«Das Leben ist unverfügbar»

«Das Leben ist unverfügbar»

  • Der Baden­er Autor Thomas Gröbly nimmt in seinem Buch «Einen Augen­blick staunen» seine Krankheit und die Zukun­ft seines Enkels als Aus­gangspunkt für Fra­gen zu Leben und Tod. «Ich war fürs Buch motiviert, weil ich mir grosse Sor­gen zur Zukun­ft mache und bess­er ver­ste­hen wollte», sagt Thomas Gröbly.
  • Gröbly sagt: «Wir leben in ein­er Zeit grossen Unbe­ha­gens. Die Kirche hat die Auf­gabe und Chance, diese Gefühlslage zu the­ma­tisieren.»
  • Am Don­ner­stag, 9. März, um 19.30 Uhr find­et in der Reformierten Kirche Möriken eine Trom­mel-Lesung mit Buch­präsen­ta­tion statt.

Stufe um Stufe erk­limmt Thomas Gröbly die schmale Treppe. Langsam und konzen­tri­ert set­zt er Fuss um Fuss auf das glattgeschlif­f­ene Holz. Dann ste­ht er im Wohnz­im­mer. Aus dem Fen­ster fällt sein Blick zuerst auf den Neubau eines Schul­haus­es, dann auf den Auf­stieg zum Lägern­grat.

Früher war Gröbly lei­den­schaftlich gerne in Lauf­schuhen am Lägern­hang unter­wegs. Bis er vor neun Jahren den einen Fuss nicht mehr richtig heben kon­nte, immer wieder stolperte und schliesslich zum Arzt ging.

Trommel-Lesung und Buchpräsentation

Don­ner­stag, 9. März 2023, 19.30 Uhr, in der Reformierten Kirche, Möriken. Ein­tritt frei, Kollek­te.

Schlagzeug: Tony Renold / Lesung: Thomas Gröbly und Rahel Lämm­ler

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Weniger, langsamer, kürzer

Gröbly spricht langsam und wählt seine Worte sorgfältig. Nach der Diag­nose Amy­otro­phe Lat­er­al­sklerose (ALS), ein­er degen­er­a­tiv­en Ner­ven­erkrankung, die als unheil­bar gilt, musste er sich – damals Ethik­dozent, Rit­u­al­be­gleit­er und viel­seit­ig engagiert – mit der Per­spek­tive «weniger, langsamer, kürz­er» anfre­un­den. Eine Her­aus­forderung in unser­er Gesellschaft, in der die Maxime «Gröss­er, schneller, weit­er, mehr» tief «in Geist und Seele ver­ankert ist», wie Gröbly sagt. Er hat erkan­nt: «Die spir­ituelle Her­aus­forderung beste­ht darin, neu zu denken und zu fühlen. Da kann einem die Auseinan­der­set­zung mit dem eige­nen Ster­ben und Tod ganz viel zeigen.»

Am Anfang standen intensive Gefühle

An sein­er Auseinan­der­set­zung mit Ster­ben und Tod lässt Gröbly die Leserin­nen und Leser im Buch «Einen Augen­blick staunen» teil­haben: «Da ich an ein­er schw­eren Krankheit lei­de und mich mit meinem eige­nen Ster­ben auseinan­der­set­ze, inter­essiert mich die Frage, was ich vom Ster­ben fürs Leben und Lieben ler­nen kann.»

Zu Beginn des Schreibens, erk­lärt Thomas Gröbly im Gespräch, standen inten­sive, wider­stre­i­t­ende Gefüh­le: «Ich war fürs Buch motiviert, weil ich mir grosse Sor­gen zur Zukun­ft mache und bess­er ver­ste­hen wollte. Es war auch eine Auseinan­der­set­zung mit vie­len Gefühlen wie Wut, Unver­ständ­nis, Rebel­lion, Nicht-Wahrhaben­wollen und Ohn­macht angesichts von Gedanken­losigkeit, Igno­ranz und Ver­ant­wor­tungslosigkeit gegenüber Krieg, Armut, Aus­beu­tung und Natur­mis­shand­lun­gen.»

Suchen nach Sprache

Obwohl Thomas Gröbly 20 Jahre lang als Ethik­dozent an ein­er Fach­hochschule unter­richtet hat, ver­wen­det er den Begriff «Ethik» in seinem Buch nicht. «Die Ethik argu­men­tiert sehr ratio­nal. Ratio­nal betra­chtet, wis­sen wir eigentlich alles. Aber das Wis­sen ist nicht emo­tion­al hin­ter­legt.» Mit seinen Worten und Gedicht­en wirkt Gröbly auf ein­er anderen Ebene: «Für mich sind Gedichte ein Suchen nach Sprache jen­seits ratio­naler Argu­mente, verknüpft mit ein­er Ahnung, dass Sie uns auf ein­er geisti­gen und seel­is­chen Ebene berühren und betrof­fen machen.» Ein Wort kann tre­f­fen, wo Argu­mente nicht hin reichen. Gedichte und Gedanken würzt Gröbly häu­fig mit ein­er Prise Humor, sie macht Schw­eres leichter und drückt Zunei­gung zum Leben und den Men­schen aus.

