Der Ketzer im Schatten von Augustin Keller

Den Katho­liken Augustin Keller, der im Aar­gau im 19. Jahrhun­dert die Klöster stürzte, ken­nt eine bre­ite Öffentlichkeit. Als Visionär gefeiert von den einen, mieden die Aar­gauer Katho­liken seine Andenken bis in die jüng­ste Zeit. Nur wenige übers Freiamt hin­aus ken­nen indes das Schick­sal des Men­ren­schwan­der Gast­wirts Johann Hein­rich Fis­ch­er, der 1830 als Anführer des Freiämter­sturms ein Husaren­stück voll­brachte, her­nach jedoch eben­falls bei seinen Leuten in Ung­nade fiel.

«Wohlan, so lasst uns die nöti­gen Anstal­ten tre­f­fen«, soll Johann Hein­rich Fis­ch­er nach langem Zure­den eingewil­ligt haben, den bewaffneten Protestzug gegen Aarau anzuführen. Alles ver­sam­melte Volk im Meren­schwan­der Wirtshaus jubelte und liess den «Schwa­nen­wirt» als «echt­en Vater­land­shelden» hochleben. Am näch­sten Mor­gen sollte Johann Hein­rich Fis­ch­er einen Haufen bewaffneter Freiämter anführen und jenes Ereig­nis in Gang brin­gen, das als der erste Freiämter­sturm vom 5. Dezem­ber 1830 in die Geschichts­büch­er eing­ing. 

Als Ver­fas­sungsrat­spräsi­dent gegen die Freiämter
Die Aktion nahm einen tri­umphalen Ver­lauf. Die Regierungstrup­pen liefen entwed­er zu den Auf­ständis­chen über oder flo­hen. Die Regierung in Aarau dank­te ab und beugte sich den Forderun­gen nach ein­er neuen Ver­fas­sung, die das Regime der selb­s­ther­rlich und zum Nachteil der freiämter Bevölkerung agieren­den Kan­ton­sregierung been­den sollte. Doch die Ent­täuschung fol­gte auf den Fuss. Hat­te man dem selb­ster­nan­nten «Gen­er­al» bei sein­er Rück­kehr ins Freiamt noch gefeiert, so fiel Johann Hein­rich Fis­ch­er kurz darauf bei den eige­nen Leuten in Ung­nade. Der «Schwa­nen­wirt» aus dem «schwarzkatholis­chen» Freiamt sym­pa­thisierte mit lib­eralen Ideen und bil­ligte als Präsi­dent ein­er Aar­gauer Ver­fas­sungskom­mis­sion die Benachteili­gung der Kirche durch den Staat. Johann Hein­rich Fis­ch­er schmerzte der Sym­pa­thie-Entzug. Zerknirscht soll er sich 1836 von allen poli­tis­chen Ämtern zurück­ge­zo­gen und nach Lenzburg begeben haben, wo er zum reformierten Glauben wech­selte. 1861 ver­schwand er spur­los. 

Ein dankbares «Dro­hfin­gerele­ment» zur Mah­nung 
Noch heute tun sich die Freiämter in der Erin­nerung an ihren «Gen­er­al« schw­er, wie ein Augen­schein vor Ort zeigt. Zwar erin­nert vor dem Wirtshaus «Schwa­nen» seit den 1930er Jahren eine Gedenk­tafel an den «Kämpfer für eine frei­heitliche Ver­fas­sung und Führer im Freiämterzug», doch so richtig stolz sind die Meren­schwan­der auf ihren «Hein­rich Fis­ch­er» nicht. Den einen gilt er als Iden­ti­fika­tions­fig­ur, den anderen eher als pein­liche Mar­i­onette. « Gen­er­al Fis­ch­er verkör­pert für uns Freiämter die Idee, dass es ger­ade als Ran­dre­gion wichtig ist, zu zeigen, wer man ist», erk­lärt Josef Nog­a­ra, langjähriger Gemein­deam­mann von Meren­schwand. «Dem Freiamt ist von alters her Zug und Luzern näher als Aarau, mit der Regierung dort gab es immer wieder ein­mal Dif­feren­zen.» Umso wichtiger sei es gewe­sen, sich für die eige­nen Anliegen stark zu machen, meint Josef Nog­a­ra. Mit Fis­ch­ers Freiämter­sturm, vor dem die Aar­gauer Regierung kapit­ulierte, habe das Freiamt ein «Dro­hfin­gerele­ment», das bis heute das Selb­st­be­wusst­sein ein­er Region unter­stre­iche, die sich nicht «von oben herab behan­deln lässt» oder zu einem «Bal­len­berg» reduzieren lasse. 

