Beten, feiern, erzählen
Bild: © Pia Neuenschwander

Beten, feiern, erzählen

Wie Eltern religiöse Geburtshilfe leisten

Eine Muslima, ein freikirchlicher Christ, eine Alevitin und der christliche Vater einer jüdischen Tochter berichten, wie sie ihren Kindern den Glauben weitergeben und was sie selbst auf ihrem religiösen Lebensweg entscheidend geprägt hat.


Özlem, Benjamin, Nadire und Christoph: Ihr seid alle stark in eurer Religion verwurzelt. Welche Vorbilder oder Ereignisse haben euch religiös geprägt?

Özlem Duvar­ci:
Als meine Tochter geboren wurde, kam meine Jugend­fre­undin zu Besuch, und wir hörten im Hin­ter­grund alevi­tis­che Musik. Plöt­zlich stand meine Fre­undin auf und begann sich zu drehen. Dabei vollführte sie die typ­is­chen Gesten, die man beim Semah macht. Dieser Gebet­stanz ist das wichtig­ste Rit­u­al der Ale­viten. Als ich das sah, kamen mir auf ein­mal die Trä­nen. Ich wis­chte sie jedoch schnell weg, weil ich mir nicht zugeste­hen wollte, in diesen Zus­tand zu ger­at­en, in dem man keine Kon­trolle mehr über sich selb­st hat. Das war meine erste mys­tis­che Erfahrung.

Ben­jamin Bau­mann:
Meine christliche Prä­gung begann in mein­er Kind­heit in Südameri­ka. Ich wurde in Peru geboren und ver­brachte die ersten sechs Leben­s­jahre im Ama­zonas­ge­bi­et. Meine Eltern waren dort in einem mis­sion­ar­ischen Hil­f­swerk tätig, sie haben mir den Glauben von Anfang an prak­tisch vorgelebt. Wie sie ihre tiefe und ver­trauensvolle Beziehung zum Vater im Him­mel gelebt haben und es noch heute tun, hat mich sehr geprägt. Ich selb­st habe schon in der Kind­heit den heili­gen Geist gespürt, fühlte mich von ihm geführt und durfte viele Wun­der erleben.

Nadire Mustafi:
Den ersten Kon­takt mit dem Glauben hat­te ich vor allem durch meine Mut­ter. Sie betete und fastete in ein­er lock­eren Art und Weise, die Ein­druck hin­ter­liess. Als Achtjährige kam ich in einem kleinen Dorf in Niederöster­re­ich an und kan­nte die Sprache nicht. Dass ich fremd war, hat man mich teils pos­i­tiv, teils neg­a­tiv spüren lassen, Let­zteres vor allem in der Schule. Ich war über­fordert damit, dass das Religiöse plöt­zlich so sehr im Vorder­grund stand. Es kamen bei mir viele Fra­gen auf. Zu Hause bekam ich Antworten, die ver­trauens­bildend waren, mir aber nicht genügten. Als ich im Jugen­dal­ter war, the­ma­tisierte mein dama­liger Reli­gion­slehrer die islamis­che Reli­gion. Für mich war es zum ersten Mal, dass ich dies im öffentlichen Kon­text erlebte. Dabei ging für mich eine Welt auf, weil er Antworten lieferte, die ich auch nach­le­sen kon­nte. So kam es, dass ich später islamis­che Reli­gion­späd­a­gogik studierte. Ich lernte auch ver­schiedene Per­so­n­en ken­nen, deren Art, den Glauben zu leben, mich anzog und inter­essierte. Es gab in meinem Leben auch spir­ituelle Erleb­nisse, die mich tief berührten.

Nadire Mustafi

Die Mus­li­ma stammt aus Nord­maze­donien, ist ver­heiratet und Mut­ter zweier Jugendlich­er. Sie ist Hochschul­dozentin für das Fach Ethik, Reli­gio­nen und Gemein­schaft in St. Gallen.

Nadire Mustafi
Bild: © Pia Neuen­schwan­der

Christoph Knoch:
Ich bin in einem Pfar­rhaus aufgewach­sen. Die religiöse Prax­is und das Ein­tauchen in die bib­lis­chen Geschicht­en waren selb­stver­ständlich. Während mein­er Schulzeit standen Natur­wis­senschaft und Tech­nik aber mehr im Vorder­grund als die The­olo­gie, für die ich mich dann entsch­ied. Das The­olo­gi­es­tudi­um in Tübin­gen, Jerusalem und Bern hat mich geprägt. Ein wichtiges Vor­bild wurde für mich der Basler Öku­meniker Lukas Vis­ch­er. Er ver­stand es, die Kon­fes­sio­nen miteinan­der ins Gespräch zu brin­gen. Lukas Vis­ch­er war es, der mir zum ersten Mal die Teil­nahme an ein­er inter­na­tionalen inter­re­ligiösen Tagung ermöglichte. Er ver­mit­telte zudem, dass meine jüdis­che Fre­undin eben­falls mitkom­men durfte. Inzwis­chen sind sie und ich beina­he vierzig Jahre ver­heiratet.

