Wenn Weihnachten plötzlich alles bedeuten kann

Wenn Weihnachten plötzlich alles bedeuten kann

Wei­h­nacht­en scheint das Sym­bol par excel­lence für «christliche Werte» zu sein, aber worum es bei diesen let­ztlich geht, scheint undefiniert­er denn je. Die Diskus­sion erin­nert ein biss­chen an ein Sup­pen­rezept: bei zehn wahl­los her­aus­gepick­ten Rezepten für Kartof­fel­suppe gibt es nur bei zwei Zutat­en Einigkeit: In die Suppe gehören Kartof­feln und Bouil­lon. Der Rest ist Vari­a­tion, je nach Geschmack, Vor­liebe, regionaler oder famil­iär­er Tra­di­tion. Bei ein­er Suppe mag das ange­hen. Bei Reli­gion ist das beden­klich.Die Diskus­sion um Wei­h­nacht­en wurde auch 2015 geführt. Auch in diesem Jahr gab es kon­sumkri­tis­che Kom­mentare, den Wun­sch der Rückbesin­nung auf die Ker­naus­sage von Wei­h­nacht­en und – deut­lich­er als auch schon – die Posi­tion, Wei­h­nacht­en könne ein­fach als Kul­turgut ohne Reli­gions­bezug gefeiert oder auch ignori­ert wer­den. Spitzen­beispiel für die Ambivalenz des Festes ist vielle­icht die Neuen­burg­er Krippe. Diese stand unter dem Wei­h­nachts­baum am Stadthaus. Ein Gemein­der­at liess sie mit der Begrün­dung ent­fer­nen, die Tanne sei für alle Bürg­er, Kon­fes­sion­slose wie Gläu­bige, und solle nicht mit religiösen Sym­bol­en in Verbindung gebracht wer­den. Zudem seien die Fig­uren nicht im Auf­trag des Gemein­der­ats aufgestellt wor­den. Es fol­gten heftige Reak­tio­nen, so dass die Krippe schlussendlich an der reformierten Kirche aufgestellt wurde, dem passenderen Ort, wie es in ein­er Medi­en­mit­teilung der Stadt heisst.Ein aus­ge­höhltes Fest Eine Frage, die im Zusam­men­hang mit dieser Episode gestellt wurde: Wo bleibt das Chris­ten­tum, wenn sich nicht mal Behör­den­mit­glieder zu unseren Werten beken­nen? Der Schrift­steller Pedro Lenz begann einen Text auf blick.ch mit den Worten: «Stellen Sie sich vor, es ist Wei­h­nacht­en und nie­mand will wis­sen, worum es geht?» Wann, so fragt er, wenn nicht an Wei­h­nacht­en, kön­nten wir uns auf unsere Werte besin­nen? In der NZZ am Son­ntag befürchtet Patrick Hol­len­stein, dass das Fest Christi Geburt im Kern aus­ge­höhlt zu wer­den dro­ht, wie dies bere­its mit Pfin­g­sten und Ostern geschehen sei. Die in den Medi­en geführte Diskus­sion zeigt: Wei­h­nacht­en scheint das Sym­bol par excel­lence für «christliche Werte» zu sein, aber worum es bei diesen let­ztlich geht, scheint undefiniert­er denn je.Chris­ten­tum – ein ide­ol­o­gis­ch­er Selb­st­be­di­enungsladen? Ins­ge­samt erin­nert der schwammige Begriff der «christlichen Werte» an die ein­gangs erwäh­nte Kartof­fel­suppe. Man kann unendlich viele Zutat­en zufü­gen und sich her­vor­ra­gend darüber stre­it­en, wie eine richtige Kartof­fel­suppe zubere­it­et wer­den muss. Geht es um christliche Werte, scheint es ähn­lich: Weil es keinen Kon­sens darüber gibt, was diese Werte let­z­tendlich aus­machen, kann die For­mulierung «christliche Werte» zu einem gefährlichen Schlag­wort wer­den. Anna Rothen­fluh schreibt dazu in einem Artikel auf wat­son: «Parteien mit gän­zlich unter­schiedlichen Aus­rich­tun­gen stützen sich alle­samt auf diese ominösen Werte und leg­en sie dementsprechend flex­i­bel aus. Nur, wenn ein Aus­druck alles bedeuten kann, ist er dann über­haupt noch etwas wert? Und wie gefährlich kann er wer­den, wenn er mit beliebi­gen Inhal­ten gefüllt wird?» Wenn Teile der SVP den Schutz «christlich­er Werte» als Abgren­zungs- und Abwehrkri­teri­um gegenüber Flüchtlin­gen benutzen, wer­den Näch­sten- und Fein­desliebe oder Barmherzigkeit nach Belieben aus dem christlichen Wertekanon aus­geklam­mert, beziehungsweise