Ein Kloster, drei Kantone

Ein Kloster, drei Kantone

  • Das Hor­i­zonte-Team hat sich ganz in den West­en seines Gebi­etes begeben für die Som­merserie «Im wilden West­en»
  • Begeben Sie sich mit Hor­i­zonte auf Ent­deck­ungsreise zu den Glaubens- und Kul­turschätzen an den Rän­dern des Aar­gaus.
  • Erste Folge: Das Kloster St. Urban im Dreikan­ton­seck Luzern-Bern-Aar­gau
 Flim­mer­son­ne über gebüschel­tem Heu, Wald­schat­ten am Dor­frand. Saftig-sattes Grün statt Prärie, lauer Som­mer­wind statt rauer Wild­west­luft. Taucht da wenig­stens ein Cow­boy auf, dort aus dem Schat­ten der Linde?

Im wilden Westen

An diesem Som­mer­abend geht die Fahrt ins Kloster St. Urban, wo sich der «wilde West­en» von sein­er san­ften Seite zeigt. Gebet­tet in die Hügel, scheint die über 800-jährige Anlage in sich sel­ber zu ruhen. Im Park emp­fan­gen alte Bäume und mod­erne Kun­st die Besuch­er. Und aus dem Schat­ten der Linde tritt kein Cow­boy, son­dern ein geschicht­skundi­ger Erzäh­ler. Bern­hard Min­der lernte das Kloster St. Urban einst als Arbeit­sort ken­nen. Als Psy­chi­a­triepfleger war er in der Klinik tätig, die sich heute in der ehe­ma­li­gen Kloster­an­lage befind­et. Bald ent­deck­te der his­torisch Inter­essierte den Reiz des ehe­ma­li­gen Zis­terzienserk­losters. Seit zwanzig Jahren leit­et er Kloster­führun­gen.Bern­hard Min­ders Arm deutet nach links: «Der Wald dort gehört zum Kan­ton Aar­gau.» Dann wan­dert seine Hand im Uhrzeigersinn: «Die Bäume dort drüben ste­hen im Kan­ton Bern.» Bern­hard Min­der sel­ber ste­ht auf Luzern­er Boden, in der Gemeinde Pfaffnau. Vor ihm erhebt sich die mon­u­men­tale Fas­sade der Klosterkirche.

Seit je ein Grenzgebiet

In St. Urban tre­f­fen sich die Kan­tone Aar­gau, Bern und Luzern. Die Gegend, erzählt Bern­hard Min­der, sei schon immer Gren­zge­bi­et gewe­sen. Aus keltisch­er Zeit habe man an den bei­den Ufern des Flusses je unter­schiedliche Grabbeiga­ben gefun­den. Auch Ort­sna­men wie Mur­gen­thal fes­ti­gen diese Annahme, das keltische «murg» bedeutet «Gren­ze». Seit je tre­f­fen hier unter­schiedliche Gepflo­gen­heit­en und Men­tal­itäten aufeinan­der. Bern­hard Min­der nen­nt Beispiele: Im Emmen­tal erbt der jüng­ste Sohn den Hof, im Entle­buch der älteste. Die Bern­er jassen mit franzö­sis­chen Karten, die Luzern­er mit deutschen. Ja, die Gren­ze zwis­chen der Ver­bre­itung der bei­den Jasskarten­sorten ver­laufe gar von St. Urban über den Napf und den Wachthubel bis zum Brünig und weit­er hin­auf zum Furka­pass, erk­lärt die Web­seite grenzpfad.ch. Nach der Ref­or­ma­tion traf hier auch die reformierte bernische Seite — auch der Aar­gau war damals noch ber­gisch — auf das katholis­che Luzern.

Mönche prägten die Landschaft

In dieses Gebi­et kamen im Jahr 1194 zwölf Zis­terzienser­mönche mit ihrem Abt, um ein Kloster zu grün­den. Sie ver­sucht­en es zuerst etwa sechs Kilo­me­ter ent­fer­nt auf der Anhöhe «Klein­rot», was «kleine Rodung» bedeutet. Doch ein Berg war ungeeignet für die Wasser­wirtschaft, welche die Mönche betreiben woll­ten. Deshalb zogen sie an den heuti­gen Stan­dort, wo damals zwei Höfe standen. Neben dem Bau von Kirche und Kon­vent kul­tivierten sie das umliegende Land: «Mit der Wasser­wirtschaft, das heisst mit dem Bau eines verzweigten Sys­tems von Kanälen, prägten die Zis­terzienser die heutige, parkähn­liche Land­schaft», erläutert Bern­hard Min­der. Zeu­gen dieser monas­tis­chen Inge­nieurskun­st sind bis heute die Wässer­mat­ten im Ober­aar­gau (nordöstlich­ster Teil des Kan­tons Bern), Reste ein­er einst ver­bre­it­eten Kul­tur­form der genossen­schaftlichen Bewässerung und Dün­gung. Die Wässer­mat­ten gehen auf die Mönche des Klosters St. Urban zurück und sind kul­turhis­torisches Erbe.