Wie wurdet ihr von Dritten unterwiesen, und welche Rolle spielten Institutionen auf eurem religiösen Bildungsweg?

Mustafi:
Das Studi­um stimmte mich pos­i­tiv gegenüber meinen vie­len Fra­gen und Wis­senslück­en, und es motivierte mich, aktiv in der öster­re­ichis­chen Glaubens­ge­mein­schaft der Mus­lime mitzu­machen. Zwis­chen dem, was im Koran, der heili­gen Schrift des Islam, ste­ht, und dem, was ich mit den Mit­studieren­den reflek­tierte, sowie dem, was in der Glaubens­ge­mein­schaft prak­tiziert wurde, spürte ich Unter­schiede. Gle­ichzeit­ig erlangte ich die Sicher­heit, sagen zu kön­nen: Nein, das kön­nten wir doch anders machen. Das hat mir den Blick geöffnet für unseren Umgang mit insti­tu­tioneller Reli­giosität. Es fol­gten Phasen, in denen ich mich zurück­zog, und solche, in denen ich mich wieder mehr ein­brachte. Diese Zeit hat meine Wahrnehmung von Reli­gion geschärft, weil ich klare Vorstel­lun­gen hat­te, was ich sein will und was nicht.

Duvar­ci:
Wir Ale­viten haben keine Insti­tu­tio­nen wie die anderen Reli­gion­s­ge­mein­schaften. Da sie sich immer vor mis­sion­ieren­den anderen Reli­gio­nen und Gross­mächt­en schützen mussten, haben sie sich in schw­er zugänglichen Dör­fern in den Bergen ver­steckt. Ich finde es wichtig, dass Alevitin­nen und Ale­viten, die ihren Herkun­ft­sort ver­lassen mussten und nicht mehr in Dor­fge­mein­schaften leben, auch in der Fremde einen Ort haben, an dem sie sich sich­er fühlen und ihre Rit­uale in der Gemein­schaft pfle­gen kön­nen. Deshalb gefällt mir die Idee des Haus­es der Reli­gio­nen in Bern, wo alle ihren Glauben leben kön­nen, sehr gut. Mit meinem Engage­ment in dieser Insti­tu­tion habe ich das gefun­den, was ich seit mein­er Jugend gesucht habe. Um Franzö­sisch zu ler­nen, schloss ich mich als Teenag­er ein­er katholis­chen Jugend­gruppe und später ein­er christlichen Studieren­den­gruppe an. Ich blieb jahre­lang dort, weil es mir gefiel und ich dort Fre­unde fand. Am Anfang habe ich immer gesagt, dass ich nicht gläu­big bin. Aber dann habe ich gemerkt, dass ich es doch bin, allerd­ings nicht so wie sie. Ich fand es schön, dass mir nie gesagt wurde, wie ich mir das Göt­tliche vorzustellen habe, oder ich solle dies und jenes glauben und tun. So ist es auch im Ale­vi­ten­tum.

Özlem Duvar­ci

Die kur­dis­chstäm­mige Alevitin ist ​Philosophin und Reli­gion­swis­senschaft­lerin. Mit ihrem evan­ge­lisch-reformierten Mann hat sie zwei schulpflichtige Kinder.

Özlem Duvarci
Bild: © Pia Neuen­schwan­der

Knoch:
Ich finde es span­nend am Ale­vi­ten­tum, dass es keine struk­turi­erte Unter­weisung gibt. Im Chris­ten­tum ist es hinge­gen eine alte Tra­di­tion, Kinder zu unter­weisen und mit ihnen über Gottes­bilder zu sprechen.

Duvar­ci:
Ich habe zu Hause gar nichts mit­bekom­men. Mein Vater war Kom­mu­nist und gegen alles Religiöse. Doch ich suchte etwas. Ich studierte Philoso­phie, franzö­sis­che Lit­er­atur und Kun­st­geschichte, doch geblieben ist die Reli­gion­swis­senschaft. Das bedeutet, dass es mein The­ma war. Am Ende fand ich also, was ich gesucht hat­te.

