Das erste und letzte Kleidchen

Das erste und letzte Kleidchen

  • Würde­voll Abschied nehmen von einem früh ver­stor­be­nen Kind. Das ermöglichen trauern­den Eltern drei Frauen, die aus gespende­ten Brautk­lei­dern soge­nan­nte «Engel­sklei­der» nähen.
  • Ihre Idee und ihre Kreatio­nen kom­men so gut an, dass sie kaum noch nachkom­men mit der Her­stel­lung von Klei­d­chen, Bettchen und Cocoons.
  • Für ihr nicht gewin­nori­en­tiertes Ange­bot erhiel­ten die Macherin­nen von Engelskleider.ch dieses Jahr den G&G‑Award des Schweiz­er Fernse­hens.

«So eine Naht am Rück­en, das geht gar nicht!», sagt Manuela Acher­mann dezi­diert. «Das Kind soll weich liegen.» In der Hand hält Mäny, wie sie sich nen­nt, ein gespendetes Brautk­leid. Aus solchen näht sie zusam­men mit ihren Kol­legin­nen Ursi­na Trox­ler und Mon­i­ca Wyss Klei­der für Kinder, die schon im Mut­ter­leib oder kurz nach der Geburt gestor­ben sind. Die drei Frauen sprechen von Engel­skindern – auch Ster­nenkinder genan­nt – und Engel­sklei­dern.

Der Wun­sch, Hochzeit­sklei­dern eine neue Ver­wen­dung zu geben, ging von Ursi­na Trox­ler (44) aus. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Flüe­len. «Mit Brautk­lei­dern sollte man nach der Hochzeit etwas machen», fand sie. Über einen Face­bookaufruf kamen Mäny Acher­mann (45) aus Entle­buch und Mon­i­ca Wyss (44) aus Büsser­ach dazu. Alle drei ken­nen die Erfahrung, dass das eigene Kind noch während der Schwanger­schaft stirbt.

Tabuthema Abort

«Mein Abort wurde im Spi­tal nicht the­ma­tisiert», erzählt Acher­mann, «mich hat das damals jedoch mehr getrof­fen, als ich zuerst wahrhaben wollte.» Trox­ler hat zwei Kinder in der frühen Schwanger­schaft ver­loren. «Die Ärztin sagte zu mir: ‹Sie sind noch jung, Sie kön­nen es nochmals pro­bieren.› Das hat mich sehr schock­iert!» Auch Wyss, die beim Gespräch in der alten Ziegel­hütte in Flüe­len nicht dabei sein kann, hat mehrere Kinder ver­loren. Das Nähen von Engel­sklei­dern habe ihr geholfen, das Erlebte zu ver­ar­beit­en, sagt Acher­mann, heute Mut­ter von drei Teenagern. Die Frauen möcht­en auch dazu beitra­gen, dass dieses The­ma nicht tot­geschwiegen wird.

«Natür­lich macht es uns trau­rig, immer wieder mit dem Tod von Kindern kon­fron­tiert zu sein», sagt Trox­ler, «aber es ist auch tröstlich, zu wis­sen, dass das Kind ein schönes Kleid trägt oder eine weiche Decke hat, wenn es in den Him­mel geht.» Der Abschied auch von einem früh ver­stor­be­nen Kind soll «würde­voll» sein. Wohl deshalb wen­den die Frauen beim Nähen eine auf­fal­l­end grosse Sorgfalt auf: Druck­knöpfe und Nähte am Rück­en wer­den ver­mieden, Bet­tli und die noch kleineren Cocoons sind gefüt­tert oder mit Faser­pelz gepol­stert. Die Pro­duk­te sind mit Maschen, Bän­dern und Stick­ereien verziert, jedes ist ein Unikat, auch wenn zwei aus dem­sel­ben Brautk­leid geschnei­dert wur­den. «Wir wür­den nicht der­massen ‹gänggele›, wenn es uns nicht selb­st berühren würde», erk­lärt Ursi­na Trox­ler mit Bezug auf diese liebevollen Details.

