Doro­thee Söl­le – eine Freun­din Gottes

Doro­thee Söl­le – eine Freun­din Gottes

  • Am 27. April 2003 ist Doro­thee Söl­le gestor­ben. Sie war Theo­lo­gin, Dich­te­rin, Mysti­ke­rin und Aktivistin.
  • Für sie konn­te es kei­ne Theo­lo­gie «jen­seits von Ausch­witz» geben und kei­ne, die nicht all­ge­mein ver­ständ­lich ist.
  • Dolo­res Zoé Bert­schin­ger, Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­le­rin und Buch­au­to­rin zur femi­ni­sti­schen Theo­lo­gie der Schweiz, zeich­net den Lebens­weg der Jahr­hun­dert­theo­lo­gin nach.

Poli­ti­sche Theo­lo­gie und Öku­me­ne, Dich­tung und Poe­sie, Frau­en- und Frie­dens­be­we­gung, Öko­lo­gie und Anti-Atom­kraft-Bewe­gung – wenn man sich Doro­thee Söl­le nähern will, begeg­net man gros­sen Wor­ten. Sie sei eine Grenz­gän­ge­rin gewe­sen, eine Mysti­ke­rin, eine Pro­phe­tin gar. Im Gegen­satz zu die­sen gros­sen Wor­ten wirkt Doro­thee Söl­le auf Fotos eher klein, mit einem seh­ni­gen Kör­per, zart und zäh zugleich. Sicher ist: Sie hat ein erfah­rungs­rei­ches Leben geführt zwi­schen Kathe­der, Kan­zel, Küche und Kundgebungen.

Auf­ge­wach­sen in einer «post-christ­li­chen» Familie

Doro­thee Nip­per­dey wur­de 1929 als Toch­ter von Hil­de­gard und Hans Carl Nip­per­dey in das geho­be­ne Bür­ger­tum Kölns hin­ein­ge­bo­ren. Sie hat­te fünf Geschwi­ster, ihre Mut­ter war Erzie­he­rin, ihr Vater Pro­fes­sor für Arbeits­recht. Sie sei in einer «post-christ­li­chen» Fami­lie auf­ge­wach­sen, so Söl­le selbst, das Chri­sten­tum sei lang­sam in ihr gewach­sen. Ihre Jugend­jah­re waren vom Natio­nal­so­zia­lis­mus geprägt. Sie hing der Nazi-Ideo­lo­gie zwar nicht an, hin­ter­frag­te sie aber auch nicht. In ihrer Auto­bio­gra­phie hielt sie spä­ter ent­setzt fest, dass sie in ihrem jugend­li­chen Tage­buch nur All­täg­li­ches, Bana­les notiert habe, aber nichts von den Erschüt­te­run­gen, den Zwän­gen jener Jah­re. Das Ent­set­zen über das eige­ne Unver­mö­gen, die Grau­sam­keit des Natio­nal­so­zia­lis­mus zu erken­nen, soll­te Söl­les «Theo­lo­gie nach Ausch­witz» nach­hal­tig prägen.

Kin­der und Karriere

Ermu­tigt von ihrer ehe­ma­li­gen Reli­gi­ons­leh­re­rin Marie Veit, stu­dier­te Söl­le ab 1951 in Göt­tin­gen Ger­ma­ni­stik und Theo­lo­gie. 1954 hei­ra­te­te sie den Künst­ler Diet­rich Söl­le, die Ehe soll­te zehn Jah­re dau­ern. Zwi­schen 1954 und 1961 gebar Söl­le die Kin­der Mar­tin, Michae­la und Caro­li­ne und arbei­te­te haupt­säch­lich als Leh­re­rin. Ihre aka­de­mi­sche Kar­rie­re ver­nach­läs­sig­te sie nicht: 1959 pro­mo­vier­te sie in Lite­ra­tur­wis­sen­schaft und war fort­an an ver­schie­de­nen Uni­ver­si­tä­ten als Lehr­be­auf­trag­te tätigt. Anfang der 1960er-Jah­re ver­fass­te sie erste jour­na­li­sti­sche Bei­trä­ge und ihre öffent­li­che Kar­rie­re nahm lang­sam Fahrt auf. In die­ser Zeit ent­stan­den für Söl­le bedeut­sa­me Freund­schaf­ten wie jene mit der femi­ni­sti­schen Theo­lo­gin Lui­se Schot­troff oder dem Schrift­stel­ler Hein­rich Böll.

