Entwicklungshilfe neu denken?

Entwicklungshilfe neu denken?

Entwicklungshilfe neu denken?

Aktuelle Perspektiven auf die Arbeit von Hilfsorganisationen 

Auch dieses Jahr haben die Men­schen in der Schweiz in der Advents- und Wei­h­nacht­szeit wieder gespendet; unter anderem für Pro­jek­te in der Entwick­lung­shil­fe. Doch wie sin­nvoll ist Entwick­lung­shil­fe über­haupt? Das disku­tiert in der neuen Folge des Pod­casts «Laut+Leis» San­dra Leis mit Nicole Bol­liger von der Entwick­lung­sor­gan­i­sa­tion Brücke Le Pont und Elí­sio Macamo vom Zen­trum für Afrikas­tu­di­en der Uni­ver­sität Basel.San­dra Leis: Nicole Bol­liger, du arbeitest für die Entwick­lung­sor­gan­i­sa­tion Brücke Le Pont und bist Pro­gram­mver­ant­wortliche für Afri­ka. Kön­ntest du uns bitte an einem konkreten Beispiel zeigen, wie Entwick­lungszusam­me­nar­beit aussieht?Nicole Bol­liger (NB): In Benin arbeit­en wir mit ein­er lokalen Part­neror­gan­i­sa­tion, ein­er NGO (Nichtregierung­sor­gan­i­sa­tion, Anm. d. Red.), zusam­men. Und zwar in der Reis-Wertschöp­fungs­kette, von der Pro­duk­tion des Reis­es über die Ver­ar­beitung, den Ver­trieb bis zur Ver­mark­tung. Wir haben zwar gemein­sam ein Ziel for­muliert, das wir erre­ichen wollen, aber schlussendlich ist es die Part­neror­gan­i­sa­tion, die – zusam­men mit den Pro­jek­t­teil­nehmenden – den Inhalt des Pro­jek­ts definiert und nach Lösun­gen für die konkreten, vor Ort existieren­den Prob­leme sucht.Im ver­gan­genen Novem­ber ist ein Video von einem US-amerikanis­chen Youtu­ber viral gegan­gen, der 100 Brun­nen in Afri­ka gebaut hat. Das Video hat­te 100 Mil­lio­nen Klicks. Eigentlich möchte man ja weg von diesem Bild des «weis­sen Ret­ters». Wie erk­lärt ihr euch, dass ein solch­es Video trotz­dem so viele Klicks hat? Was spricht die Men­schen an?Elí­sio Macamo (EM): Ich denke, die Vorstel­lun­gen, dass Afri­ka Hil­fe braucht und dass jed­er, der diese Hil­fe leis­tet, in einem schö­nen Licht erscheint, sind immer noch stark ver­wurzelt im Bewusst­sein der Men­schen hier. Es kommt auch gut an, wenn Men­schen zeigen, was sie ganz konkret in Afri­ka tun. Fra­gen nach der Nach­haltigkeit dieser Hil­fen, nach der Abgabe von Ver­ant­wor­tung seit­ens der Europäer und nach Eigen­ver­ant­wor­tung der Afrikan­er stellen sich die Wenig­sten. Es existiert immer noch dieses Bild des armen Kon­ti­nents, der auf Hil­fe angewiesen ist.NB: Es ist auch dieses «Wir wollen klare Lösun­gen sehen». Aber Entwick­lungsar­beit ist nicht schwarz und weiss. Man muss nuancieren, dif­feren­zieren. Es braucht Zeit und Raum, den Men­schen diese Kom­plex­ität zu erk­lären, aber die haben wir nicht immer.EM: Es geht nicht nur darum, dass die Leute keine Brun­nen haben oder keinen Zugang zu Wass­er. Son­dern da ste­hen poli­tis­che Struk­turen dahin­ter, die verän­dert wer­den müssen und das kann kein Aus­län­der leis­ten. Das muss die Bevölkerung selb­st machen.Ein Schlag­wort der Stunde ist die soge­nan­nte «Decol­o­niz­ing Aid». Hil­f­swerke wollen die kolo­nialen Wurzeln der Zusam­me­nar­beit über­winden. Doch ist part­ner­schaftliche Hil­fe über­haupt möglich, wenn ein­er Geld gibt und der andere empfängt?EM: Das ist fast die Quad­ratur des Kreis­es. Ich denke, es gibt Inhalte in diesem Dekolonisierungs­diskurs, die wichtig sind. Vor allem alle Inhalte, die mit Respekt zu tun haben. Also zum Beispiel, nicht immer die Weis­sen als Ret­ter darzustellen und die armen Afrikan­er als die Empfänger der Almosen. Nicole hat erwäh­nt, dass ihre Organ­i­sa­tion Leute vor Ort hat, die dort die Arbeit machen. Das ist bere­its Teil ein­er «Decol­o­niz­ing Aid». Aber unter der Voraus­set­zung, dass es auf der einen Seite Län­der und Gesellschaften mit Geld und tech­nis­chem Wis­sen gibt und auf der anderen Län­der, mit denen geteilt wird, kann ich mir nicht