Die besten Nähken­nt­nisse hat Acher­mann, gel­ernte Bäck­erin-Kon­di­torin. «Geht nicht, gibt’s nicht», lautet ihr Cre­do. «Ich ver­suche, mit dem Stoff, den das Kleid bietet, zu spie­len», sagt sie. Was es für die Beiset­zung der bisweilen winzig kleinen Kör­p­er braucht, wis­sen sie von zwei Bestat­terin­nen: Die Bet­tli und Cocoons müssen unten ver­schliess­bar sein, damit das Kind nicht her­aus­fällt. «Fes­ter Tüll gibt den Bet­tli Sta­bil­ität», sagt Acher­mann.

Kaum Werbung nötig

Ges­tartet ist das Pro­jekt 2017, inzwis­chen sind die drei Frauen als Vere­in organ­isiert. Wer­bung ist offen­bar kaum nötig. Einige Hebam­men, Spitäler und Bestat­tung­sun­ternehmen wis­sen von ihrem Ange­bot. Jew­eils im Früh­ling und im Herb­st machen sie über Face­book einen Aufruf für neue Brautk­lei­der. So kämen pro Jahr jew­eils rund 50 Klei­der zusam­men. Aus einem Brautk­leid erstellt das Team zwei bis drei Kinderklei­d­chen, Bet­tli oder Cocoons, etwa 120 Teile pro Jahr.

Genäht wird in der je eige­nen Stube, ein Ate­lier haben die Frauen nicht. Alle zwei Monate tre­f­fen sich die drei zu einem Aus­tausch über Näh­schwierigkeit­en. «Wir kom­men kaum nach mit Nähen», sagt Trox­ler, die daher eine Warteliste für die Annahme von Brautk­lei­dern führt. Gelagert wer­den diese in einem Raum ihrer Eltern. «Für die Spenderin­nen ist die neue Ver­wen­dung ihrer Klei­der stim­mig: Ein Kleid der Liebe für Kinder der Liebe», sagt Acher­mann. Wenn eine Anfrage für ein Engel­skleid via Kon­tak­t­for­mu­lar auf der Web­site der drei (www.engelskleider.ch) hereinkommt, dann fährt eine von ihnen per­sön­lich zu den betrof­fe­nen Eltern und bringt eine Auswahlbox mit. Geliefert wird in der Regel inner­halb eines hal­ben Tages, schweizweit.

Um Gotteslohn

Die Engel­sklei­der sind eben­so kosten­los wie ihre Liefer­ung. «Wir bekom­men viele Spenden», sagt Trox­ler. Nicht sel­ten werde einem Brautk­leid ein Geld­schein beigelegt, an Hochzeit­en und Beerdi­gun­gen wür­den manch­mal Kollek­ten für sie aufgenom­men. Mit dem Geld wer­den die Unkosten für die Box­en gedeckt und Zusatz­ma­te­r­i­al wie Maschen, Knöpfe oder Bän­der gekauft.

Immer wieder erhal­ten die drei Frauen auch Briefe, in denen Spender und Empfänger sich bedanken. «Ein­mal schrieb eine Spenderin, sie habe fünf Kinder früh ver­loren. Es wäre für sie sehr wertvoll, wenn ihr Kleid einem anderen Engel­skind zugute käme», erzählt Trox­ler. «Das sind schwierige Momente», fügt Acher­mann an. «Da frage ich mich: Ist das wirk­lich fair?» – «Man wird demütig», sagt ihre Kol­le­gin und erwäh­nt ihre eigene, «wun­der­bare Tochter». Gle­ichzeit­ig, sagt Acher­mann, werde ihnen bewusst: «Wir machen das Richtige, wenn wir anderen in solch schwieri­gen Momenten ein klein wenig Licht brin­gen kön­nen.»

Christian Breitschmid
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