Kreative Treue zur Tradition
Priorin Irene Gassmann am 10. November 2024 an der Frauenpreisverleihung im Kloster Fahr.
Bild: © Roger Wehrli

Kreative Treue zur Tradition

Priorin Irene Gassmann wagt es, monastisches Leben neu zu denken

Das Wirken von Irene Gassmann, Priorin im Kloster Fahr, geht weit über die Klostermauern hinaus. Sie spricht vor Soldaten, Politikerinnen und predigt im Vatikan. Mitte November erhielt Priorin Irene in Fribourg die Ehrendoktorwürde für ihr Wirken und entwarf in ihrem Vortrag an der Uni Skizzen neuer monastischer Lebensformen.


Das Kloster von Pri­or­in Irene Gassmann liegt mit­ten im dicht besiedel­ten Lim­mat­tal, zwis­chen Schlieren, Dietikon und Unterengstrin­gen. Obwohl von Zürcher Gebi­et umschlossen, gehört es zur Aar­gauer Gemeinde Würen­los. Das Kloster ist eine Oase der Ruhe in der urba­nen Geschäftigkeit. Und seine Pri­or­in eine Per­sön­lichkeit mit Strahlkraft über die Kloster­mauern hin­aus.

Pri­or­in Irene Gassmann ist eine begabte Net­zw­erk­erin. Dank ihres echt­en Inter­ess­es an Men­schen und ihres überzeugten Ein­ste­hens für spir­ituelle und kirchen­poli­tis­che Anliegen knüpft sie Beziehun­gen, sodass im Kloster Fahr viele Fäden zusam­men­laufen. Das zeigte sich in der gut gefüll­ten Klosterkirche, wo zur Ver­lei­hung des AKF-Frauen­preis­es viele Wegge­fährtin­nen und ‑gefährten der Pri­or­in und der Schwest­ernge­mein­schaft erschienen waren. Neben Vertreterin­nen und Vertretern aus der Poli­tik auch Expo­nentin­nen der katholis­chen Kirche in der Schweiz wie Simone Cureau, Präsi­dentin des Schweiz­erischen Katholis­chen Frauen­bunds, oder Hele­na Jeppe­sen-Spuh­ler, die kür­zlich als Syn­odale an der Welt­syn­ode in Rom teilgenom­men hat.

Schweigen auf dem Flugplatz

Eine Verbindung geknüpft hat Pri­or­in Irene Gassmann auch zu Bun­desrätin Vio­la Amherd. Die amtierende Bun­de­spräsi­dentin hat­te sich Zeit genom­men, ins Kloster Fahr zu kom­men. «Pri­or­in Irene und ich haben uns let­ztes Jahr in Rom an der Verei­di­gung der Schweiz­er­garde ken­nen­gel­ernt. Wir kamen ins Gespräch. Und ich freue mich, dass wir das Gespräch heute fort­set­zen kön­nen», sagte Bun­de­spräsi­dentin Vio­la Amherd in ihrem Gruss­wort zur ver­sam­melten Fest­ge­meinde. Pri­or­in Irene hat­te in einem Gottes­di­enst im Vatikan zum The­ma «Stille» gepredigt, und Amherd hat­te sie danach gefragt: «Pri­or­in Irene, kann man dich buchen?»

Die Vorste­herin des Vertei­di­gungs­de­parte­ments erzählte, dass sie die Pri­or­in nach dem Tre­f­fen in Rom ange­fragt habe, eine Ansprache vor dem Stab des Schweiz­er Mil­itärs zu hal­ten. Als die Pri­or­in dann diesen Früh­ling vor etwa 800 Armeeange­hörige auf den Flug­platz Pay­erne getreten sei, habe das schon bei eini­gen für Stirn­run­zeln gesorgt. «Doch Pri­or­in Irene ver­set­zte den gesamten Stab der Schweiz­er Armee in ein nach­den­klich­es Schweigen», berichtete Vio­la Amherd. Und fügte augen­zwinkernd an: «Das wün­schte ich mir auch ein­mal im Nation­al­rat.»

