Die katholische Kirche der Schweiz braucht neue Formen

Angesichts des immer grösseren Man­gels an The­olo­gen in der Schweiz regt der Leit­er des Schweiz­erischen Pas­toral­sozi­ol­o­gis­chen Insti­tuts SPI in St. Gallen, Arnd Bünker, ein Umdenken in der katholis­chen Kirche der Schweiz an. Die Kirche muss sich eingeste­hen, dass sie nicht mehr flächen­deck­end für jede Pfar­rei einen haup­tamtlichen Seel­sorg­er stellen kann. Sie soll ver­mehrt auf «Teams von Getauften» set­zen, die von «Haup­tamtlichen» begleit­et wer­den. So kön­nte die Kirche vielle­icht auch bess­er die Jugend für die Mitar­beit in den Pfar­reien inter­essieren, meint Bünker im Inter­view.

In den ver­gan­genen Jahren kamen viele The­olo­gen aus Deutsch­land in die Schweiz, um den Man­gel an Seel­sorg­ern zu über­brück­en. Wie sieht es heute aus?
Arnd Bünker: In Deutsch­land verze­ich­nen die The­ol­o­gis­chen Fakultäten einen Zulauf. Das hat ver­schiedene Gründe. In Deutsch­land gibt es das Fach Reli­gion, das als Schul­fach oblig­a­torisch ange­boten wird. Für viele Lehramt­skan­di­dat­en, also ange­hende Lehrer, ist das Fach Reli­gion sehr attrak­tiv. Aber die Zahl der­jeni­gen, die sich für einen Beruf inner­halb der katholis­chen Kirche entschei­den, ist sehr stark gesunken. In den 80er Jahren hat­ten viele Diöze­sen einen Über­hang an The­olo­gen, von denen viele in die Schweiz kamen. Heute kön­nen in Deutsch­land nur noch ein oder zwei Bistümer ihren Bedarf an The­olo­gen aus eigen­er Kraft deck­en.

Wie sieht es in der Schweiz aus?
Die Zahl der The­olo­gie-Studieren­den ist in der Schweiz ver­glichen zu früher sehr niedrig. In den let­zten Jahrzehn­ten bildete die Schweiz nie genug eigene The­olo­gen aus, um die offe­nen Stellen zu beset­zen. Jet­zt wird es noch schwieriger, weil neben der niederen Zahl der The­olo­gi­es­tudieren­den in eini­gen Bistümern die Seel­sorg­er durch­schnit­tlich ein hohes Alter haben. Die Stellen, die durch Pen­sion­ierun­gen frei wer­den, wer­den voraus­sichtlich nicht mehr alle beset­zt wer­den kön­nen. Hier ste­hen die Bistümer vor der Her­aus­forderung, die beste­hen­den Struk­turen grund­sät­zlich auf den Prüf­s­tand zu stellen.

Wann wird der Eng­pass in der Seel­sorge kom­men, der nicht mehr über­brückt wer­den kann?
Der Eng­pass hängt davon ab, ob man sich darauf fix­iert, die beste­hen­den Struk­turen fortzuführen. Die Kirche stösst dann auf einen Eng­pass, wenn sie sagt, es müsse alles so bleiben, wie es ist. Wir beobacht­en jedoch seit Jahrzehn­ten, dass wir nicht genug Per­son­al haben. Wir müssen dies zum Anlass nehmen, die Struk­turen kri­tis­ch­er anzuse­hen, die wir im Augen­blick haben. Diese sind offen­sichtlich nicht so überzeu­gend, dass junge Men­schen sagen: Ich habe Lust, The­olo­gie zu studieren. In fast allen Bistümern zeich­net sich aber ab, dass sich diese beim Organ­isieren der Seel­sorge bere­its in einem grossen Struk­tur­wan­del befind­en.

