Die Kapitänin im Kirschbaum

Die Kapitänin im Kirschbaum

Ener­gisch rüt­telt der Wind an den Zweigen des wilden Kirschbaums. Hoch oben in sein­er Kro­ne schaukelt ein Haus, wogt hin und her wie ein Schiff. An der Rel­ing ste­ht die Kapitänin und bietet dem Märzs­turm die Stirn. Denn sie ist gewiss: bald wird aus den knack­enden Zweigen ein Kirschblüten­meer. Dann näm­lich, wenn der Früh­ling kommt. Und mit ihm die Lust auf Auf­bruch und Neuan­fang.Die Kapitänin heisst Gabrielle Schmid. In ihrem Baumhaus hoch über Nieder­wenin­gen empfängt sie Men­schen, die in stür­mis­chen Leben­sphasen Begleitung und Beratung suchen. Früh­ling und Auf­bruch passen zusam­men, find­et sie. Wenn die Knospen auf­brechen und die jun­gen, zarten Stän­gel die Erde durch­brechen, ver­spürten viele Men­schen das Bedürf­nis, Verän­derun­gen in ihrem Leben anzu­pack­en.Raum der Möglichkeit­en Die viel­seit­ig kreativ Tätige hat Architek­tur und Innenar­chitek­tur studiert, war als Designer­in und Szenis­che Gestal­terin tätig. Heute arbeit­et sie als Erwach­se­nen­bild­ner­in, Super­vi­sorin, Bera­terin, Gestal­terin und Kreativ­ität­strainer­in. Von ihrem Baumhaus aus schweift der Blick über das Gren­zge­bi­et zwis­chen Surb­tal und Zürcher Unter­land am Fuss der Lägern. Diese Per­spek­tive ist unge­wohnt und sym­bol­isiert gle­ichzeit­ig den weit­en Raum und die frische Sicht, die zen­tral sind für Gabrielle Schmids Wirken. Wenn die Wit­terung es erlaubt, führt Gabrielle Schmid ihre Beratungs­ge­spräche an diesem ganz speziellen Ort. Vor zwei Jahren mün­dete ihre Beratungstätigkeit in die Grün­dung von «Weitraum». In diesem «Weitraum für Bil­dung und Beratung» unter­stützt sie mit ihrer reichen Erfahrung Men­schen beim Find­en neuer Ideen, von Wegen und Auswe­gen für beru­fliche und pri­vate Anliegen. Ihre Leit­sätze lesen sich wie ein Gedicht:ziel­stre­big schweifen anders begreifen umsichtig wagen weiträu­mig wirkenSie ver­rat­en, dass Gabrielle Schmid in ihrer Beratungstätigkeit einen ganz eige­nen Ansatz ver­fol­gt. So, wie das Gestal­ten und die Kreativ­ität ihren Werde­gang prägten, ist der Kern ihrer Beratungstätigkeit, das kreative Poten­zial in ein­er Per­son zu weck­en. «Prob­lem­lösen ist ein kreativ­er Prozess.», sagt die 49-Jährige mit Nach­druck.Ver­giss das Prob­lem! Speziell an Gabrielle Schmids Beratungsansatz ist, dass sie regelmäs­sig mit non­ver­balen Mit­teln, Kun­st und Gegen­stän­den arbeit­et. Es kommt häu­fig vor, dass ihre Kli­entin­nen und Klien­ten etwas bauen, fal­ten, zeich­nen oder schreiben und so einen Weg beschre­it­en, der vom Prob­lem wegführt. Um eine Lösung zu find­en, müsse man das Prob­lem näm­lich zuerst ein­mal vergessen. Beim soge­nan­nten «Dezen­tri­eren» unter­bricht Gabrielle Schmid das Beratungs­ge­spräch, damit die Per­son während ein­er kurzen Pause eine kreative Her­aus­forderung bewälti­gen kann. Der gestal­ter­ische Weg ist frei, jed­er löst die Auf­gabe auf seine Art. Anschliessend betra­cht­en die Bera­terin und ihr Klient das Werk genau. Auch dieser Schritt kommt aus dem Gestal­ter­ischen. Einen Schritt zurück­treten und neue Blick­winkel aus­pro­bieren, das Objekt auf den Kopf stellen. Gabrielle Schmid stellt Fra­gen nach gestal­ter­ischen Entschei­dun­gen: Was hat dich bewogen, das Objekt so zu platzieren?», oder: «wie bist du darauf gekom­men, die Kante zu reis­sen? Dieses Gespräch führt den Leuten vor Augen, wie viele Entschei­dun­gen sie innert kurz­er Zeit getrof­fen haben. Sie erleben sich sel­ber als kom­pe­tent und erken­nen, dass sie ihrer Intu­ition ver­trauen kön­nen.