Was die Kirche und das Mil­itär gemein­sam haben, fasste Amherd so zusam­men: «Auswüchse in der Hier­ar­chie und eine starke Unter­vertre­tung von Frauen.» Umso mehr freue es sie, dass für Pri­or­in Irene Gassmann der Glaube nie Anlass gewe­sen sei, unkri­tisch an Autoritäten zu glauben, in Furcht zu ger­at­en oder in Ehrfurcht zu erstar­ren. «Pri­or­in Irene und ihr Engage­ment hin­ter­lassen nach­halti­gen Ein­druck», würdigte sie den Ein­satz von Pri­or­in Irene Gassmann für Gle­ich­berech­ti­gung in der katholis­chen Kirche. Die Bun­de­spräsi­dentin schloss ihre kurze Rede mit dem Slo­gan des Schweiz­erischen Katholis­chen Frauen­bunds: «Gle­ich­berech­ti­gung. Punkt. Amen.»

Zum Segen geworden

Vroni Peter­hans, Präsi­dentin der Frauen­preiskom­mis­sion des AKF, hielt die Lau­da­tio auf die Preisträgerin. Sowohl das Bewusst­sein für Tra­di­tio­nen, aber auch der Mut zum Auf­bruch prägten die Spir­i­tu­al­ität von Pri­or­in Irene, und sie wäh­le kreative For­men wie das «Gebet am Don­ner­stag», um Verän­derung voranzubrin­gen, sagte Peter­hans. Sie schloss mit den Worten: «Liebe Pri­or­in Irene, lass uns zusam­men dran­bleiben. Du bist uns allen zum Segen gewor­den.» Sichtlich bewegt nahm Pri­or­in Irene Gassmann den Preis ent­ge­gen. Sie sei erfüllt von gross­er Dankbarkeit, sagte sie. «Dankbarkeit für meine Mitschwest­ern und Dankbarkeit für die Möglichkeit­en, die sich mir im Leben eröffnet haben.» Einen Teil des Preis­geldes von 20’000 Franken hat die Pri­or­in für ein neues Lesepult in der Klosterkirche vorge­se­hen. «Das wird gut sicht­bar in der Kirche ste­hen, und alle haben etwas davon.»

Engage­ment und Wirken

Irene Gassmann engagiert sich seit 20 Jahren als Pri­or­in des Klosters Fahr für die Klosterge­mein­schaft und set­zt sich gle­ichzeit­ig für wesentliche Verän­derun­gen in der Kirche ein

Die Pri­or­in äussert sich immer wieder zur Rolle der Frau in der katholis­chen Kirche, sowohl in spir­itueller als auch in kirchen­poli­tis­ch­er Hin­sicht. Ihr Ziel ist eine gle­ich­berechtigte Kirche, in der Beru­fun­gen und Charis­men von Frauen einen eben­bür­ti­gen Platz haben. Sie pil­gerte für das Pro­jekt «Für eine Kirche mit* den Frauen» nach Rom, ini­ti­ierte das «Gebet am Don­ner­stag» und wirk­te mass­ge­blich mit an der Entste­hung des Lauda­to Sì-Gartens im Kloster Fahr.

Auch in ihrem Kloster stellt sie die Weichen für die Zukun­ft. In der ehe­ma­li­gen Bäuerin­nen­schule ist mit dem Vere­in «erfahrbar» ein christlich­es Mehrgen­er­a­tio­nen­wohnen ent­standen, die Land­wirtschaft wird von der «Fahr Erleb­nis AG» gestal­tet. Das Kloster Fahr pflegt die Gast­fre­und­schaft mit ver­schiede­nen Ange­boten für alle Gen­er­a­tio­nen.