Was heisst das konkret? Wer­den ver­mehrt Psy­cholo­gen einge­set­zt?
Nein, denn dann hät­ten wir keinen Struk­tur­wan­del, son­dern einen Per­son­al­wan­del. Die Kirche hielte mit ein­er solchen Tak­tik lediglich an den Struk­tur fest und beset­zte Stellen mit nur noch halb so gut passen­dem Per­son­al. Die Struk­tur stimmt dann aber nur noch in der Optik. Wenn etwa aus­ländis­che Priester eingestellt wer­den, ist zwar die Feier der Sakra­mente gewährleis­tet. Viele andere Bere­iche der Pfar­reiar­beit kön­nen aber manch­mal gar nicht mehr bedi­ent wer­den, wenn die kul­turellen oder sprach­lichen Bar­ri­eren viel zu hoch sind. Der Ein­satz aus­ländis­ch­er Priester kann die Kirche in der Schweiz zwar sehr bere­ich­ern – aber nicht als Lück­en­füller für Struk­turen, die aus eigen­er Kraft nicht mehr erhal­ten wer­den kön­nen.

Was heisst Struk­tur­wan­del?
Struk­tur­wan­del würde bedeuten, dass wir über­legen, wo es für haup­tamtliche Stellen the­ol­o­gis­ches Per­son­al braucht. Welche Auf­gaben sind unverzicht­bar, und wie viel Per­son­al braucht es? Welche Auf­gaben kön­nen von engagierten Frei­willi­gen oder anderen Beruf­s­grup­pen über­nom­men wer­den? Die Kirche muss sich eingeste­hen, dass sie bald nicht mehr flächen­deck­end für jede Pfar­rei einen haup­tamtlichen Seel­sor­gen­den anstellen kann, also einen Priester, Diakon oder Laienseel­sorg­er. Bei weni­gen kleinen Pfar­reien kann eine Per­son noch zwis­chen den Ein­sat­zorten wech­seln. Aber irgend­wann sind wir bei 15 Pfar­reien. Und dann geht es nicht mehr. Der Seel­sorg­er sitzt prak­tisch nur noch im Auto. Rechtzeit­ig muss man darum schauen: Welche Auf­gaben kann und soll das beste­hende Per­son­al leis­ten?

Welche Beruf­s­grup­pen kön­nen in der Kirche einge­set­zt und bezahlt wer­den?
Ich würde nicht von Beruf­s­grup­pen sprechen, son­dern von engagierten Getauften, die auf Frei­willi­gen­ba­sis tätig sind. Das Leben ein­er Pfar­rei wird heute schon vor allem von Frei­willi­gen sichergestellt. Die verbleiben­den haup­tamtlichen Seel­sorg­erin­nen und Seel­sorg­er beschränken sich hier darauf, Teams von Getauften zu begleit­en, welche die Ver­ant­wor­tung für eine Pfar­rei übernehmen. So haben die «Profis» noch Zeit für neue Pro­jek­te oder beson­dere Ange­bote. Dieses Mod­ell des Ein­satzes von Frei­willi­gen haben wir bere­its im franko­pho­nen «Jura-Pas­toral» des Bis­tums Basel. Dort beobacht­en «Veilleurs», also Wächter, was in der Pfar­rei geschieht, und acht­en darauf, wo Hil­fe geleis­tet oder etwas in Gang geset­zt wer­den muss. Sie sind qua­si die Inspi­ra­toren der lokalen Kirche. Die Haup­tamtlichen haben die Auf­gabe, diese «Veilleurs» zu begleit­en, zu berufen, auszu­bilden, einzuset­zen.

Eine Änderung der aktuellen hier­ar­chis­chen Form der Kirche von unten nach oben wäre nötig, um ein solch­es Gebilde in Funk­tion hal­ten zu kön­nen…
Das, was diese «Veilleurs» leis­ten, ist kirchen­rechtlich völ­lig unprob­lema­tisch. Jed­er Getaufte kann einen Gottes­di­enst feiern, kirch­liche Gemein­schaft auf­bauen und sich kar­i­ta­tiv engagieren. Es geht weniger um Hier­ar­chie als um die Frage ein­er guten Begleitung der Engagierten in den neuen Seel­sorgestruk­turen. Das ist wichtig, denn die Frei­willi­gen haben keine the­ol­o­gis­che und pas­torale Aus­bil­dung. Sie wer­den ler­nen müssen, wo sie von ihrer Kom­pe­tenz her selb­st etwas leis­ten kön­nen, und ab wann sie Unter­stützung brauchen.

