SBI: «Ein Angriff auf die Gewaltenteilung»

SBI: «Ein Angriff auf die Gewaltenteilung»

  • Am 25. Novem­ber wird wieder abges­timmt. Von allen nationalen Vor­la­gen polar­isiert die Selb­st­bes­tim­mungsini­tia­tive am meis­ten: Sie mobil­isiert neb­st der Poli­tik und den Wirtschaftsver­bän­den auch Kirchen und NGOs.
  • Während im Aar­gau die Reformierte Lan­deskirche klar gegen die Selb­st­bes­tim­mungsini­tia­tive Posi­tion bezieht, verzichtet die Römisch-Katholis­che Lan­deskirche auf eine Stel­lung­nahme.
 Für ein­mal verkehrte Welt: Im Abstim­mungskampf zur Selb­st­bes­tim­mungsini­tia­tive greift die Linke zum visuellen Zwei­hän­der. Trump neben Putin und Erdo­gan: «Die Schweiz macht nicht mit», lautet der Slo­gan zum Plakat, das die oben erwäh­n­ten Staat­führer zeigt. Die Men­schen­rechte sollen in der Schweiz nicht ger­itzt wer­den, so die Botschaft der SP. Der Selb­st­bes­tim­mungsini­tia­tive der SVP unter­stellt die SP ein ähn­lich­es Gebaren wie den Präsi­den­ten von Ameri­ka, Rus­s­land und der Türkei. Demge­genüber gibt sich die SVP ganz auf zurück­hal­tend und wirbt auf ihren Plakat­en nüchtern für ein «Ja zur direk­ten Demokratie».

Die Neuauflage der Zitterpartie «Alle gegen die SVP»

Wie schon so oft ste­ht die SVP mit ihrem Anliegen allein ein­er bere­it­en Allianz von Parteien und Wirtschaftsver­bän­den gegenüber. Und ein­mal mehr liefern sich Befür­worter und Geg­n­er einen heis­sen Schlagab­tausch unter Ein­satz enormer Ressourcen. Allein Economiesu­isse liess 2,2 Mil­lio­nen «Abstim­mungszeitun­gen» verteilen, und in den Medi­en wer­den fleis­sig Inser­ate geschal­tet. Und der Ein­satz scheint sich gelohnt zu haben: Die jüng­ste, von Schweiz­er Radio und Fernse­hen SRF beim Insti­tut GFS Bern in Auf­trag gegebene Umfrage sieht die Geg­n­er der Ini­tia­tive nun deut­lich im Vorteil.Wirtschaftsver­bände war­nen, die SVP-Ini­tia­tive bedeute «Recht­sun­sicher­heit» (der Aar­gauer FDP-Stän­der­at Philipp Müller), die Gefährdung «unser­er Sta­bil­ität und Ver­lässlichkeit» (Bun­desrätin Simon­et­ta Som­maru­ga) und wirtschaftlichen Schaden für die Export­na­tion Schweiz (Heinz Kar­rer, Präsi­dent Economiesu­isse).

Eine Frage des Umgangs mit Minderheiten

Auch viele kirch­liche Organ­i­sa­tio­nen haben sich einem Nein-Komi­tee angeschlossen. Für Bun­desrätin Simon­et­ta Som­maru­ga abso­lut nachvol­lziehbar, denn die SVP-Ini­tia­tive werfe die Frage auf, «ob wir weit­er­hin bere­it sind, die Rechte der Schwäch­sten zu schützen» (vgl. «reformiert» Nr. 11, Novem­ber 2018). Thomas Wal­li­mann-Sasa­ki, Leit­er des Zürcher Insti­tuts für Sozialethik «ethik22», meint: «Es ist eigentlich schade, dass die Abstim­mung über die geset­zliche Überwachung von Sozialver­sicherten (Anmerkung der Redak­tion: Siehe auch Begleit­text) im Wind­schat­ten des Abstim­mungskampfes zur Selb­st­bes­tim­mungsini­tia­tive läuft. Diese Vor­lage richtet sich noch viel stärk­er gegen die sozial Schwachen, für welche die Kirchen ein­treten soll­ten».

«Kein Schutz mehr für Minderheiten»

Dann jedoch kommt Thomas Wal­li­mann-Sasa­ki auf die Selb­st­bes­tim­mungsini­tia­tive zu sprechen. Zu dieser find­et der Sozialethik­er, der auch als Präsi­dent der bis­chöflichen Kom­mis­sion «Justi­tia et Pax» amtet – also dem poli­tis­chen Sprachrohr der Bis­chöfe, deut­liche Worte: «Das ist ein Angriff auf die Gewal­tenteilung in der Demokratie. Behör­den und Instanzen wür­den sys­tem­a­tisch schlecht­gemacht. Heute ist es Strass­burg, mor­gen Brüs­sel und über­mor­gen Bern.» Eine gefährliche Entwick­lung, die man vor etwas weniger als 100 Jahren in Europa schon ein­mal gese­hen habe und die sich nun in vie­len Län­dern wieder­hole.Was die Annahme der Ini­tia­tive im Einzel­nen bedeute, sei noch nicht abse­hbar, so Thomas Wal­li­mann-Sasa­ki. «Es ist aber gut möglich, dass im Extrem­fall die Rechte von Min­der­heit­en beschnit­ten wer­den.» Mit der absoluten Voranstel­lung von Schweiz­er Recht vor inter­na­tionalem Recht seien Urteile des Europäis­chen Gericht­shofs für Men­schen­rechte in der Schweiz nicht mehr bindend. Der einzelne Bürg­er habe dem­nach keine Instanz mehr, die für ihn bei «Rechtsver­let­zun­gen durch den Staat» als Autorität anerkan­nt werde. Was das bedeute, sei bis anhin schlüs­sig am Beispiel der Entschädi­gungsklage für Asbestopfer aufgezeigt wor­den.