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Poli­ti­sche Nachtgebete

Gros­sen Anteil nahm Söl­le am Viet­nam­krieg. Erschüt­tert von der grau­sa­men Tet-Offen­si­ve der US-Trup­pen in Viet­nam 1968 fei­er­te sie zusam­men mit dem Öku­me­ni­schen Arbeits­kreis Köln, zu dem auch Marie Veit, Hein­rich Böll sowie der Bene­dik­ti­ner­pa­ter Ful­bert Stef­fen­sky gehör­ten, einen poli­ti­schen Got­tes­dienst. Da die Fei­er auf 23 Uhr ange­setzt war, wur­de sie Poli­ti­sches Nacht­ge­bet genannt. Es war ein ein­schnei­den­des Erleb­nis für Söl­le. Da Kar­di­nal Frings eine Wei­ter­füh­rung der Nacht­ge­be­te in den katho­li­schen Kir­chen Kölns unter­sag­te, wichen die Nacht­ge­bet­ler auf die evan­ge­li­sche Anto­ni­ter­kir­che aus. Beim ersten poli­ti­schen Nacht­ge­bet dort kamen mehr als tau­send Men­schen zusam­men! Fort­an fan­den sie monat­lich statt und the­ma­ti­sier­ten etwa auch die auto­ri­tä­ren Struk­tu­ren in der Kir­che, die Dis­kri­mi­nie­rung der Frau­en, Ent­wick­lungs­hil­fe, Straf­voll­zug oder die DDR. Vie­le Mit­glie­der der Kir­che emp­fan­den die­se Ver­knüp­fung von Chri­sten­tum und Poli­tik als skan­da­lös, aber der monat­li­che Zustrom an Teil­neh­men­den gab den Nacht­ge­bet­lern recht.

Kein Lehr­stuhl in Deutschland

1969 hei­ra­te­te Söl­le Ful­bert Stef­fen­sky, 1970 brach­te sie ihre gemein­sa­me Toch­ter zur Welt. Kurz dar­auf habi­li­tier­te Söl­le sich mit einer Arbeit über das Ver­hält­nis von Theo­lo­gie und Dich­tung. Als Mut­ter von vier Kin­dern ging Söl­le also kon­se­quent den aka­de­mi­schen Weg. Trotz­dem wur­de ihr ein Lehr­stuhl an einer deut­schen Uni­ver­si­tät ein Leben lang ver­wehrt, erst 1994 erhielt sie die Ehren­pro­fes­sur von der Uni­ver­si­tät Ham­burg. Zwi­schen 1975 und 1987 ver­brach­te sie jeweils sechs Mona­te pro Jahr am Uni­on Theo­lo­gi­cal Semi­na­ry in New York City, wo sie eine Pro­fes­sur für Syste­ma­ti­sche Theo­lo­gie inne­hat­te. Ihre Poli­ti­sche Theo­lo­gie stand in Ver­bin­dung mit der Befrei­ungs­theo­lo­gie in Nord- und Latein­ame­ri­ka, eben­so wie mit der femi­ni­sti­schen Theo­lo­gie und der Ökotheologie.

Theo­lo­gie und Politik

Trotz ihrer Bekannt­heit in der aka­de­mi­schen Welt gab sich Söl­le jedoch nie damit zufrie­den, nur aka­de­mi­sche Theo­lo­gin zu sein. In ihrer «wider­stän­di­schen Lie­be zur Schöp­fung» war sie eine laut­star­ke und sicht­ba­re Akti­vi­stin gegen Auf­rü­stung, Atom­ener­gie und Krieg und wur­de wegen Teil­nah­me an Pro­test­kund­ge­bun­gen auch wegen ver­such­ter Nöti­gung ver­ur­teilt. Aber nicht nur wegen ihres Akti­vis­mus war Söl­les Theo­lo­gie poli­tisch, son­dern auch, weil sie sie direkt mit der Erfah­rung des Natio­nal­so­zia­lis­mus und den Mor­den in Ausch­witz verband.

«Wo war Gott in Ausschwitz?»