nur unter bes­timmten Voraus­set­zun­gen dazugezählt.Christlich ohne Glauben? Zum einen erk­lärt sich die Vielfalt der Def­i­n­i­tio­nen der «christlichen Werte» sicher­lich daraus, dass auch Men­schen, die nicht mehr gläu­big sind oder ein­er Kirche ange­hören, sich im christlich geprägten Abend­land ver­wurzelt fühlen und den Begriff jen­seits von Reli­gion und per­sön­lichem Glauben ver­wen­den. Doch stellt sich die Frage, ob dann nicht bess­er von Kul­tur gesprochen wer­den sollte. Bemerkenswert ist, dass unter dem wat­son-Artikel eine gehaltvolle und faire Diskus­sion über Glaube und Reli­gion geführt wird. Mit Diskus­sion­steil­nehmern, die sich selb­st im ganzen Spek­trum zwis­chen gläu­big und athe­is­tisch verorten. Konkrete Hal­tun­gen wie Barmherzigkeit oder Näch­sten­liebe wer­den als wichtig für die Schweiz­er Gesellschaft ver­standen – auch ohne expliziten Bezug zum christlichen Glauben. Einigkeit herrscht eben­falls darüber, dass dem Begriff «christliche Werte» mit Skep­sis zu begeg­nen sei, weil die Schwammigkeit der For­mulierung die Gefahr des Miss­brauchs und der Instru­men­tal­isierung bein­hal­tet. Zum Beispiel, wenn «christliche Werte» gezielt für anti­is­lamis­che Poli­tik benutzt wer­den.Die Auf­gabe der Kirchen Angesichts der Tat­sache, dass aktuell Men­schen, mit unter­schiedlichen Reli­gio­nen und Überzeu­gun­gen nach Europa und in die Schweiz kom­men und vor dem Hin­ter­grund, dass die Zahl der Kon­fes­sion­slosen weit­er steigt, ist es wichtig, neu zu bes­tim­men, was uns an der Schweiz­er Gesellschaft schützenswert erscheint. Gle­ichzeit­ig darf dieser Schutz nicht zur Abw­er­tung ander­er Überzeu­gun­gen führen. Zumin­d­est auf ein oder zwei Grundzu­tat­en, die alle vertreten kön­nen, sollte man sich eini­gen. Dass das Chris­ten­tum, ver­standen als Reli­gion auf der Basis des per­sön­lichen Glaubens an einen per­son­alen Gott, je länger je weniger Kon­sens ist, sollte mit­tler­weile klar sein. Es ist daher wichtig, dass die Kirchen darüber nach­denken, wie sie sich im Kon­text der zunehmend säku­lar­isierten und religiös durch­mis­cht­en Gesellschaft posi­tion­ieren. Umso mehr, als dass das Chris­ten­tum eben­so wenig gegen fun­da­men­tal­is­tis­che Hal­tun­gen gefeit ist, wie jede andere Grup­pierung. Was also kann man gegen den Ver­lust der Deu­tung­shoheit über die «christlichen Werte» machen, nach «innen» wie nach «aussen»?Luc Hum­bel, Kirchen­rat­spräsi­dent der Römisch-Katholis­chen Lan­deskirche Aar­gau, ver­ste­ht es als Auf­gabe der Kirchen, «glaub­würdig zu agieren und sich zu Wort zu melden.» Auf sein per­sön­lich­es Ver­ständ­nis von christlichen Werten ange­sprochen ent­geg­net er: «Als zen­tral­sten Wert erachte ich die Liebe zu meinen Näch­sten. Ich soll und will darin vor allem einen Mit­men­schen sehen. Wenn ich diesen Wert achte, dann hat das mit Men­schen­würde, Men­schen­recht­en und auch mit einem sorgsamen Umgang mit der Schöp­fung (Natur) zu tun. Wenn sich Per­so­n­en zu diesen christlichen Werten beken­nen, dann ist das gut so. Wenn sie dies in ungerecht­fer­tigter oder in wider­sprüch­lich­er Weise tun, dann soll man sie darauf hin­weisen.» Eine Posi­tion­ierung, die von ein­er bewussten inneren Auseinan­der­set­zung mit christlichen Werten, aber auch von gelebter Reli­giosität zeugt, etwas, dass immer mehr Men­schen nicht mehr wichtig ist. Vor dem Hin­ter­grund des christlichen Glaubens allerd­ings, kön­nen wir Pedro Lenz in dem Sinne beipflicht­en, wie er seinen Text auf blick.ch schliesst: «Eine Wert­ede­bat­te ohne Werte wird schwierig zu führen sein.»
Anne Burgmer
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