«SVP mit taktischer Meisterleistung»

Als das spür­bar grössere Risiko erachtet der Sozialethik­er jedoch den wirtschaftlichen Schaden, den eine Annahme der Ini­tia­tive nach sich ziehen wird. «Gut möglich, dass Unternehmen ihre Pro­duk­te in Europa kün­ftig nicht mehr so ohne Weit­eres verkaufen kön­nen. Oder man wird Garantien ver­lan­gen.»Das Gefährliche aus Sicht von Thomas Wal­li­mann-Sasa­ki: «Der SVP ist in diesem Wahlkampf eine tak­tis­che Meis­ter­leis­tung gelun­gen. Vom neg­a­tiv­en Begriff der frem­den Richter haben sich die Ini­tianten mehrheitlich gelöst. Selb­st­bes­tim­mung und Direk­te Demokratie wer­den ins Feld geführt – alles pos­i­tiv beset­zte Begriffe. Und die Geg­n­er haben es in ihrer Argu­men­ta­tion deut­lich schwieriger: Um zu erk­lären, worum es geht, um die Argu­mente der Ini­tianten zu entkräften, brauchen sie stets mehrere Sätze.»Was Thomas Wal­li­mann-Sasa­ki damit meint, erk­lärt er an meinem Beispiel: Auf Plakat­en war­nen die Ini­tia­tivgeg­n­er, dass sich das Volks­begehren der SVP gegen die Men­schen­rechte richte. Dem wider­sprechen die Befür­worter. Fakt sei: «Nach Annahme der Ini­tia­tive kann die Rechtssprechung in der Schweiz nur mehr bed­ingt an den Men­schen­recht­en gemessen und entsprechend kor­rigiert wer­den. Der Unter­schied zwis­chen „zwin­gen­den“ Men­schen­recht­en und „den andern“ ist nicht so ein­fach in eine Schlagzeile zu brin­gen.» Aber so könne man im Abstim­mungskampf auf Plakat­en fast nicht argu­men­tieren. Die Geg­n­er müssten den Sachver­halt verkürzen und bieten den Befür­wortern so Angriffs­fläche.

Kirchenvertreter kämpfen auf Social Media

Reli­gions- und Kirchen­vertreter leg­en sich der­weil im Abstim­mungskampf mächtig ins Zeug und ern­ten dafür sog­ar Lob von Bun­desjus­tizmin­is­terin Simon­et­ta Som­maru­ga: «Dieses Engage­ment ist sehr wichtig», erk­lärte die Bun­desrätin gegenüber «reformiert». Neb­st den Medi­en­ver­laut­barun­gen von christlichen Hil­f­swerken wie Fas­tenopfer, HEKS und Car­i­tas, den Stel­lung­nah­men der bis­chöflichen Kom­mis­sion «Justi­tia und Pax» und zahlre­ichen Lan­deskirchen sticht auch per­sön­lich­es Engage­ment ins Auge: Auf Social Media-Kanälen engagieren sich beispiel­sweise vier ehe­ma­lige Sprecherin­nen und Sprech­er des «Wort zum Son­ntag» — darunter der Aar­gauer Mar­tin Kuse — mit kurzen Video-Beiträ­gen gegen die Selb­st­bes­tim­mungsini­tia­tive der SVP. Für Mar­tin Kuse, reformiert­er Pfar­rer in Möriken-Wildegg, ist die Europäis­che Men­schen­recht­skon­ven­tion «eine der grössten Errun­gen­schaften der Men­schheit über­haupt». Er spielt damit auf den Schutz von Benachteiligten an, der his­torisch gewach­sen und heutzu­tage ein bre­it­er Kon­sens sei. «Ihr Wort (Anmerkung der Redak­tion: Gemeint ist die Europäis­che Men­schen­recht­skon­ven­tion) hat bei vie­len Men­schen in der Schweiz Gewicht.»Die Videos, die von der Gestal­tung her an das «Wort zum Son­ntag» erin­nern, wur­den von der «Allianz der Zivilge­sellschaft» pro­duziert. Über hun­dert Organ­i­sa­tio­nen machen in dieser gegen die SVP-Ini­tia­tive mobil. Mit dabei: Die bis­chöfliche Nation­alkom­mis­sion «Justi­tia et Pax», Car­i­tas Schweiz, Fas­tenopfer, Brot für alle, der Schweiz­erische Katholis­che Frauen­bund, das Hil­f­swerk der Evan­ge­lis­chen Kirchen Schweiz HEKS, die Inter­re­ligiöse Arbeits­ge­mein­schaft in der Schweiz oder auch das Haus der Reli­gio­nen in Bern.Diesen Mon­tag erst ver­sandte die bis­chöfliche Kom­mis­sion «Justi­tia et Pax» eine Medi­en­mit­teilung, in der sie ein «Nein bei der Abstim­mung über die Selb­st­bes­tim­mungsini­tia­tive» emp­fahl. Diese beschnei­de «die sou­veräne Frei­heit aller», heisst es in der Mit­teilung. Und weit­er: «Der Schweiz­er Sou­verän, sprich die Mehrheit der Stimm­bürg­erin­nen und Stimm­bürg­er, soll bei allen Din­gen das let­zte Wort haben. Für Min­der­heit­en und Betrof­fene gäbe es im Kon­flik­t­fall keine oder nur noch eingeschränk­te Rekursmöglichkeit­en».

