Mensch, du sollst Gott lieben

Mensch, du sollst Gott lieben

Deu­te­ro­no­mi­um 6,2–6Mose sprach zum Volk:Wenn du den Herrn, dei­nen Gott, fürch­test, indem du auf alle sei­ne Geset­ze und Gebo­te, auf die ich dich ver­pflich­te, dein gan­zes Leben lang ach­test, du, dein Sohn und dein Enkel, wirst du lan­ge leben.Des­halb, Isra­el, sollst du hören und dar­auf ach­ten, alles, was der Herr, unser Gott, mir gesagt hat, zu hal­ten, damit es dir gut geht und ihr so uner­mess­lich zahl­reich wer­det, wie es der Herr, der Gott dei­ner Väter, dir zuge­sagt hat, in dem Land, wo Milch und Honig fliessen.Höre Isra­el! Jah­we, unser Gott, Jah­we ist ein­zig. Dar­um sollst du den Herrn, dei­nen Gott, lie­ben mit gan­zem Her­zen, mit gan­zer See­le und mit gan­zer Kraft. Die­se Wor­te, auf die ich dich heu­te ver­pflich­te, sol­len auf dei­nem Her­zen geschrie­ben stehen. Ein­heits­über­set­zung 

Mensch, du sollst Gott lieben

Auf den ersten Blick scheint mir der bibli­sche Anspruch eine Unmög­lich­keit zu sein. Lie­ben und sol­len pas­sen ein­fach nicht zuein­an­der. Das Sol­len kenn­zeich­net ein Gebot, also einen mora­li­schen Anspruch. Lie­be aber kann nicht gemacht und also auch nicht gefor­dert wer­den. Lie­be kann ent­ste­hen durch auf­merk­sa­me Erfah­rung mit­ein­an­der und durch gemein­sam durch­leb­te Geschich­te. Aber eben­so gut kann auf die­sem Weg auch Abnut­zung ent­ste­hen, die hin­führt zu Gleich­gül­tig­keit oder gar zu Uner­träg­lich­keit und Hass, und dann gibt es kei­nen ande­ren Weg mehr als die Tren­nung. Soll­te sol­che mensch­li­che Dyna­mik aus­ge­schlos­sen sein, wenn es um die Got­tes­lie­be geht?Und wenn ande­res gemeint wäre? Schliess­lich ist das Gebot des Mose, das Haupt­ge­bot des jüdi­schen Glau­bens, bereits 3000 Jah­re alt, und was damals unter Got­tes­lie­be und unter Lie­be über­haupt ver­stan­den wor­den ist, kann durch­aus sehr anders sein als unse­re heu­ti­ge Vor­stel­lung von Lie­be. Den alten Grie­chen fol­gend ken­nen wir Eros und Cari­tas, also das sinn­li­che Fas­zi­niert­sein vom ande­ren und die Näch­sten­lie­be. Bei­des ist auf unse­re Got­tes­er­fah­rung nicht über­trag­bar. Eher müs­sen wir viel­leicht die Ebe­ne wech­seln und uns der Lie­be zuwen­den, die wir in Ver­bin­dung mit hohen Wer­ten wie Frei­heit oder Gerech­tig­keit brin­gen. Aber natür­lich wird dann auch Gott zu einem abstrak­ten Begriff oder Wert und wird nicht mehr als per­sön­li­ches Gegen­über ver­stan­den. Aus der Lie­be als Bezie­hungs­qua­li­tät zwi­schen Per­so­nen wird dann Lie­be als geleb­te Über­zeu­gung.Ganz unbe­kannt ist die­se Beschrei­bung der Got­tes­lie­be auch in den alten Tex­ten der Bibel nicht. Da wird uns ans Herz gelegt, dass die Befol­gung aller Ge- und Ver­bo­te so etwas wie Lie­be erge­ben kann. Lie­be wird so über­setzt in ein System von befolg­ba­ren Regeln und Ver­hal­tens­wei­sen. Wer all die­se Vor­schrif­ten ein­hält, der liebt Gott und muss sich über das Pro­blem, über das wir in die­sem Impuls nach­den­ken, kei­ne Gedan­ken mehr machen. Lie­be wird mach­bar, nicht sehr begei­sternd, aber ste­tig in klei­nen Schrit­ten. Lei­der kön­nen sich die Vor­schrif­ten der­art in den Vor­der­grund schie­ben, dass sie das Ziel ver­decken, näm­lich durch ihre Befol­gung Gott näher zu kom­men. Dann haben wir etwa das, was wir «klein­ka­riert» nen­nen. Jesus hat­te damit sein Dau­er­pro­blem (mit den Pha­ri­sä­ern), und auch wir fin­den das nicht unbe­dingt befrie­di­gend.Die Got­tes­lie­be hat­te auch für Jesus die bekann­ten zwei Sei­ten: Einer­seits konn­te er sich in die Zwie­spra­che mit sei­nem himm­li­schen Vater ver­sen­ken, ande­rer­seits war sol­che mysti­sche Got­tes­nä­he nichts, was jemand ihm hät­te nach­ma­chen kön­nen oder sol­len. Jesus hat dar­um die Tra­di­ti­on der jüdi­schen Vor­schrif­ten in ihrer sozia­len Dimen­si­on ver­stärkt (nicht das Ritu­el­le zählt vor­ran­gig), und die Got­tes­lie­be gleich­wer­tig ergänzt durch die Men­schen­lie­be und die Selbst­ach­tung. Wer sich und sei­nem Mit­men­schen Wert­schät­zung und Auf­merk­sam­keit ent­ge­gen­bringt, der bewegt sich in Rich­tung der Got­tes­lie­be. Die­se Über­set­zung ist geeig­net für alle Men­schen, die nicht über eine aus­ge­spro­che­ne mysti­sche Bega­bung ver­fü­gen. Sie ist lern­bar, dosier­bar, erfahr­bar und kann ver­tieft wer­den.Selbst- und Näch­sten­lie­be sind dann kei­ne Abwen­dung von der Got­tes­lie­be, son­dern ein Weg der Selbst­er­fah­rung, der uns tat­säch­lich näher zu Gott bringt. Die­se Nähe selbst aber, die­se Sicher­heit im Glau­ben, die­ses Auf­at­men der See­le ist nicht Ergeb­nis eines mach­ba­ren Pro­zes­ses. Viel­mehr ist und bleibt Got­tes­lie­be ein Geschenk und durch kein Sol­len erreich­bar.Lud­wig Hes­se, Theo­lo­ge, Autor und Teil­zeit­schrei­ner, war bis zu sei­ner Pen­sio­nie­rung Spi­tal­seel­sor­ger im Kan­ton Baselland 
Redaktion Lichtblick
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