Malachias Glutz — «ein sehr barocker Mensch»

Die heute sicht­bare Gestalt des Klosters wurde vor allem von einem Mann geprägt. Malachias Glutz stand dem Kloster von 1706 bis 1726 als Abt vor. «Ein sehr barock­er Men­sch», sagt Bern­hard Min­der mit einem viel­sagen­den Schmun­zeln. Abt Malachias, der aus einem Solothurn­er Adels­geschlecht stammte, liess die mit­te­lal­ter­liche, gotis­che Kirche abreis­sen und gab den Neubau in Auf­trag. Kurz darauf liess er auch die Kon­vent­ge­bäude neu bauen. Damit schuf er eine der bedeu­tend­sten barock­en Kloster­an­la­gen der Schweiz, für welche die Architek­turhis­torik­er gerne ein paar Superla­tive aus­pack­en. Von einem «Innen­raum von höch­ster Reife» mit «unver­gle­ich­lich­er Licht­fülle» ist in der Fach­lit­er­atur die Rede.

Zurückhaltung abgelegt

Die Fas­sade macht neugierig. Obwohl die Zis­terzienser als Refor­mor­den zurück­kehren woll­ten zu den Wurzeln, der benedik­tinis­chen Regel, und dem Reich­tum abschworen, erstellte Malachias Glutz eine imposante Dop­pel­turm­fas­sade. Bei ihrer Gestal­tung  spielte die Lage im Gren­zge­bi­et zwis­chen den Kon­fes­sio­nen eine wichtige Rolle. Angesichts des reformierten Nach­bars Bern gab Malachias Glutz die zis­terzien­sis­che Zurück­hal­tung auf. Die Regel, dass keine Türme auf dem Boden ste­hen dür­fen, umging Malachias mit der Recht­fer­ti­gung, der vordere Teil der Kirche sei für die Laien reserviert, für diese seien auch die Türme. «Eine grosszügige Rege­lausle­gung», kom­men­tiert Bern­hard Min­der. Doch im Innern erwartet die Besuch­er ein Kirchen­raum, so luftig, leicht und hell, wie sie noch sel­ten eine Kirche gese­hen haben. Bern­hard Min­der kon­sta­tiert: «Etwas Ver­gle­ich­bares muss man weit suchen. Das ist die Syn­these aus barock­er Fülle und zis­terzien­sis­ch­er Beschei­den­heit».

Fokus liegt auf dem Göttlichen

Ste­ht man unter der Kirchen­türe, ist kein Fen­ster zu ent­deck­en. Im Mit­telpunkt ste­ht allein das Licht. Die Wandpfeil­er sind so geset­zt, dass der Bau nach vorne hin enger zu wer­den scheint. Der Blick wird zum Hochal­tar gelenkt. «Als wollte die Kirche dem Betra­chter mit­teilen ‚Denk daran, der Fokus im Leben liegt auf dem Göt­tlichen’», inter­pretiert Bern­hard Min­der. Ein sehens- und vor allem hörenswertes Prunk­stück ist die Orgel von Joseph Bossard, eine der grössten, weit­ge­hend erhal­te­nen Barock­o­rgeln in Europa.

Nichts ohne Bedeutung

Dank Bern­hard Min­ders Wis­sen bekom­men all die Sym­bole, Fig­uren und Pro­por­tio­nen in der Klosterkirche eine Bedeu­tung. Nichts scheint absicht­s­los, jed­er Git­ter­stab, jedes Pfeil­erkapitell lässt sich mit der Bibel, der Klostergeschichte oder den grossen men­schlichen Fra­gen nach Leben und Tod, Sinn und Schick­sal verbinden. Die Kirche bewege auch Ange­hörige ander­er Wel­tre­li­gio­nen, weiss Bern­hard Min­der aus sein­er lan­gen Erfahrung als Kloster­führer.