Aargau: Reformierte dagegen, Katholiken schweigen

Im Aar­gau emp­fiehlt die Reformierte Lan­deskirche Aar­gau die Selb­st­bes­tim­mungsini­tia­tive zur Ablehnung. Wörtlich heisst es von Seit­en des Kirchen­rates: «Wie schon für den Bun­desrat und die Mehrheit von Nation­al- und Stän­der­at ste­he es auss­er Frage, dass der Grun­drechtss­chutz der Europäis­chen Men­schen­recht­skon­ven­tion in der Schweiz weit­er­hin Gel­tung haben muss. Er ruft die Stimm­berechtigten deshalb auf, bei der Entschei­dungs­find­ung diesen eng mit den christlichen Werten und Tra­di­tio­nen verknüpften Aspek­ten beson­dere Beach­tung zu schenken und die Selb­st­bes­tim­mungsini­tia­tive abzulehnen.» und weit­er: Der Aus­druck «fremde Richter» dürfe in der Diskus­sion nicht dazu ver­wen­det wer­den, Rich­terin­nen und Richter auf inter­na­tionaler Ebene zu dif­famieren.Keine Stel­lung­nahme hinge­gen von der Römisch-Katholis­chen Lan­deskirche Aar­gau. Kirchen­rat­spräsi­dent Luc Hum­bel dazu: «Da es sich um eine nationale Abstim­mung han­delt, geben wir keine Empfehlung oder Hal­tung kund. Wir sind bei nationalen Abstim­mungen sehr zurück­hal­tend.» Auch die Aar­gauer Sek­tion des Katholis­chen Frauen­bun­des will nicht allzu offen­siv agieren. Vorge­se­hen ist ein Rund­mail an die Mit­glieder, so die Aar­gau Geschäftsstel­len­lei­t­erin Merice Rüfe­nacht gegenüber Hor­i­zonte. In diesem wird zwar auf die Posi­tion des Schweiz­erischen Katholis­chen Frauen­bun­des hingewiesen, in erster Lin­ie wolle man aber die Frauen ein­fach zum Abstim­men auf­fordern, so Merice Rüfe­nacht.

«Landeskirchen sind öffentliche Player geworden»

Auf die unter­schiedlich pointierte Hal­tung lan­deskirch­lich­er Vertre­tun­gen und kan­tonaler Frei­willigenor­gan­i­sa­tio­nen – ins­beson­dere auch die Zurück­hal­tung im Aar­gau – ange­sprochen, meint Sozialethik­er Thomas Wal­li­mann-Sasa­ki: «So ist nun ein­mal das föder­al­is­tis­che Sys­tem. Mit diesen Unter­schieden muss man leben. Sie gehören zu uns.» Die unter­schiedlich stark aus­geprägten Hal­tun­gen deuteten wom­öglich aber auch auf Span­nun­gen inner­halb der Führungs­gremien hin, denn inner­halb der Kirche bilde sich jew­eils das ganze gesellschaftliche Spek­trum von rechts bis links ab. Ger­ade in ländlichen Kan­to­nen wie dem Aar­gau geniesse die SVP viel Rück­halt, was auch Auswirkun­gen auf die Sozialgestalt der Kirche habe.Dass sich immer öfter die Frage stellt, welche Posi­tion die Lan­deskirchen zu poli­tis­chen Abstim­mungen ein­nehmen, zeige aber, dassp in der Schweiz die staatskirchen­rechtlichen Kör­per­schaften immer mehr zu öffentlichen Play­ern gewor­den sind. Die Zurück­hal­tung bei Abstim­mungsempfehlun­gen deute laut Thomas Wal­li­mann-Sasa­ki möglicher­weise auch darauf hin, dass sich die Führungs­gremien einzel­ner Lan­deskirchen noch zu wenig mit dieser neuen Rolle auseinan­derge­set­zt haben.  
Andreas C. Müller
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