«Viele haben es gewusst und niemand hat etwas gesagt»

«Viele haben es gewusst und niemand hat etwas gesagt»

  • Mitte Juni entschuldigten sich die Ver­ant­wortlichen des Kinder­heims St. Benedikt im Rah­men ein­er Medi­enkon­ferenz bei einem Mann, der während seines Aufen­thalts im Kinder­heim St. Benedikt Her­metschwil zwis­chen 1978 und 1981 mehrfach sex­uell miss­braucht wor­den.
  • Der damals zuständi­ge Heim­leit­er Peter Bringold kri­tisierte im Anschluss diesen Schritt.
  • Hor­i­zonte traf die aktuelle Heim­lei­t­erin Pia Iff, den für die Insti­tu­tion in dieser Sache täti­gen Krisen­man­ag­er Her­bert Wyss und Andreas San­toni, der an besagter Medi­enkon­ferenz über das berichtete, was ihm wider­fahren war, zu einem Gespräch.
Herr San­toni, nach­dem Sie ihre Geschichte ab 2015 ver­schiede­nen Gremien anver­traut haben, die sich für die Entschädi­gung von Opfern für­sorg­erisch­er Zwangs­mass­nah­men und sex­ueller Über­griffe engagieren, haben sie vor zwei Wochen via Medi­en eine bre­ite Öffentlichkeit an ihrem Schick­sal teil­haben lassen. Das Kinder­heim St. Benedikt, in welchem sie von 1978 – 1981 unterge­bracht wur­den, hat Ihnen hier­für eine Plat­tform zur Ver­fü­gung gestellt. Was für Reak­tio­nen haben Sie erhal­ten? Andreas San­toni: Ich habe keine direk­ten Reak­tio­nen erhal­ten. Ich muss dazu sagen: Ich lebe sehr zurück­ge­zo­gen. Meine Frau hinge­gen ist nach der Medi­enkon­ferenz im Dorf ange­sprochen wor­den, sie hat mir auch drüber berichtet – allerd­ings nur die pos­i­tiv­en Dinge. Das Andere will ich gar nicht wis­sen.Frau Iff, Sie haben Her­rn San­toni diese Plat­tform zur Ver­fü­gung gestellt, haben sich gemein­sam mit ihm den Medi­en gestellt. Die heute für die Insti­tu­tion Ver­ant­wortlichen, namentlich die Präsi­dentin des Trägervere­in, Reg­u­la Jäg­gi, hat sich in aller Form für das Geschehene entschuldigt. Was gab den Auss­chlag, das so zu insze­nieren? Pia Iff: Wir insze­nieren nicht. Wir haben die Geschichte von Her­rn San­toni gehört und sind sehr betrof­fen. Sein Anliegen haben wir ernst genom­men. Das, was geschehen ist, ist Teil der Geschichte dieses Heims. Somit ist es richtig, dass wir dafür Ver­ant­wor­tung übernehmen. Dazu gehört auch, dass die Opfer eine Stimme bekom­men. Das ist wichtig – Und vor allem auch, dafür zu sor­gen, dass so etwa nie wieder geschehen kann.Erstaunt hat, dass Ihnen und dem Trägervere­in der dama­lige Heim­leit­er Peter Bringold in den Rück­en gefall­en ist. Er erk­lärte gegenüber der Aar­gauer Zeitung, dass «kein­er der dama­li­gen Ver­ant­wor­tungsträger von den ver­ab­scheuungswürdi­gen Machen­schaften» etwas gewusst habe. Andreas San­toni: Das kann gar nicht stim­men. In einem Kom­men­tar auf den Zeitungs­bericht hat ein Her­metschwiler geschrieben, dass das ganze Dorf genau mit­bekom­men habe, was vor sich ging. Und der Heim­leit­er von damals soll nichts gewusst haben?Insofern muss eine solche Reak­tion von Seit­en des dama­li­gen Ver­ant­wortlichen ja furcht­bar gewe­sen sein… Andreas San­toni: Wie ein Faustschlag ins Gesicht…Es stellt sich dann aber schon die Frage, wie das passieren kon­nte. Frau Iff: Hat man denn nicht ver­sucht, Her­rn Bringold ins Boot zu holen? Es kann doch nicht sein, dass Herr San­toni von Seit­en der Insti­tu­tion mit dop­peldeuti­gen Botschaften kon­fron­tiert wird. Pia Iff: Ich bedauere die Reak­tion sehr. Herr Bringold wurde in einem per­sön­lichen