Der Draht nach oben
Bild: © Heiner Schubert

Der Draht nach oben


Bib­lis­che Bilder und Motive begleit­en mich ein Leben lang. Oft gaben sie mir bei Entschei­dun­gen wertvolle Impulse. Ich hat­te eine vorzügliche Son­ntagss­chullehrerin, die mir nicht nur die wichtig­sten bib­lis­chen Geschicht­en erzählte, son­dern mir, dem kleinen Knirps, auch erlaubte, der Mond­ladung beizu­wohnen.

Im Gegen­satz zu uns besass sie einen Fernse­her. Son­st hat­te es das Leben mit ihr nicht nur gut gemeint; jung an Kinder­läh­mung ­erkrankt, ging sie müh­sam an Stöck­en. Ich begriff mit der Unvor­ein­genom­men­heit des Kindes, dass der Glaube ihr im Leben zur Stütze gewor­den war.

Religionen fordern uns heraus

Der Haupt­grund, sich mit der Reli­gion der ­Gesellschaft, in der man lebt, auseinan­derzuset­zen, liegt in den Bildern, die sie anbi­etet. Wir dür­fen diese Bilder und Motive unseren Kindern nicht voren­thal­ten, und wir müssen als Erwach­sene eine Ahnung von ihnen haben. Die Beschäf­ti­gung mit Reli­gion lehrt uns den Umgang mit Bildern; sie lehrt uns zu ver­ste­hen, welche Vorstel­lun­gen uns im Leben antreiben oder brem­sen. Reli­gio­nen fordern uns her­aus, einen eige­nen Stand­punkt zu entwick­eln. Das wirk­mächtig­ste Bild der Bibel ist jenes von Gott, dem Befreier. Es gehört zum Glaubens­beken­nt­nis Israels. Der in Zürich lebende und lehrende Rab­bin­er Michael Bol­lag nen­nt den Seder­abend, der den Auf­takt zu Pes­sach bildet, eine «Päd­a­gogik der Frei­heit»: Die Jüng­sten stellen die Fra­gen. Die Form des Seders ent­stand in Zeit­en des Exils, also in ­Zeit­en gross­er Unfrei­heit. Das bedeutet, dass es zuerst darum geht, im Kopf die Frei­heit zu ergreifen.

Nichtwissen vertieft die Gräben

Dik­ta­toren haben zu allen Zeit­en ver­sucht, die Erin­nerung an dieses Bild zu unter­drück­en, und jene ver­fol­gt, die es weit­erge­sagt haben. Gewaltherrsch­er fürcht­en seine mut­machende Kraft zu Recht. Es gibt heute eine starke gesellschaftliche Strö­mung, die meint, wenn man nur die Reli­gio­nen abschaffte, entstünde ein ide­olo­giefreier Raum, und alle wären glück­lich. Der ide­olo­giefreie Raum ist selb­st eine Ide­olo­gie. Es funk­tion­iert nicht. Mit dem Nichtwissen steigen die Span­nun­gen, und die Gräben ver­tiefen sich. Bil­dung schafft Ver­ste­hen und Ver­ständ­nis. Und ver­ant­wor­tungsvoll betriebene Bil­dung schafft eine Basis für ­Achtung. So wichtig der inter­re­ligiöse Dia­log ist: Es ist die Schule, die die Grund­la­gen für gegen­seit­iges Ver­ständ­nis schaf­fen muss. Man kann die Reli­gio­nen erk­lären, ohne die Angst zu schüren, Kinder wür­den mis­sion­iert.

Eine Kraft, die Menschen befähigt

Wenn Leute meinen, «Bud­dha» sei die Beze­ich­nung für eine Stat­ue, die in Wartez­im­mern oder Vorgärten ste­ht, fehlt defin­i­tiv etwas im Bil­dungskanon. Wie trau­rig ist es, wenn ein Men­sch nie von der Schön­heit der Sprache des Korans hört, die Grosszügigkeit im Denken der Sikhs nicht ken­nt; wenn sie nie etwas von Gott, dem Befreier vern­immt und keine Ahnung hat vom geheimnisvollen Zus­tand, den Christin­nen und Chris­ten «Reich Gottes» nen­nen. Was für eine Fehlen­twick­lung, wenn Reli­gion nur im Zusam­men­hang mit Unaufgek­lärtheit und Gewalt gese­hen wird, anstatt als Kraft, die Men­schen befähigt, über sich selb­st hin­auszuwach­sen und der Liebe den Vorzug zu geben vor der ­Gle­ichgültigkeit.

Heiner Schubert
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