Geflüchtete nicht ins Abseits drängen

Geflüchtete nicht ins Abseits drängen

  • Ver­gan­ge­nes Woch­enende, 17. / 18. Juni, fan­den die Flüchtlingstage statt.
  • Ein Gespräch zwis­chen Geflüchteten und Aar­gauer Gross­rätin­nen und Gross­räten in Baden zeigte, dass die gel­tenden Geset­ze den Einzelschick­salen oft nicht gerecht wer­den.
  • Spür­bar war der Wille der anwe­senden Gross­ratsmit­glieder, die Schwierigkeit­en der Geflüchteten ernst zu nehmen.

Der Mod­er­a­tor des Gesprächs zwis­chen Poli­tik­ern und Geflüchteten auf dem Bahn­hof­platz in Baden, Michael Tome­bosa, ist aus Eritrea geflüchtet und lebt seit 2015 in der Schweiz. Er fordert die auf der Bühne sitzen­den Gross­rätin­nen Edith San­er (Die Mitte), Lea Schmid­meis­ter (SP) und den Gross­rat Robert Müller (SVP) mit der Frage her­aus: «Herr Müller, Frau San­er, Frau Schmid­meis­ter, wie kämen Sie mit 9.- Franken pro Tag über die Run­den?». Neun Franken pro Tag beträgt die Asyl­sozial­hil­fe, welche Per­so­n­en im laufend­en Asylver­fahren sowie vor­läu­fig aufgenommene Aus­län­derin­nen und Aus­län­der erhal­ten.

Mit neun Franken pro Tag über die Runden kommen

Alle drei Poli­tik­er geben zu, dass neun Franken pro Tag hin­ten und vorne nicht aus­re­ichen, um den All­t­ag zu bestre­it­en, geschweige denn, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Die Höhe der Asyl­sozial­hil­fe sei ein poli­tis­ches Dauerthe­ma, sagen sie: «Diese Frage wird immer wieder disku­tiert, jedoch ist der tiefe Betrag im Moment poli­tisch so gewollt», erk­lärt Edith San­er.

Kein Teuerungsausgleich bei der Asylsozialhilfe

Patrizia Bertschi, ehe­ma­lige Präsi­dentin des Vere­ins Net­zw­erk Asyl, ehe­ma­lige SP-Gross­rätin und seit Jahrzehn­ten im Flüchtlings­bere­ich tätig, ste­ht dem Mod­er­a­tor zur Seite. Sie merkt an: «Die Kan­tone bes­tim­men die Höhe der Asyl­sozial­hil­fe. Und der Aar­gau liegt am Schluss der Liste.» Lea Schmid­meis­ter bringt den Teuerungsaus­gle­ich ins Spiel, den der Bun­desrat für die Sozial­hil­fe gewährt habe, den es jedoch für die Asyl­sozial­hil­fe bish­er nicht gebe: «Bei neun Franken am Tag fällt es ins Gewicht, ob die Teig­waren plöt­zlich einen Franken mehr kosten als bish­er», erk­lärte sie.

«Damit bin ich schon sehr weit gegangen»

Angesichts dieses ein­leuch­t­en­den Beispiels sagte SVP-Gross­rat Robert Müller, er würde im Grossen Rat den Aus­gle­ich der Teuerung bei der Asyl­sozial­hil­fe unter­stützen. Auf die Frage von Schmid­meis­ter, ob er den entsprechen­den Antrag in der Kom­mis­sion gle­ich selb­st stellen würde, befand er: «Das würde dir bess­er anste­hen. Ich selb­st bin mit der Zusage der Unter­stützung schon sehr weit gegan­gen.» Das Pub­likum schmun­zelte und applaudierte. Die Anwe­senden schätzten den guten Willen der poli­tisch Ver­ant­wortlichen, die Schwierigkeit­en von Geflüchteten ernst zu nehmen.

Solidarisches Verteilprinzip

Eine weit­ere Frage betraf die freie Woh­nungswahl von vor­läu­fig aufgenomme­nen Flüchtlin­gen. Vor­läu­fig Aufgenommene dür­fen ihren Wohn­sitz nicht selb­st wählen, son­dern wer­den den Gemein­den zugeteilt. Robert Müller und Edith San­er unter­stützen die freie Wohn­sitzwahl nicht. Bei­de beton­ten die Sol­i­dar­ität zwis­chen den Gemein­den und die Notwendigkeit, die geflüchteten Men­schen gut zu verteilen. «Es gibt eine sol­i­darische Verteilung, die grund­sät­zlich funk­tion­iert. Wir wollen keine Hotspots», sagte Edith San­er, die während ihrer Zeit als Gemein­derätin und Frau Gemein­deam­man in Bir­men­storf regelmäs­sig Kon­takt mit Geflüchteten hat­te. Robert Müller, eben­falls ehe­ma­liger Gemein­deam­man in Freien­wil, ver­wies zusät­zlich auf eine sin­nvolle Durch­mis­chung an den Schulen, die sein­er Mei­n­ung nach bei freier Wohn­sitzwahl gefährdet wäre.

