
Bild: © Christoph Wider
Das Menschenmögliche tun
Missbrauchsprävention hört nie auf
Am 12. September jährt sich die Veröffentlichung der Pilotstudie zum Missbrauch in der katholischen Kirche der Schweiz zum zweiten Mal. Wie kam es dazu? Was ist seither geschehen, und was steht noch an?
Als vor zwei Jahren, im September 2023, die Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche der Schweiz an einer Medienkonferenz vorgestellt wurde, war das Entsetzen über die rund 1000 Betroffenen seit 1950 gross. Umso mehr, als die Studienleiterinnen Monika Dommann und Marietta Meier die Anzahl der Betroffenen lediglich als die Spitze des Eisbergs bezeichneten. Denn viele Fälle würden erst Jahrzehnte nach der Tat gemeldet oder überhaupt nicht. Grund dafür seien oft Schamgefühle der Betroffenen.
Das Forum Pfarrblatt Zürich hat in einem Dossier die Berichterstattung zum Thema Missbrauch seit 1999 gesammelt.
Kirchenaustritte
Das Entsetzen hatte viele Kirchenaustritte zur Folge. In den Kantonen Aargau und Solothurn etwa verliessen doppelt so viele Menschen die Kirche wie im Vorjahr 2022. Im Kanton Basel-Stadt waren es knapp doppelt so viele, für den Kanton Baselland fehlen die Zahlen. Aber die Mindereinnahmen bei den Kirchensteuern im Jahr 2023 weisen auch dort auf vermehrte Austritte hin.
Dennoch kamen die Ergebnisse der Pilotstudie nicht unerwartet. Studien in Deutschland hatten einige Jahre zuvor ähnliche Resultate ergeben. Die Hoffnung der katholischen Schweiz, mit dem dualen System (der Parallelstruktur von staatskirchenrechtlicher und pastoraler Seite) verfüge man über einen Kontrollmechanismus, zerschlug sich mit den vorläufigen Forschungsergebnissen.
«Viele Katholikinnen und Katholiken können nicht verstehen, wie ein Missbrauchsskandal dieses Ausmasses möglich wurde»
Schon lange bekannt
Viele Katholikinnen und Katholiken können nicht verstehen, wie ein Missbrauchsskandal dieses Ausmasses möglich wurde – zumal schon in den 1980er-Jahren Fälle publik geworden waren. Der amerikanische Doyle-Report von 1985 etwa schilderte die Machenschaften eines Priesters, der sexuellen Missbrauch begangen hatte, und fand heraus, dass das Bistum Boston 10 Millionen Dollar ausgegeben hatte, um die Taten zu vertuschen. 1994 flog ein Priester in Irland auf, der über die Jahre 90 Kinder missbraucht hatte. Der Fall brachte die damalige irische Regierung, die stark mit der katholischen Kirche verflochten war, zu Fall. Viele Untersuchungen und Berichte wurden verfasst, und es wurde immer klarer, dass es sich beim sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche um ein systemisches Problem von Klerikalismus, überhöhtem Priesterbild und Täterschutz durch Verschweigen und Vertuschen handelte.
Massnahmen gegen Missbrauch
Als Folge der amerikanischen und irischen Skandale verfassten Bischofskonferenzen verschiedener Länder Richtlinien, um den sexuellen Missbrauch im kirchlichen Umfeld zu verhindern. Auch die Schweizer Bischofskonferenz publizierte im Jahr 2002 erste Richtlinien dazu und schuf ein Fachgremium.
2010 deckte der Jesuit Klaus Mertes am Canisius-Kolleg in Berlin einen riesigen Missbrauchsskandal an seiner Schule auf. Das Ereignis stellte einen Meilenstein im europäischen katholischen Missbrauchsskandal dar und löste ein grosses gesellschaftliches Echo aus. 2011 stellte die Schweizer Bischofskonferenz einen Zwischenbericht zur «Aufarbeitung und Prävention sexueller Übergriffe in der Seelsorge» vor. Martin Werlen, damals Abt des Klosters Einsiedeln und Mitglied der Bischofskonferenz, kommentierte die Opfer- und Täterstatistik dahingehend, dass hinter den Zahlen immer konkrete Menschen stünden. Immer mehr kamen nun die Betroffenen in den Fokus.