«Ich kann das» Mit dem Dezen­tri­eren kom­men gute Stim­mung, Moti­va­tion und das Gefühl «Ich kann ja etwas» auf. Die Men­schen ent­deck­en, dass sie über Prob­lem­lö­sungskom­pe­tenz ver­fü­gen. Das alles verbessert die Rah­menbe­din­gun­gen, um in einen guten, lösung­sori­en­tierten Prozess zu kom­men. Nicht mehr ans Prob­lem zu denken, gibt dem Unter­be­wusst­sein Zeit zum Arbeit­en. Denn man kann Inspi­ra­tion nicht «machen», man muss sie geschehen lassen. Meist kommt die Inspi­ra­tion bei ein­er Arbeit, die einen nicht völ­lig absorbiert, son­dern bei ein­er alltäglichen Tätigkeit, bei der die Gedanken schweifen kön­nen. Häu­fig helfen auch Bewe­gung und frische Luft. Deshalb sei es ungün­stig, wenn man sich in Stress­si­t­u­a­tio­nen genau diese Auszeit­en nicht erlaube. Eben­falls schade find­et Gabrielle Schmid, dass Men­schen so sel­ten Hil­fe in Anspruch nehmen, denn meist brauche es nur einen kleinen Anstoss. Manch­mal reicht sog­ar eine uner­wartete Frage, um einen Lösung­sprozess in Gang zu brin­gen.Mit­ten im Chaos Wie ein solch­er Prozess, der Weg von ein­er bekan­nten Ord­nung hin zu ein­er noch ungewis­sen Neuord­nung konkret aussieht, skizziert Gabrielle Schmid mit flink­er Bewe­gung aufs Papi­er. Eine ger­ade Lin­ie, die in ein wildes Gekritzel ausartet und daraufhin wieder in eine ger­ade Lin­ie aus­läuft. Die Zeich­ner­in deutet auf den Strich-Knäuel und sagt: «Hier herrscht Chaos. Aber in dieser Ver­wirrung liegt das grösste Poten­zial, da drin sind alle Möglichkeit­en enthal­ten.» Diesen Zus­tand zwis­chen «Nicht-Mehr» und «Noch-Nicht» gelte es auszuhal­ten, wenn man eine Verän­derung angestossen habe. Ein Knack­punkt ist laut der Exper­tin, dass man aus Angst vor Verän­derung zu lange im Alten ver­har­rt: «Unsicher­heit und Nichtwissen brem­sen enorm. Deshalb ist Begeis­terung so wichtig, sie gibt Energie, Verän­derun­gen in Angriff zu nehmen.» Begeis­terung für das Neue, aber auch der Lei­dens­druck durch das Alte kön­nten gle­icher­massen als Antrieb wirken, erk­lärt Gabrielle Schmid. Es könne aber auch passieren, dass mit­ten im Verän­derung­sprozess keine der Optio­nen anziehend genug erscheint. Im diesem Fall gehe sie meist auf die Ursprungs­frage zurück und wolle möglichst konkret erfahren, wie sich der neue Zus­tand anfühlen, was nach­her anders sein soll: «Das Ziel muss spür­bar wer­den.»Ich kon­stru­iere mein Bild von der Welt mit Gabrielle Schmid kann ver­ste­hen, dass Men­schen ein Bedürf­nis nach etwas haben, das gröss­er ist als sie sel­ber. Sie ist aber skep­tisch gegenüber dem Religiösen. Ihrer Tätigkeit liegt ein kon­struk­tivis­tis­ches Welt­bild zugrunde: «Woran ich fest glaube, ist, dass jed­er seine Umge­bung gestal­ten kann.» Sie sei überzeugt, dass die Kraft, etwas zu verän­dern in jedem Men­schen liege. Für ihre bera­ter­ische und gestal­ter­ische Arbeit sei es aber auch entschei­dend, nicht alles bis ins Let­zte ergrün­den zu wollen. Im kün­st­lerischen Prozess kann man vieles nicht abschliessend klären. Zum Beispiel, woher eine Idee kommt. Aber wenn ein Objekt auf dem Tisch ste­ht, kann man es beschreiben. Und kommt vom Objekt zum Wort. «Da bin ich dem Kon­struk­tivis­mus verpflichtet: Mein Bild von der Welt kon­stru­iere ich mit.», erk­lärt Gabrielle Schmid. «Es zeich­net das kün­st­lerische Tun aus, dass man dabei ganz im Jet­zt ist. Das ist nährend, das gibt Kraft.» Hor­i­zont-Erweiterung im Baumhaus? www.gabrielleschmid.ch
Marie-Christine Andres Schürch
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