SP-Gross­rätin Lea Schmid­meis­ter hat als Mitar­bei­t­erin der Flüchtlings­ber­atung der Car­i­tas täglich Kon­takt mit Geflüchteten. Sie sprach sich für die freie Wohn­sitzwahl aus und bemän­gelte: «Das Prob­lem ist, dass es keine Aus­nah­men gibt.» Dass vor­läu­fig Aufgenommene ihren Wohn­sitz nicht frei wählen dür­fen, kann zu schwieri­gen Sit­u­a­tio­nen führen. Zum Beispiel, wenn jemand deswe­gen nicht in die Nähe seines Arbeit­sortes ziehen kann. Oder wenn eine Fam­i­lie mit schulpflichti­gen Kindern die Wohnge­meinde wech­seln muss, weil ihr Haus abgeris­sen und sie ein­er anderen Gemeinde zugeteilt wird.

«System ist zu wenig flexibel»

«Es gibt immer Fälle, die nach ein­er Aus­nahme rufen», gab Robert Müller zu. Doch er for­mulierte auch gle­ich die Schwierigkeit, auf diese Aus­nah­men einzuge­hen: «Das ist in der Schweiz beson­ders schwierig, weil hier alles detail­liert geregelt und dur­chor­gan­isiert ist.» Das Sys­tem sei nicht flex­i­bel. Ausser­dem, so merk­te Edith-San­er an, liege in vie­len der besproch­enen Punk­te die Hoheit bei den einzel­nen Gemein­den. Doch auch sie gab zu, dass es wün­schenswert wäre, stärk­er auf Einzelfälle einge­hen zu kön­nen.

Menschen nicht schikanieren

Weit­eren Hand­lungs­be­darf sah Lea Schmid­meis­ter bei der Regelung, wonach Men­schen mit abgewiesen­em Asylge­such den Kan­ton Aar­gau nicht ver­lassen dür­fen. Das schikaniere die Betrof­fe­nen unnötig, denn das eigentliche Ziel, eine Rück­kehr ins Herkun­ft­s­land zu beschle­u­ni­gen, werde mit dieser Mass­nahme nicht erre­icht. Es läge in der Hoheit der Kan­tone, diese Verord­nung zu ändern, sagte die SP-Gross­rätin. Robert Müller meinte: «Frau Schmid­meis­ter wird im Gross­rat einen Vorstoss machen, und ich werde ihm dann – je nach­dem, wie extrem er for­muliert ist – zus­tim­men.»

«Nicht miteinander, sondern mit der Politik streiten»

Immer wieder richtete der Mod­er­a­tor Michael Tome­bosa sich ans Pub­likum und liess die Leute Fra­gen stellen. Zu Fra­gen Anlass gaben unter anderem die ungle­ichen Sta­tus der ver­schiede­nen Geflüchteten: «Ist es nicht so, dass grund­sät­zlich auch für Geflüchtete aus Syrien oder Afghanistan gilt, was man für die Men­schen aus der Ukraine annimmt – näm­lich, dass sie wieder nach Hause zurück­kehren wollen und wer­den, wenn der Kon­flikt vor­bei ist?», fragte ein Mann. Die drei Mit­glieder des Grossen Rates erk­lärten, dass der Kriegsaus­bruch in der Ukraine eine Aus­nahme- und Not­si­t­u­a­tion gewe­sen sei, die rasches Han­deln erfordert habe. Und dass nie­man­dem gedi­ent sei, wenn die ver­schiede­nen Sta­tus gegeneinan­der aus­ge­spielt wür­den.

Ein passendes Schluss­wort richtete eine Frau aus dem Pub­likum an die Anwe­senden: «Lasst uns nicht untere­inan­der, son­dern mit der Poli­tik stre­it­en. Wir müssen zusam­men­hal­ten, wir sind alles Men­schen.»

Marie-Christine Andres Schürch
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