Es gibt bere­its erste Kla­gen, dass man keine The­olo­gen für die Sich­er­stel­lung der Seel­sorge mehr find­et. Wer soll ein­sprin­gen?
Zurzeit find­en wir noch welche. Es kön­nten mehr wer­den, wenn das Beruf­spro­fil klar­er wird. Im Augen­blick wird dieses vor allem dadurch dominiert, dass man immer sagt: Wir haben zu wenig Per­son­al. Das Fes­thal­ten an den alten Struk­turen zeigt immer auf den Man­gel. Das ist nicht attrak­tiv. Was hat heute ein junger Men­sch zwis­chen 15 und 18 für ein Berufs­bild vor sich? Die Aus­sicht­en sind nicht gut, wenn junge Men­schen, die in der Kirche arbeit­en möcht­en, Angst haben, in zwanzig Jahren allein zu sein. Möglicher­weise wer­den sie sich aber in einem Team von Frei­willi­gen und Getauften wohl fühlen. Das Berufs­bild inner­halb ein­er neuen Seel­sorgestruk­tur wäre dann nicht mehr mit den Über­forderun­gen von heute befrachtet.

Über­forderun­gen?
Die von ein­er Volk­skirche erwarteten Leis­tun­gen – etwa, dass der Seel­sorg­er in jedem Vere­in Präs­es ist, was heisst, dass er als Haup­tamtlich­er die Kirche repräsen­tiert. Das entspricht noch der alten Struk­tur der Seel­sorge, kann heute aber nicht mehr geleis­tet wer­den. Die Seel­sorg­er kön­nen heute nicht mehr all das erbrin­gen, was bish­er in der Volk­skirche der Fall war.

Muss die katholis­che Kirche auf nieder­er Basis selb­ständi­ger wer­den?
Die Kirche des All­t­ags kann von überzeugten Laien gestal­tet wer­den. Die Pro­fes­sion­al­isierung der Seel­sorge hat dazu beige­tra­gen, dass man heute in der Kirche das Gefühl hat, dass Dinge, die jed­er Gläu­bige kann, nur durch Pro­fes­sionelle geleis­tet wer­den kön­nen. Beten kann jed­er. Dafür muss ich nicht The­olo­gie studiert haben.

Was bedeutet das für die Schweiz?
Bis­lang kon­nte die Kirche mit Geld oder aus­ländis­chem Per­son­al die Struk­tur so hal­ten, wie sie war. Heute sieht man eher: Die Kirche muss sich auf Dauer gese­hen selb­st erhal­ten kön­nen. Es ist ein Zeichen ein­er nicht gesun­den Kirchen­struk­tur, wenn sie nur über die Run­den kommt, indem sie Per­son­al aus dem Aus­land rekru­tiert. Man hält ein Sys­tem aufrecht, das sich von innen her­aus nicht erneuern kann. Jet­zt sind wir in ein­er Sit­u­a­tion, in der wir mehr noch als vor eini­gen Jahren gezwun­gen sind, das ehrlich anzuse­hen und neu zu gestal­ten.

Wie sieht es auf der Seite der Bis­chöfe, die in ein­er stren­gen Hier­ar­chie einge­bun­den sind, für solche Änderun­gen aus? Sind diese bere­it, auf die Laien zuzuge­hen, um mit ihnen mehr Ver­ant­wor­tung zu teilen?
Ich glaube, es ist für jeden Bischof in der Schweiz und weltweit selb­stver­ständlich, dass die Laien zum Volk Gottes gehören und wir noch ler­nen müssen, auch in der Rezep­tion des Zweit­en Vatikanis­chen Konzils bess­er zu ver­ste­hen, was ihre Auf­gaben sind. Es ist nicht ein­fach die Über­nahme von Auf­gaben, die früher Haup­tamtliche gemacht haben. Dann würde man wieder nur die Struk­tur ver­längern und Frei­willige auf Posten set­zen, die früher Haup­tamtliche hat­ten.

Wie müsste heute ein Hirten­brief ausse­hen, den ein Bischof schreibt?
Wichtig wäre, dass ein Bischof seinen Getauften sig­nal­isiert, dass er ihnen den Rück­en stärkt, wenn sie ver­suchen, Schritte auf dem Weg zum Kirche-Sein zu gehen und Kirche gestal­ten wollen. Wichtig ist, dass die Schritte und Gehver­suche der Frei­willi­gen nicht aus ein­er Kon­trol­langst angeschaut wer­den, son­dern mit einem Ver­trauensvorschuss. Georges Scher­rer

Redaktion Lichtblick
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