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Bild: © Marie-Chris­­tine Andres

Monastisches Leben und Moderne

Das kirchen­poli­tis­che und spir­ituelle Engage­ment der Pri­or­in fand auch die Anerken­nung der Uni­ver­sität Fri­bourg. Fünf Tage nach dem AKF-Frauen­preis erhielt Irene Gassmann die Ehren­dok­tor­würde der The­ol­o­gis­chen Fakultät. «Die Fakultät ehrt mit dieser Entschei­dung das Lebenswerk ein­er Schweiz­er Ordens­frau, die seit mehr als zwanzig Jahren auf höchst ein­drück­liche und überzeu­gende Weise monas­tis­ches Leben und Mod­erne ineinan­der zu über­set­zen weiss», teilte der Dekan der The­ol­o­gis­chen Fakultät, Joachim Negel, mit.

Anlässlich der Ver­lei­hung des Ehren­dok­torats hielt Pri­or­in Irene Gassmann einen Vor­trag an der Uni Fri­bourg. Sie legte den Fokus ihrer Über­legun­gen auf die Entwick­lung der kon­tem­pla­tiv­en Frauenge­mein­schaften in der Deutschschweiz. Die Klöster leerten sich ras­ant, erk­lärte Gassmann: «Die Über­al­terung und der Mit­glieder­schwund in den Ordens­ge­mein­schaften zeich­neten sich schon vor Jahrzehn­ten ab. Dieser Abbauprozess der Klöster ist unaufhalt­sam.» Die Sta­tis­tik zeigt: Im Jahr 1991 gab es in der Deutschschweiz 990 kon­tem­pla­tive Ordens­frauen; 2020 waren es noch 295. Inher­halb von 30 Jahren ist die Anzahl der Mit­glieder auf einen Drit­tel geschmolzen.

Sehnsucht nach Stille

Gle­ichzeit­ig weiss die Pri­or­in: «Ich bin überzeugt und ich erfahre im Aus­tausch mit Men­schen: Die Sehn­sucht nach kon­tem­pla­tiv­en Leben in Gemein­schaft ist da.» Die Nach­frage für Auszeit­en im Kloster sei gross, auch im Kloster Fahr. Monatlich bekomme sie eine bis zwei Anfra­gen von jun­gen Men­schen, die eine Matu­ra- oder Lehrab­schluss-Ver­tiefungsar­beit zum The­ma Kloster­leben schreiben. Es kämen viele Leute zur ihr ins Kloster, die nicht an Gott glaubten oder mit dem Wort «Gott» wenig anfan­gen kön­nten. Beim Abschied sagten sie nicht «Ich habe Gott gefun­den», son­dern: «Ich habe in die Stille gefun­den. Und das tut mir so gut.»

Im Mit­te­lal­ter seien die Klöster Inno­va­tion­sla­bore gewe­sen, aus denen sich die europäis­che Mod­erne entwick­elte. Ger­ade heute habe monas­tis­ches Leben das Poten­zial für ein Mehr-an-Leben zu bieten, sagte Pri­or­in Irene Gassmann. Der wohltuende Wech­sel von Arbeit, Gebet, Erhol­ung, der ein­fache Lebensstil, Stille, Bezug zur Natur und das Aufge­hoben­sein in ein­er Gemein­schaft ermöglichen ein Leben, das in die Tiefe geht.

Skizze einer neuen Lebensform

Wer Pri­or­in Irene Gassmann ken­nt, weiss, dass sie gerne konkrete Schritte untern­immt. So ver­ri­et sie im Lauf ihres Vor­trags: «In Absprache mit mein­er Gemein­schaft tre­ffe ich mich regelmäs­sig mit ein­er Rei­he von Frauen. Wir sind dabei, eine Pro­jek­t­skizze zu entwick­eln, um neben unser­er benedik­tinis­chen Gemein­schaft mit eini­gen Frauen eine neue Lebens­form zu find­en, in der Verbindlichkeit und Frei­heit einan­der auf neue Weise stützen.» Dieser Prozess braucht Mut von jenen, die Sehn­sucht nach einem kon­tem­pla­tiv­en Leben spüren, und auch den Mut beste­hen­der Gemein­schaften, Neues zuzu­lassen.

Marie-Christine Andres Schürch
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