ich schreibend nach­skizziere, beim Malen dage­gen skizziere ich die äussere Land­schaft. Das macht demütig und führt einem vor Augen, dass man ein recht kleines Teilchen ist im Ganzen.»

Die Erleb­nisse und Begeg­nun­gen des Jakob­sweges von 1988 füllen mehrere Tage­büch­er.

Jenseits seiner Vorstellungskraft

Wenn Hannes Leo Meier im Herb­st los­ge­ht, nimmt er die Tage­büch­er von damals mit. Es werde inter­es­sant sein, darin zu lesen, sagt er. Er erin­nert sich, dass er sich bei der Reise als junger Mann nicht aus­denken kon­nte, was aus ihm wer­den würde. Was jen­seits des Jahrs 2000 lag, war für ihn ausser­halb sein­er Vorstel­lungskraft.

Vielle­icht werde er unter­wegs die Ein­träge von damals Tag für Tag lesen, vielle­icht auch nur einen einzi­gen Satz her­aus­pick­en und diesem nachge­hen. So oder so ist er ges­pan­nt, was passiert, wenn er die alten Wege noch ein­mal geht.

«Alles muss ‹catchy› sein»

Die Reise find­et heute in einem völ­lig anderen Kon­text statt als vor 37 Jahren. Meier erin­nert sich, wie er damals Film­rollen und volle Tage­büch­er nach Hause schick­te und hoffte, dass sie heil ankom­men. Zwar kann er heute beim Navigieren, bei der Unterkun­ftssuche und beim Fotografieren auf dig­i­tale Hil­f­s­mit­tel zählen. Doch die haben auch ihre Schat­ten­seite: Dank Smart­phone und Social Media kann man heute live von unter­wegs bericht­en – ja, es scheint manch­mal schon fast ein Müssen was Erwartun­gen weckt und Druck aus­lösen kann. «Bewusst­sein und Geist sind schon förm­lich fokussiert darauf: Was lässt sich zeigen? Alles muss ‹catchy› sein!», sagt Meier.

Leere

Im Jahr 1988 war der Jakob­sweg noch rel­a­tiv unbe­gan­gen. «Die ersten sechs Wochen war ich total allein unter­wegs», erin­nert sich Meier. Erst ab der spanis­chen Gren­ze war er bis nach San­ti­a­go de Com­postela mit vie­len Men­schen zusam­men unter­wegs. Das Ankom­men in San­ti­a­go, das Erre­ichen und damit der Ver­lust seines Ziels und sein­er Rolle als Pil­ger erwis­cht­en ihn unvor­bere­it­et. Er fühlte eine Leere, gle­ichzeit­ig steck­te er mit­ten im Rum­mel des Wall­fahrt­sorts San­ti­a­go. «Die grosse Fete in San­ti­a­go hat mich über­fordert, ich fühlte mich fremd», sagt er rück­blick­end, «zum Glück gab es für mich noch Fin­is­terre.»

Am Ende der Welt

Wiederum allein ging er die verbleiben­den 90 Kilo­me­ter bis nach Fin­is­terre, ans west­lich­ste Kap Gal­iziens, wo der Jakob­sweg auf ein­er Stein­plat­te endet, die direkt in den Atlantik führt. Bis heute erin­nert er sich an den Moment, als er zum ersten Mal das Meer erblick­te. Danach sass er dort, am buch­stäblichen Ende der Welt, auf dieser Stein­plat­te am Atlantik und liess die Leere zu. Die Wellen kamen und gin­gen. «Ich erkan­nte, dass das die Quin­tes­senz unseres Lebens ist: ein – aus – ein – aus. Das war eines mein­er stärk­sten spir­ituellen Erleb­nisse.»

Den Weg würdigen

Bald nimmt Hannes Leo Meier diese let­zte Wege­tappe noch ein­mal unter die Füsse, im Bewusst­sein, dass «nir­gends so viel Nichts ist, wie hin­ter einem erre­icht­en Ziel.» Heute weiss er: «Erst in dieser Leere werde ich, wer ich gewor­den bin. Und da ich diese Leere zulasse, würdi­ge ich zudem den Weg, der hin­ter mir liegt.»

Marie-Christine Andres Schürch
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