Betroffene im Fokus
In der Westschweiz hatten sich ein Jahr zuvor Betroffene zur Opfervereinigung «Le Groupe de soutien aux personnes abusées dans une relation d’autorité religieuse» (Groupe SAPEC) zusammengeschlossen. In der Deutschschweiz sollte es noch elf Jahre dauern, bis der kürzlich verstorbene Albin Reichmuth, selbst betroffen von Missbrauch, die Interessengemeinschaft für missbrauchsbetroffene Menschen im kirchlichen Umfeld (IG‑M!kU) gründete. Die Zeugnisse von Betroffenen in Büchern und Filmen, wie etwa das der ehemaligen Ordensschwester Doris Wagner, die über den erlebten Missbrauch in der geistlichen Familie «Das Werk» erzählte, halfen, die Strukturen und Eigenheiten des Missbrauchs im kirchlichen Umfeld zu verstehen und den Einfluss auf kirchliche Entscheidungsträger zu erhöhen.
Hier werden Sie gehört
Angebote für Betroffene
Unabhängige Anlaufstellen für Betroffene in der Deutschschweiz ist die Opferhilfe Schweiz. Eine Übersicht der kantonal anerkannten Opferberatungsstellen finden Sie auf www.opferhilfe-schweiz.ch. Diese sind seit Januar 2025 formell für die Beratung von Opfern von Missbrauch im kirchlichen Umfeld zuständig und lösen die kirchlichen Opferberatungsstellen ab.
Hier finden Sie eine Übersicht zu den Selbsthilfegruppen.
Wenn Sie bereit sind, über sexuellen Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche zu Forschungszwecken zu berichten, melden Sie sich bitte unter: (deutsch), (französisch) oder (italienisch).
Melde- und Präventionsfachstellen
So wurde auf Druck von SAPEC im Jahr 2016 eine unabhängige Meldestelle für Fälle sexuellen Missbrauchs gegründet; die Schweizer Bischofskonferenz (SBK) und die Vereinigung der Höheren Ordensobern der Schweiz (VOS’USM) gründeten eine Kommission, die Genugtuungszahlungen an Betroffene leistete. Daneben entstanden in den Bistümern Präventionsfachstellen, um kirchliche Angestellte zu sensibilisieren.
Studie zur Aufarbeitung
2021 schliesslich wurde die Pilotstudie zur «Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts» von der SBK, der Römisch-katholischen Zentralkonferenz und der Konferenz der Ordensgemeinschaften sowie anderer Gemeinschaften des gottgeweihten Lebens in der Schweiz (KOVOS) bei der Universität Zürich in Auftrag gegeben.
Unabhängige Opferberatung
Die Ergebnisse der Pilotstudie hatten neben dem grossen Entsetzen auch ein weiteres Massnahmenpaket zur Folge. So ist die Opferberatung seit Anfang dieses Jahres schweizweit von der Kirche unabhängig. Betroffene können sich nun an die Opferberatungsstellen wenden, deren Zusatzaufwand von der Kirche getragen wird. Ausserdem wurde eine Dienststelle «Missbrauch im kirchlichen Kontext» geschaffen, die vom ausgewiesenen Fachmann Stefan Loppacher geleitet wird. Die Dienststelle berät die Entscheidungsträger, leitet nationale Projekte in den Bereichen Prävention und Intervention und koordiniert verschiedene Fachgremien, Betroffenenorganisationen und Präventionsstellen.
Ausserdem wurden Standards zur Führung und Archivierung von Personaldossiers entwickelt. Ein neues, schweizweit einheitliches Abklärungsverfahren dient dazu, zukünftige Priesteramtskandidaten und Seelsorgende auf ihre Eignung für die Aufgabe zu prüfen.
Einheitliche Rechtssprechung
Seit Oktober 2024 liegt die Zustimmung zur Schaffung eines nationalen kirchlichen Straf- und Disziplinargerichts vom obersten Gerichtshof und dem kirchlichen Justizministerium in Rom vor. Ist die Rechtsgrundlage, die nun eine Gruppe von Kirchenrechtlerinnen und Kirchenrechtlern erstellt, geschaffen und das geeignete Personal gefunden, kann es nach erneuter Zustimmung von Rom seine Arbeit aufnehmen. Das nationale Gericht soll die einzelnen Gerichte der jeweiligen Bistümer ersetzen und zu einer einheitlichen Rechtsprechung in der Schweiz führen. Ausserdem soll das Gericht von ausgewiesenen Expertinnen und Experten geführt und dadurch professionalisiert werden.
Sexueller Missbrauch im kirchlichen Umfeld kann nicht ein für alle Mal aus der Welt geräumt werden. Das hat die Realität gezeigt. Vielmehr braucht es Prävention, Sensibilisierung und Transparenz, damit Betroffene geschützt und Täter und Täterinnen erkannt werden können. Wenn im Jahr 2027 die Resultate der Folgestudie zum sexuellen Missbrauch im kirchlichen Umfeld publiziert werden, wird das Resultat besser zu ertragen sein, wenn die Kirche alles Menschenmögliche getan hat, um weiteren Missbrauch zu verhindern.