Bau­mann:
Meine Eltern hat­ten das Ziel, uns Kinder nicht nur the­o­retisch im christlichen Glauben zu prä­gen. In der Freien Evan­ge­lis­chen Gemeinde, die meine Eltern später in der Schweiz leit­eten, war die per­sön­liche Beziehung zu Gott das Haupt­the­ma. Es ging darum, dass Gott jeden einzel­nen befähigt, ein Nach­fol­ger von Jesus Chris­tus zu sein.

Wie gebt ihr euren Glauben an eure Kinder weiter?

Duvar­ci:
Mit Ver­trauen. Wir Ale­viten geben unseren Glauben ja sowieso jeden Tag weit­er – schlicht mit unserem Dasein, und auch in unseren Rit­ualen, unser­er Musik und dem Gebet­stanz. Dies geschieht nicht aktiv. Wie bei mein­er Fam­i­lie, ich habe es bere­its erwäh­nt. Die Gemein­schaft hat mir den Glauben somit codiert ver­mit­telt. Wenn man die Spir­i­tu­al­ität sucht, find­et man sie. Wenn meine Kinder den Glauben brauchen, wer­den sie sich also schon zurechtfind­en.

Knoch:
Das gemein­same Aben­dessen am Fre­itag zu Beginn des Sch­ab­bats, des jüdis­chen Ruhetags, ist für uns als jüdisch-christliche Fam­i­lie ein wichtiger Fix­punkt in der Woche. Kerzen anzün­den, Segenssprüche über Wein und Brot und gemein­sames Essen gehören dazu. Das haben wir unser­er Tochter weit­ergegeben. Für mich war klar, dass die jüdis­che Regel gilt: Kinder ein­er jüdis­chen Mut­ter sind jüdisch. So hat unsere Tochter den Reli­gion­sun­ter­richt der Jüdis­chen Gemeinde Bern besucht und mit zwölf Jahren ihre Bat Mizwa, die religiöse Mündigkeit im Juden­tum, gefeiert. Der dama­lige Bern­er Rab­bin­er hat mich so weit wie möglich mitein­be­zo­gen. Nur ein­mal fiel es mir schw­er, Vater ein­er jüdis­chen Tochter zu sein: Zu gerne hätte ich sie in mein­er Kon­fir­ma­tion­sklasse unter­richtet. Dass sie sich heute in der jüdis­chen Gemein­schaft und im Haus der Reli­gio­nen engagiert, freut mich. Offen­sichtlich ist es uns gelun­gen, ihr ein pos­i­tives Bild von Reli­gion und religiös­er Prax­is weit­erzugeben.

Duvar­ci:
Meine Kinder haben zwei Sys­teme, aus denen sie auswählen kön­nen: das alevi­tis­che von mein­er Seite und das reformiert-christliche von der Seite meines Mannes. Das finde ich super. Sie kön­nen sich holen, was sie brauchen, so wie ich es gemacht habe.

Mustafi:
Ich merke bei meinen Kindern wie auch meinen jun­gen Studieren­den, dass sie mit der Vielfalt über­fordert sind. Darum halte ich jegliche Form von religiös­er Bil­dung für grund­sät­zlich wichtig. Nicht, damit aus den jun­gen Men­schen prak­tizierende Gläu­bige wer­den, son­dern, dass sie neben wis­senschaftlichen und anderen Konzepten auch dieses Konzept der Wel­terk­lärung ken­nen. Als meine Kinder noch klein waren, habe ich ver­sucht, ihr Wis­sen aufzubauen, indem ich etwa gesagt habe: «Wir beten fünf­mal.» Wenn Fra­gen kamen, warum wir das tun, habe ich diese beant­wortet. Als die Kinder älter wur­den, fin­gen sie an zu hin­ter­fra­gen. Ich habe Momente der Abgren­zung zur Glauben­sprax­is gespürt, aber irgend­wann gab es auch eine Phase, wo ich für meine Tochter zu lib­er­al war. Doch dann rud­erte sie wieder zurück und sagte, eigentlich gehe es nicht darum, dass die Mama es so sagt, son­dern darum, dass der Men­sch mit seinem freien Willen und sein­er Ver­ant­wor­tung bei Gott im Mit­telpunkt des Geschehens ste­ht.