Hier atmet die Erde aus

Ein anderes Phänomen, das unab­hängig von der Reli­gion­szuge­hörigkeit Wirkung zeigt, sind die Kraft­punk­te. Es gebe mehrere solche Stellen in der Kirche, wo die Natur «ausatme», wie Bern­hard Min­der for­muliert. Beim Ein­gang ver­laufe eine Wasser­ad­er, die reini­gende Wirkung habe. Auf Höhe der zehn­ten Bankrei­he von hin­ten gezählt, sei durch Aus­pendeln ein Mete­or unter dem Kirchen­bo­den geortet wor­den. Und hin­ter dem Chor­git­ter, direkt unter der Uhr mit dem blauen Zif­ferblatt, befinde sich der stärk­ste Kraftort. Hier, im barock­en Chorgestühl, ver­sam­melten sich einst die Mönche sieben Mal täglich zum Gebet. Gut möglich, dass die spir­ituelle Kraft des Gebetes über die Jahrhun­derte einen Ort der Kraft geschaf­fen hat. Bern­hard Min­der ver­rät, dass er jew­eils in der Hal­bzeit sein­er Führun­gen unter die Uhr ste­he und Kraft tanke für die zweite Hälfte.

Verbindung zum Kloster Wettingen

Das in sech­sjähriger Schnitzarbeit zwis­chen 1701 und 1707 geschaf­fene Chorgestühl aus Nuss­baum- und Eichen­holz erin­nert spon­tan an das­jenige im Kloster Wet­tin­gen. Und tat­säch­lich fällt Bern­hard Min­der eine Verbindung zum Zis­terzienserk­loster auf der Lim­math­al­binsel ein. Das Eichenkern­holz des Wet­tinger Chorgestühls stammt aus den Wäldern des Klosters St. Urban.

Irrfahrt mit Happy-End

Wie ein Kri­mi hört sich die Geschichte des Chorgestühls an. Nach­dem der Kan­ton Luzern im Jahr 1848 beschlossen hat­te, das Zis­terzienserk­loster aufzuheben, ver­scher­belte er das Inven­tar, um die Schulden aus dem Son­der­bund­krieg zu bezahlen. Der Käufer, der St. Galler Banki­er James Mey­er, liess das Chorgestühl abbauen und stellte einen Teil davon in Basel zum Verkauf aus. Der Ire Stephen Ram erwarb es. Zuhause fand er jedoch keinen geeigneten Platz dafür und verkaufte es weit­er. So gelangte das barocke Kunst­werk zum schot­tis­chen Earl of Kinoull. Doch auch in dessen Schloss hat­te nur ein Teil des grossen Gestühls Platz. 1890 erfuhr Hein­rich Angst, britis­ch­er Gen­er­alkon­sul in der Schweiz und erster Direk­tor des Schweiz­er Lan­desmu­se­ums, im Gespräch mit Englän­dern von einem geschnitzten Chorgestühl aus der Schweiz auf den Britis­chen Inseln. Er machte es aus­find­ig und nahm Kaufver­hand­lun­gen auf, die aber am hohen Preis scheit­erten. Jahre später kon­nte endlich die Got­tfried-Keller-Stiftung das Chorgestühl für 50’000 Franken zurück­kaufen. Im Okto­ber 1911 wurde es in der Klosterkirche wieder eingewei­ht.

Barocke Schmuckstücke und Raum für Neues

Vor dem Hochal­tar der Kirche führt eine Türe zum Kon­vent­ge­bäude. Auf dem kürzesten Weg hin­aus aus der Kloster­an­lage passiert Bern­hard Min­der wie zufäl­lig weit­ere Schmuck­stücke der Barock­kun­st. Die Sakris­tei mit einem wertvollen Gewand von Abt Malachias, die Bib­lio­thek mit den geschnitzten Eichen­säulen, den grössten barock­en Fest­saal der Schweiz und das Trep­pen­haus, welch­es durch die Anord­nung der Trep­pen einen ganz speziellen Raumein­druck ver­mit­telt. Dann geht’s hin­aus in den Park.Auch dort ste­ht Kun­st. Die Skulp­turen sind Teil des Kun­stzen­trums art-st-urban, das auf dem Klostergelände behei­matet ist. Es hat sich zu ein­er Plat­tform für Kun­stver­mit­tlung und –förderung entwick­elt. Das Kloster St. Urban ver­wal­tet nicht nur sein jahrhun­dertealtes spir­ituelles und kul­turelles Erbe, son­dern bietet Men­schen den Freiraum, Neues zu schaf­fen.

«Dieser Ort gibt mir viel»

St. Urban ist ein Ort, pral­lvoll mit Geschichte und Geschicht­en. Wer sich auf­macht, ihn zu ent­deck­en, wird nicht ent­täuscht. Da passt das Schluss­wort von Bern­hard Min­der: «Mir ist es ein Anliegen, das weit­erzugeben, was ich hier bekom­men habe. Dieser Ort gibt mir viel.»   
Marie-Christine Andres Schürch
mehr zum Autor
nach
soben