«Geschenk des Lebens» oder «schwe­res Los»?

«Geschenk des Lebens» oder «schwe­res Los»?

Apo­stel­ge­schich­te 1,23–26Seid also beson­nen und nüch­tern und betet! Sie stell­ten zwei Män­ner auf: Josef, genannt Bars­ab­bas, mit dem Bei­na­men Justus, und Mat­thi­as. Dann bete­ten sie: Herr, du kennst die Her­zen aller; zei­ge, wen von die­sen bei­den du erwählt hast, die­sen Dienst und die­ses Apo­stel­amt zu über­neh­men. Denn Judas hat es ver­las­sen und ist an den Ort gegan­gen, der ihm bestimmt war. Dann gaben sie ihnen Lose; das Los fiel auf Mat­thi­as, und er wur­de den elf Apo­steln zugerechnet.Ein­heits­über­set­zung 2016 

«Geschenk des Lebens» oder «schwe­res Los»?

Noch gut erin­nert sich Arpad an die­sen kal­ten Win­ter­mor­gen in Buda­pest im Jah­re 1948, als er zusam­men mit sei­nem besten Stu­di­en­freund Vaclav müh­sam durch den Neu­schnee zum Hotel Gel­lért stapf­te. Sie hat­ten gehört, dass dort im gros­sen Saal Sti­pen­di­en für das Aus­land ver­ge­ben wer­den soll­ten. Sie waren etwas knapp dran und konn­ten sich noch gera­de recht­zei­tig anmel­den. Auf­ge­regt war­te­ten sie im gros­sen Saal des Hotels und konn­ten ihr Glück kaum fas­sen, als sie für ein Stu­di­um in der Schweiz aus­ge­lost wor­den waren.Als Arpad vie­le Jah­re spä­ter Pro­fes­sor für anthro­po­lo­gi­sche Phi­lo­so­phie war, ver­wen­de­te er in sei­nen Vor­le­sun­gen ger­ne die­ses Bei­spiel dafür, wie sich das Leben nach dem Zufalls­prin­zip in einem ein­zi­gen Augen­blick radi­kal ver­än­dern kann, und dass der Mensch in sol­chen Situa­tio­nen kei­ne ande­re Wahl hat, als sein Schick­sal in die Hän­de zu neh­men und sich den neu­en Her­aus­for­de­run­gen zu stel­len.In einer die­ser Vor­le­sun­gen blick­te er dabei ver­träumt aus dem Fen­ster und über­leg­te laut vor sich hin, was alles nicht gewe­sen wäre, hät­te er die­ses Sti­pen­di­um nicht gekriegt, son­dern viel­leicht eines für Lon­don oder Paris oder sonst wohin. Der Zufall woll­te es, dass just in die­sem Moment am Vor­le­sungs­saal mit sei­nen gros­sen Fen­ster­schei­ben ein Obdach­lo­ser ste­hen blieb und unse­rem Pro­fes­sor zuwink­te. «Ha, der Hau­ri!», ent­fuhr es ihm, und dann sin­nier­te Arpad über das schick­sal­haf­te Leben sei­ner Knei­pen­be­kannt­schaft, und was im Leben alles pas­sie­ren kann, auch im Nega­ti­ven.Unwei­ger­lich kommt mir der Phi­lo­soph Mar­tin Heid­eg­ger in den Sinn, der von der «Gewor­fen­heit» des mensch­li­chen Daseins spricht. Unge­fragt, will­kür­lich, undurch­sich­tig und unwiss­bar sind wir mit unse­rem Dasein kon­fron­tiert. Wenn es glatt läuft im Leben, dann spre­chen wir ger­ne von einem «Geschenk des Lebens», das wir dank­bar anneh­men, um dar­aus etwas Sinn­vol­les zu gestal­ten. Wenn wir Pech haben, von Krank­heit oder Schick­sals­schlä­gen heim­ge­sucht wer­den, dann spre­chen wir oft davon, «ein schwe­res Los» zu haben. In bei­den Fäl­len jedoch obliegt es der mensch­li­chen Frei­heit und dem per­sön­li­chen Ver­mö­gen, wie es mit die­sen Gege­ben­hei­ten wei­ter­geht.Wie der Apo­stel Mat­thi­as mit sei­nem Los umge­gan­gen ist, und was für ein Schick­sal ihn dadurch ereilt hat, wis­sen wir nicht mit Sicher­heit. Die münd­li­chen Über­lie­fe­run­gen zei­gen kein ein­heit­li­ches Bild, aus­ser dass er sein christ­li­ches Enga­ge­ment ver­mut­lich mit dem Tod bezahlt hat.Das Leben macht uns kei­ne Garan­tien, wie es am Ende aus­geht. Was uns bleibt, ist die Hoff­nung, wie Arpad im Rück­blick sagen zu kön­nen, dass wir dar­in einen Sinn erken­nen, und dass es, über alle Hochs und Tiefs hin­weg­ge­schaut, «schon gut so war, wie es war!». Dar­in ver­steckt sich der tie­fe Wunsch, dass wir nicht mit unse­rem Schick­sal hadern, son­dern die Gestal­tungs­spiel­räu­me – und mögen sie noch so klein sein! – sehen und wahr­neh­men.Mathi­as Jäg­gi, Theo­lo­ge und Sozi­al­ar­bei­ter,  arbei­tet als Berufsschullehrer
Redaktion Lichtblick
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