vorstellen, wie eine Decol­o­niz­ing Aid ausse­hen kön­nte. Das Prob­lem ist schon die Hil­fe an sich und nicht, wie sie umge­set­zt wird. Es gibt einige Men­schen in Afri­ka wie etwa Dambisa Moyo, eine Ökonomin aus Sam­bia, oder James Shik­wati, einen Aktivis­ten aus Kenia, die sagen, wir soll­ten mit den Hil­fen aufhören. Denn die führt ihrer Auf­fas­sung nach nicht dazu, dass afrikanis­che Regierun­gen Ver­ant­wor­tung übernehmen und regieren, son­dern dazu, dass sie abhängig bleiben. Und das schaffe auch Raum für Kor­rup­tion.Nicole, wieso braucht es auch heute noch Hil­f­swerke?NB: Für mich ist es eine Frage der glob­alen Sol­i­dar­ität und Gerechtigkeit. Wir haben glob­ale Prob­leme und wir soll­ten sie glob­al ange­hen. Ich sehe die Zusam­me­nar­beit mit unseren Part­nern nicht als einen Wis­senstrans­fer vom glob­alen Nor­den zum glob­alen Süden. Für mich sind das gemein­same Lern­prozesse, es ist ein Wis­sensaus­tausch, und ich per­sön­lich nehme da auch immer extrem viel mit.EM: Wir behaupten, wir hät­ten die eine Welt, aber wir haben mehrere Wel­ten. In der Diskus­sion stört mich, dass wir der Geschichte nicht aus­re­ichend Rech­nung tra­gen. Mich stört zum Beispiel, dass es bei den ehe­ma­li­gen Kolo­nialmächt­en nie eine Aufar­beitung und Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung der Kolo­nialzeit gegeben hat. Momen­tan begin­nt sie langsam, mit der Diskus­sion über Resti­tu­tio­nen. Das Prob­lem in Afri­ka ist, dass dieser Kon­ti­nent sich in ein­er Welt zurechtfind­en muss, die er nicht selb­st aufge­baut hat. Wir leben in ein­er europäis­chen Welt und sie ist voller Wider­sprüche. Und diese Wider­sprüche kom­men dann in der Entwick­lungsar­beit zum Tra­gen.Was hal­tet ihr denn von der Idee des soge­nan­nten «give direct­ly»? Das ist die Idee eines bedin­gungslosen Grun­deinkom­mens. Ein Men­sch bekommt beispiel­sweise 1000 Dol­lar und kann damit machen, was er will. Wäre das bess­er als der aktuelle Entwick­lungsap­pa­rat? EM: Ich würde das begrüssen. Aber die Frage ist, ob dieser inter­na­tionale Entwick­lungsap­pa­rat, die Leute, die von der Entwick­lungszusam­me­nar­beit leben, dazu bere­it wären. Anfang der 2000er war eine Direk­t­bud­geth­il­fe bere­its im Gespräch. Sie ist genau am Wider­stand des inter­na­tionalen Entwick­lungsap­pa­rats gescheit­ert. Weil die Leute sich nicht vorstellen kon­nten, keine Auf­gabe mehr zu haben. Damals ging es nicht darum, das Geld an einzelne Indi­viduen zu verteilen, son­dern es den afrikanis­chen Regierun­gen zur Ver­fü­gung zu stellen, und die soll­ten dann entschei­den, was damit geschieht. Aber es kam nicht dazu, weil die offiziellen Entwick­lung­shelfer Wider­stand geleis­tet haben. Ein weit­er­er Punkt, den ich in diesem Zusam­men­hang noch ansprechen möchte: In unseren Ver­suchen, Entwick­lung­sher­aus­forderun­gen zu definieren, sprechen wir immer von Armut. Aber aus mein­er Sicht als Afrikan­er ist nicht die Armut das Prob­lem, son­dern der Reich­tum. Denn die Art und Weise wie die Welt organ­isiert ist, wie manche Län­der reich wer­den, ist der Grund, weshalb es arme Län­der gibt. Wenn wir sagen, «wir müssen etwas gegen Armut tun», dann übernehmen wir die Per­spek­tive der Län­der, die ein Inter­esse daran haben, die Struk­turen so zu belassen, wie sie sind. Wenn wir aber die ganze Diskus­sion auf den Kopf stellen wür­den und sagen wür­den: «Nein, nicht die Armut ist das Prob­lem, son­dern der Reich­tum», dann hät­ten wir eine andere Diskus­sion.Gekürztes Inter­view. Das Inter­view führte San­dra Leis für den Pod­cast «Laut+Leis».
Die ganze Folge kann unter dem Titel «Wie sinnvoll ist Entwicklungshilfe?» bei verschiedenen Podcast-Anbietern abgerufen werden oder direkt auf der Website kath.ch/podcast.
Redaktion Lichtblick
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