Gespräch informiert, dass die Träger­schaft des Kinder­heims und Herr Abt Beda (Anmerkung der Redak­tion: Das Kloster Muri-Gries ist für die im Kinder­heim St. Benedikt täti­gen Seel­sorg­er ver­ant­wortlich) sich bei Her­rn San­toni und allen Opfern entschuldigen. Her­bert Wyss: Was Herr Bringold getan hat, ist aus juris­tis­chen und moralis­chen Grün­den nicht nachvol­lziehbar: Erstens ist er immer noch dem Daten­schutz unter­stellt und darf über nichts reden, was während sein­er Zeit als Heim­leit­er passiert ist. Zweit­ens ver­schlim­mert er das Lei­den eines Opfers. Herr Bringold hat sich ohne Not eingemis­cht… Andreas San­toni: … und grossen Schaden angerichtet. Auch für das Kinder­heim… Her­bert Wyss: Die Reak­tion von Peter Bringold zeigt aber auch, wie damals Struk­turen solche Missstände unter Ver­schluss gehal­ten haben – ja, es sog­ar ermöglicht haben, dass so etwas passiert. Man hat sich gegen­seit­ig gedeckt und dazu beige­tra­gen, dass sich Pädophile untere­inan­der find­en kon­nten. Andreas San­toni: Da hat auch die Gesellschaft ver­sagt: So viele haben es gewusst und nie­mand hat etwas gesagt.Herr San­toni: Viele Opfer von für­sorg­erischen Zwangs­mass­nah­men und sex­uellen Über­grif­f­en ver­drän­gen, kön­nen nicht über das Erlit­tene sprechen. Sie haben es geschafft, Ihr Schick­sal öffentlich zu machen. Was hat dazu geführt, dass Sie diesen Weg beschre­it­en kon­nten? Andreas San­toni: Ich dachte auch, ich hätte das abgeschlossen. Aber das stimmte nicht. Nach meinem Selb­st­mord­ver­such vor 7 Jahren hat­te ich viel Psy­chother­a­pie. Die meis­ten Ther­a­peuten waren über­fordert. Dann kam ich aber zu ein­er Psy­cholo­gin, die mich immer wieder ermuntert und motiviert hat, über das Vorge­fal­l­ene zu sprechen. Sie hat mich auch auf die Gui­do Fluri-Stiftung aufmerk­sam gemacht. Und auf die Schweiz­er Bischof­skon­ferenz, die erk­lärt hat, dass Opfer von sex­uellen Über­grif­f­en von Priestern entschädigt wer­den sollen.Was hat sich gefühlt für Sie verän­dert, wenn sie auf den gegan­genen Weg zurück­blick­en? Andreas San­toni: Gefühlsmäs­sig kann ich das alles noch nicht einord­nen, das braucht Zeit. Es kom­men aber viele Bilder von Erlebtem hoch, auch Neues. Ich bin froh, dass ich darüber sprechen kann und wahrschein­lich wird der ganze Rum­mel irgend­wie helfen, das alles aufzuar­beit­en.Sie haben sich lange Zeit als Täter, nicht als Opfer gefühlt. Sie haben sich die Schuld gegeben für das, was passiert ist. Das ist für Aussen­ste­hende mitunter schw­er nachzu­vol­lziehen. Andreas San­toni: Ich glaubte, ich hätte den Pfar­rer ver­führt. Her­bert Wyss: Das erk­lärt sich aus dem her­aus, wie früher Gewis­sens­bil­dung funk­tion­iert hat. Wenn alle Autoritäten von den Eltern über die Erzieher bis zum Pfar­rer einem Kind, das einen solchen Über­griff erlebt hat und davon berichtet, sagen: «So etwas sagt man nicht», dann übern­immt das ein Kind und ist her­nach überzeugt: «Ich bin schlecht.» Und wenn alle das Gegen­teil behaupten, kann für das Kind gar nicht sein, was es erlebt hat.» Andreas San­toni: Genau! Es hätte gar nichts genützt, wenn ich etwas gesagt hätte – man hätte mir gar nicht geglaubt!Sie haben lange Zeit nicht gewusst, dass der Pfar­rer, der Sie sex­uell miss­braucht hat, schon ver­stor­ben ist. Wie war das für Sie, als Sie schliesslich von seinem Tod erfahren haben? Andreas San­toni: Das war schlimm für mich, weil ich