Das tas­tende Suchen nach dem richti­gen Wort wen­det Gröbly im Buch auch auf die «Nach­haltigkeit» an: «Nach­haltigkeit bedeutet nichts anderes als Gren­zen ein­hal­ten», erk­lärt er. «Wenn ich sage, dass ich Tieren und Pflanzen Gewalt antue, beze­ich­net das jedoch viel präzis­er, was ich mache, als wenn ich sage, ich sei nicht nach­haltig.» Die Tra­di­tion der Gewalt­frei­heit ist Gröblys geistige Heimat. Im Buch ver­wen­det er dafür den Begriff «Fried­fer­tigkeit».

Blaustern und Soldanellen

[esf_wordpressimage id=24319 width=half float=left][/esf_wordpressimage]Von Thomas Gröbly gibt es zwei weit­ere Bände mit Gedicht­en aus den Jahren 2018 bis 2020. Seine Lebenspart­ner­in sam­melte die Gedichte, kopierte die Seit­en und band die «Raubkopi­en», wie Thomas Grö­by sie im Gespräch scherzhaft nen­nt, zu einem Heft. Aus diesem Anstoss ein paar Jahre vorher ent­standen die Lyrik­bände «Inmit­ten» und «Dazwis­chen».

Thomas Gröblys Büch­ern, die in seinem eige­nen Ver­lag «Edi­tion Volles Haus» erschienen sind, sieht man seine Liebe zur Botanik an. Eine Baum­scheibe, Sol­danellen und Blausterne schmück­en die Buchum­schläge. Pflanzen mit Sym­bol­w­ert, wie der Autor erläutert: «Sol­danellen, auch Alpenglöckchen genan­nt, wach­sen in den Bergen, in gross­er Höhe, streck­en ihre Blüten sog­ar durch den let­zten Schnee dem Licht ent­ge­gen.» Der Blaustern wächst in unseren Wäldern und blüht im Früh­ling als ein­er der ersten. Auf Lateinisch heisst er «scil­la». Von dieser Blume hat Thomas Gröblys Tochter ihren Namen. Und sie war es wiederum, die die Umschläge der Büch­er gestal­tet hat.

Schneeballeffekt

Gröbly ist zwar ordiniert­er reformiert­er Pfar­rer, hat aber beru­flich stets ausser­halb der Insti­tu­tion Kirche gewirkt. Auch für die Kirche sei es wichtig, dass sie eine suchende, sorgfältige Sprache pflege und von ein­er nichtwissenden Posi­tion aus spreche, ist er überzeugt. «Wir leben in ein­er Zeit grossen Unbe­ha­gens. Viele Men­schen merken, dass es so nicht weit­erge­hen kann. Einige ver­trauen auf Tech­nolo­gien, doch diese wer­den es nicht richt­en, wenn wir nicht spir­ituell und sozial anders han­deln.» Die Kirche habe die Auf­gabe und Chance, diese Gefühlslage zu the­ma­tisieren. Gröbly plädiert dafür, in Gespräch­skreisen miteinan­der zu sprechen, immer wieder. «Ich hoffe darauf, dass etwas passieren kön­nte, wovon wir nicht zu träu­men wagen.»

Im Jahr 2100

Gröbly ist nicht nur gel­ern­ter Land­wirt, The­ologe, Ethik­er und Ver­lagsleit­er, son­dern auch Gross­vater. Die zärtliche Sorge um die Zukun­ft seines Enkels bringt er im Buch mit zwei Briefen und im Gespräch zum Aus­druck: «Was wird im Jahr 2100 sein? Ich bin ein­er­seits pes­simistisch, ander­er­seits will ich diese neg­a­tive Sicht nicht zulassen.» Hoff­nung geben ihm die vie­len kleinen Ini­tia­tiv­en, in denen Men­schen neue Mod­elle leben: «Da wird eine neue Prax­is, ein neues Denken und   neue Welt­bilder eingeübt». Die Erken­nt­nisse, die Thomas Gröbly aus der Auseinan­der­set­zung mit sein­er Endlichkeit zieht, sind Teil dieses neuen Denkens: «Die Beschäf­ti­gung mit dem Ster­ben hat mich gelehrt, dass ‘langsamer und weniger’ gut ist. Dass alles miteinan­der ver­bun­den und das Leben unver­füg­bar ist.»

Marie-Christine Andres Schürch
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