Bau­mann:
Das Ziel von mir und mein­er Frau ist es, authen­tisch vorzuleben. Ich möchte meinen Kindern keine Dis­tanz zum Vater im Him­mel lehren, son­dern, dass er immer für sie da ist, wenn er einen Platz in ihrem Herzen bekommt. Du betest nicht drei Kilo­me­ter nach oben. Stelle dir stattdessen vor, dass dein Vater im Him­mel mit dir unter­wegs ist. Gehe mit ihm wie mit einem Fre­und um, spüre ihn und gehe in diese nahe Beziehung. Wenn ich etwa mal nicht weit­er­weiss und mich nicht entschei­den kann, dann nehme ich die Kinder zu mir und sage ihnen, in welch­er Sit­u­a­tion ich ste­he, und frage: Was kön­nen wir tun? Und dann bitte ich vor ihnen Gott um seine Weisheit. Die Erfahrung, wie er mir dann neue Sichtweisen aufzeigt und mich mit lieben­den Augen auf eine Sit­u­a­tion oder Per­son blick­en lässt, möchte ich meinen Kindern mit­geben.

Ben­jamin Bau­mann

​Der freikirch­liche Christ ist ver­heiratet und Vater zweier Kinder im Vorschu­lal­ter. Der gel­ernte Elek­troin­stal­la­teur ist als Coach für Per­sön­lichkeit­sen­twick­lung und Haus­mann tätig.

Benjamin Baumann
Bild: © Pia Neuen­schwan­der

Knoch:
Und wie geht ihr damit um, dass ihr alle überzeugt seid, dass Reli­gion etwas Hil­fre­ich­es ist, die Gesellschaft aber oft sagt, dass es das nicht braucht?

Bau­mann:
Der Glaube gibt eine innere Stärke und Halt. Mir gibt der Glaube an Jesus Chris­tus eine neue Iden­tität, die unab­hängig ist von mein­er Leis­tung und sich auch nicht über die Anerken­nung von aussen definiert. Ich denke, dies lässt mich von innen her­aus leucht­en. Ich möchte meine Werte authen­tisch vor­leben und gle­ichzeit­ig offen sein für meine Mit­men­schen. Jed­er hat den freien Willen, das aufzunehmen oder nicht.

Mustafi:
Das sehe ich auch so. Bei alle­dem ist es nicht mein Wun­sch, dass die Leute gläu­biger wer­den, son­dern, dass sie Reli­gio­nen über­haupt zulassen. Gegen­wär­tig wird alles, was mit Reli­gio­nen zu tun hat, als rück­wärts­ge­wandt wahrgenom­men, fast so, als wären religiöse Men­schen nicht ganz dicht. Begrün­det wird das damit, dass die Welt fortschrit­tlich sei, man alles hin­ter­fra­gen und Vielfalt zulassen müsse. Warum dann aber nicht auch die Reli­gio­nen zulassen? Oder etwa mich als deut­lich sicht­bare Mus­li­ma mit all meinen Iden­tität­saspek­ten, zu denen eben auch das Religiöse gehört?

Duvar­ci:
Für mich hat religiöse Überzeu­gung mit dem Men­schen­bild zu tun. Für mich ist der Men­sch grund­sät­zlich gut, darum kann ich darauf ver­trauen, dass er seine Spir­i­tu­al­ität find­et, wenn er sie braucht. Wenn es nicht so wäre und ich ihm qua­si «von oben herab» beib­rin­gen müsste, was gut für ihn ist, würde es falsch laufen. Ich finde, wir soll­ten den anderen nichts sagen, es han­delt sich schliesslich um unsere eige­nen Vorstel­lun­gen. Wer sind wir eigentlich, dass wir den anderen sagen soll­ten, was sie zu tun haben?

Knoch:
Mich beschäftigt noch ein Gedanke: Meine Tochter ist auf dem religiösen Gebi­et sehr engagiert. Aber was würde ich tun, wenn sie sagen würde, Reli­gion sei ihr egal? Ich weiss es nicht.

Christoph Knoch

Der reformierte Pfar­rer im Ruh­e­s­tand ist Vizepräsi­dent der Inter­re­ligiösen Arbeits­ge­mein­schaft in der Schweiz «Iras Cotis». Mit sein­er jüdis­chen Frau hat er eine erwach­sene Tochter.

Christoph Knoch
Bild: © Pia Neuen­schwan­der

Duvar­ci:
Als meine erste Tochter einein­halb Jahre alt war, ging sie rück­wärts die Rutschbahn hoch, und ich stand schwanger daneben. Da habe ich ver­standen, dass man sich für die Kinder extrem viel Mühe machen kann, aber gle­ichzeit­ig gehen sie ihren eige­nen Weg. Man muss ein­fach ver­trauen. Mir ist es wichtig, dass meine Kinder ein gutes Men­schen­bild haben und sich sel­ber eben­falls lieben, denn das tun sie durch den anderen Men­schen und die Natur, die sie umgibt. Wenn sie das spüren – darin liegt ja das Religiöse –, dann brauche ich mir keine Sor­gen zu machen.

Isabelle Berger
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