nie Antworten erhal­ten habe. Er ist in jen­em Pfar­rhaus gestor­ben, wo er all das gemacht hat. Ich sehe das ein Stück weit auch als Strafe. Dass er dort gehen musste, wo er seine Schand­tat­en began­gen hat.Auf welche Fra­gen hät­ten Sie denn gern eine Antwort gehabt? Andreas San­toni: Warum ich? Gab’s noch andere? Glauben Sie an Gott?Es ist bes­timmt davon auszuge­hen, dass noch mehrere Kinder von den sex­uellen Über­grif­f­en betrof­fen waren… Pia Iff: Zwei haben sich bere­its gemeldet.Abge­se­hen von der Entschuldigung: Was leis­tet das Kinder­heim St. Benedikt materiell an Wiedergut­machung? Pia Iff: Wir haben keine finanziellen Ressourcen für Entschädi­gungszahlun­gen. Wir sind offen für Gespräche, hören hin und ver­net­zen mit anderen Fach­stellen, wie der Opfer­hil­fe oder den kirch­lichen Instanzen, die sich mit der The­matik befassen. Her­bert Wyss: Eine materielle Geste zur Wiedergut­machung wurde über die Wiedergut­machungsini­tia­tive des Bun­des über die Bischof­skon­ferenz bere­its geleis­tet. Ver­mut­lich ist für Her­rn San­toni jet­zt die moralis­che Unter­stützung und die soziale Inte­gra­tion das zen­trale Anliegen. Bei­des will das Kinder­heim Her­metschwil leis­ten. Das ist ein Prozess, der andauern wird. Es ist aber in diesem Zusam­men­hang auch her­vorzuheben, wie wichtig die Unter­stützung für Her­rn San­toni war, die er von der Gui­do Fluri-Stiftung erhal­ten hat.Wenn man auf die Medi­en­berichter­stat­tung schaut, dann standen die sex­uellen Über­griffe im Zen­trum. Doch was ist mit den von Her­rn San­toni in einem Inter­view mit der Gui­do Fluri-Stiftung beschriebe­nen sadis­tis­chen Strafen und Drangsalierun­gen, denen die Kinder sein­erzeit aus­ge­set­zt waren? Wird man sich damit eben­falls noch auseinan­der­set­zen? Hat sich das Kinder­heim St. Benedikt bei den Opfern schon entschuldigt? Pia Iff: In der Entschuldigung wur­den expliz­it alle Opfer, nicht nur die von sex­ueller Gewalt ange­sprochen. An der Medi­enkon­ferenz vom 5. Juli wer­den wir darüber informieren, was der näch­ste Schritt zur Aufar­beitung sein wird. Her­bert Wyss: Geplant ist, dass alles geschichtlich aufgear­beit­et wird. Darüber wer­den wir unter anderem an der näch­sten Medi­enkon­ferenz am 5. Juli informieren.Entschei­dend ist auch, dass sich so etwas nie mehr wieder­holen darf Andreas San­toni: Nie­mand kann eine Garantie dafür geben, dass so etwas nie mehr passiert… Her­bert Wyss: Aber man kann eine Menge dage­gen tun. Pia Iff: Und was wir bere­its dafür alles tun, wer­den wir an der Medi­enkon­ferenz am 5. Juli aufzeigen. Wir wer­den ein Zeichen set­zen, welch­es erin­nert und wach­sen wird, dies als sym­bol­is­ch­er Akt. Die Zahl 3 ist für Her­rn San­toni ganz wichtig… Andreas San­toni: Die 3 ste­ht für die Ver­gan­gen­heit, die Gegen­wart und die Zukun­ft… Pia Iff: Wir wer­den drei Lin­den pflanzen. Lin­den ste­hen auch für Frieden und Ver­söh­nung… Andreas San­toni: Ganz wichtig ist mir noch: Nicht nur ver­ant­wortliche Insti­tu­tio­nen müssen hin­schauen, son­dern auch die Gesellschaft. Die meis­ten Über­griffe passieren im Pri­vat­en. Auch so etwas darf nicht passieren.Hin­weis: Anlauf­stelle für Opfer von Über­grif­f­en im Kinder­heim St. Benedikt Her­metschwil die Leitung des Kinder­heimes, Pia Iff (056 649 23 23), oder Abt Beda Szu­kics in Muri-Gries (+39 0471 282287).
Andreas C. Müller
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