Für sie konn­te es kei­ne Theo­lo­gie «jen­seits von Aus­schwitz» geben. Sie frag­te sich: «Wo war Gott in Ausch­witz?» Wenn er all­mäch­tig war, war­um hat­te er die Depor­ta­ti­ons­zü­ge nicht ange­hal­ten? Söl­le fand für sich nach lan­ger Zeit eine Ant­wort auf die­se Fra­ge: Gott war wäh­rend Aus­schwitz sehr, sehr klein, er hat­te fast kei­ne Freun­din­nen und Freun­de in Deutsch­land. Denn, so schluss­fol­ger­te Söl­le im Anschluss an die Mysti­ke­rin The­re­sa von Ávila: Damit Gott auf Erden wal­ten konn­te, brauch­te er die Men­schen als Freun­de, er war ange­wie­sen auf deren Hän­de, um als gerech­ter Gott in der Welt zu wir­ken. Mit die­sen Über­le­gun­gen rüt­tel­te Söl­le am dama­li­gen theo­lo­gi­schen Selbst­ver­ständ­nis, die Men­schen sei­en auf­ge­ho­ben und getrö­stet bei einem Gott, der plan­voll die Welt regiert und über Leben und Tod ent­schei­det. Söl­le ging es dar­um, nicht Gott ver­ant­wort­lich zu machen, wo Men­schen die Han­deln­den und Täter waren.

Gott in den Menschen

Ein Leben lang dach­te Söl­le über Gott «in uns» und nicht einen Gott «über uns» nach. Sie fand ihn in der Lie­be und in den gelun­ge­nen Bezie­hun­gen zwi­schen den Men­schen. Die­se Bezie­hun­gen und das Zusam­men­sein mit Men­schen pfleg­te sie neben ihrem poli­ti­schen Han­deln auch in ihrer Intel­lek­tua­li­tät: das Gespräch war ihre bevor­zug­te Denk­form. Sie woll­te eine Theo­lo­gie in all­ge­mein ver­ständ­li­cher Spra­che spre­chen. Ihre Tex­te han­del­ten des­halb stets von den aktu­el­len Lebens­be­din­gun­gen und ‑fra­gen der Men­schen, nicht von theo­lo­gi­schen Lehr­mei­nun­gen. Mit enor­mer Wort­macht pran­ger­te sie Armut, Spe­ku­la­ti­on und Kon­su­mis­mus an, sie fand aber auch zar­te Wor­te für Zwei­fel, Hadern und Wider­sprü­che. Das Gedicht war die ihre bevor­zug­te Form, Schmerz und Erschüt­te­rung, aber auch Wün­sche und Hoff­nun­gen kund­zu­tun. Hier zeigt sich die Mysti­ke­rin und Poe­tin Doro­thee Söl­le, für die beten und dich­ten syn­onym waren. Bei aller Wut und Ver­zweif­lung beschrei­ben Weg­ge­fähr­tin­nen Söl­le als eine, die in den Gedich­ten, im Spiel, in den Lie­dern und in den Got­tes­dien­sten zuhau­se war.

Söl­le starb im April 2003 im Alter von 73 Jah­ren an einem Herz­in­farkt. Ihr Ver­mächt­nis ist, dass sie sich erlaub­te, nicht nur die Eine son­dern Vie­le zu sein: für From­me war sie die Poli­ti­sche, für Poli­ti­sche die From­me, für Bischö­fe die Kir­chen­stö­re­rin und für die Ent­kirch­lich­ten die Kir­chen­lie­ben­de. Oder, wie es ihre Freun­din Li Hen­gart­ner kürz­lich an einer Gedenk­ver­an­stal­tung sag­te: Doro­thee Söl­le war eine Frau, die mit sich selbst im Wider­spruch leb­te – und sie war eine Frau, die das Stau­nen nie verlernte.

Dolo­res Zoé Bert­schin­ger ist Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­le­rin in Mün­chen und Zürich. Sie arbei­tet zu Reli­gi­ons- und Frau­en­ge­schich­te sowie zu Bud­dhis­mus und Bild­wis­sen­schaft. Zu Femi­ni­sti­scher Theo­lo­gie in der Schweiz ist von ihr und Eve­ly­ne Zins­s­tag das Buch «Auf­bruch ist eines, und Wei­ter­ge­hen ist etwas ande­res» (2020) im eFeF-Ver­lag erschie­nen.


https://www.horizonte-aargau.ch/hat-die-klimakrise-eine-religion/

Eva Meienberg
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