Sün­den­bock auf Vor­rat
«Weil er jedoch ein Lib­eraler war, hat er im Grunde nie die Anerken­nung der Freiämter gefun­den», meint Franz Küng, heutiger Besitzer der his­torischen Gast­stube, in welch­er sein­erzeit Johann Hein­rich Fis­ch­er wirtete. Die eigentlichen Mei­n­ungs­mach­er seien die Wohlen­er Stro­hbarone gewe­sen, die sich bei der Verkehrser­schlies­sung des jun­gen Kan­tons von der mit aller­lei Son­der­voll­macht­en aus­ges­tat­teten Kan­ton­sregierung über­gan­gen fühlten. «Doch die Indus­triellen hat­ten Angst, als Anführer wegen Hochver­rats hin­gerichtet zu wer­den», meint Franz Küng. «Also schoben sie den «Schwa­nen­wirt» vor, der auf­grund seines Charis­mas die Leute mitzureis­sen ver­stand.» 

Von der Licht­gestalt zum Ket­zer
Es scheint, als hät­ten die Freiämter in Johann Hein­rich Fis­ch­er jemand anderen gese­hen, als dieser let­ztlich war. Das muss ihnen schmerzhaft bewusst gewor­den sein, als die unter sein­er Führung über­ar­beit­ete Kan­tonsver­fass­sung  die altherge­bracht­en Rechte der Kirche in Frage stellte. Der Anführer des Freiämter­sturms teilte somit let­ztlich das Schick­sal seines bekan­nteren Zeitgenossen, Augustin Keller. Dieser, selb­st katholisch, avancierte in den katholis­chen Gebi­eten zum Ket­zer, weil er sich erdreis­tete, die Aufhe­bung der Klöster zu fordern.  

Bei den lib­eralen Vor­denkern in Bad Schinz­nach 
Johann Hein­rich Fis­ch­er besuchte ab 1818 regelmäs­sig die Ver­samm­lun­gen der Hel­vetis­chen Gesellschaft in Bad Schinz­nach. Diese set­zte sich für ein besseres Bil­dungswe­sen sowie die Schaf­fung eines Bun­desstaates ein. Es ist anzunehmen, dass Johann Hein­rich Fis­ch­er auf­grund sein­er Tätigkeit als Lehrer mit lib­eralen Ideen sym­pa­thisierte. Als Dorf­schullehrer in Meren­schwand unter­richtete er 87 Kinder in «völ­lig unbe­friedi­gen­den Ver­hält­nis­sen«, wie er später als Gross­rat aus­führte. Dass in den katholis­chen Gebi­eten ein eigentlich­es Bil­dungswe­sen mit Aus­nahme der Kloster­schulen qua­si nicht existierte, dürfte ihn, ähn­lich wie auch Augustin Keller, der eben­falls Lehrer war, gestört haben. Jeden­falls hängte Johann Hein­rich Fis­ch­er nach nur drei Jahren den Lehrerberuf an den Nagel und wech­selte ins Wirte­fach.  

Gerücht über Fre­itod
Seinen schlecht­en Ruf zemen­tierte sich Johann Hein­rich Fis­ch­er nach seinem Bruch mit dem Freiamt. «Den Freiämtern hat gewiss nicht gefall­en, dass er ein­fach so ver­schwun­den ist», arg­wöh­nt Benedikt Stalder, der für den Freiämter­weg den Text für die zum Weg gehörige Infor­ma­tion­stafel in Meren­schwand ent­warf. Nach seinem Rück­zug nach Lenzburg ver­schwand der «Gen­er­al» im Jahre 1861 spur­los. «Das hat bei vie­len die Fan­tasie angeregt», meint Benedikt Stalder. «Gemut­masst wurde auch ein Selb­st­mord in der Reuss», weiss Bruno Käp­peli, der Kura­tor des Meren­schwan­der Ortsmu­se­ums. Ein Gerücht, dass bei den von ihrem einst hochge­jubel­ten Anführer ent­täuscht­en Freiämtern schnell verf­ing und den «Schwa­nen­wirt» zusät­zlich diskred­i­tierte.  

Neue Zeit, gle­iche Her­aus­forderung
Im Zeital­ter der Glob­al­isierung stellt sich für das Freiamt erneut die Her­aus­forderung, seine Iden­tität zu behaupten. «Mit den neuen Auto­bah­nen und der wach­senden Bevölkerung hat der Sied­lungs­druck zugenom­men», weiss der ehe­ma­lige Gemein­deam­mann Josef Nog­a­ra. Entsprechend sei man gefordert, «bei der aktuell anste­hen­den Sied­lungsen­twick­lung die eige­nen Inter­essen gegenüber dem Kan­ton und dem Bund zu behaupten.» Hier­bei erin­nern sich die Freiämter gerne an ihr his­torisch gewach­senes Selb­st­be­wusst­sein und insze­nieren dieses über greif­bare Iden­ti­fika­tions­fig­uren. Auf diesem Wege erfuhr auch der «Schwa­nen­wirt» seine Reha­bil­i­ta­tion. Bere­its zum 150-jähri­gen Jubiläum des Freiämter­sturms insze­nierte der «Zeigefin­ger des Kan­tons» einen neuer­lichen Demon­stra­tionszug nach Aarau. Mit dem Meren­schwan­der Gemein­deam­mann als Johann Hein­rich Fis­ch­er.

Andreas C. Müller

Redaktion Lichtblick
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