«Man muss in Spannung bleiben – ​sich aber nicht verspannen»

«Man muss in Spannung bleiben – ​sich aber nicht verspannen»

  • Die Coro­n­akrise hat ein­mal mehr gezeigt, wie unverzicht­bar gut aus­ge­bildetes Pflegeper­son­al in Spitälern und Heimen ist.
  • Doch wer pflegt die Pflegerin­nen und Pfleger, wenn die Krise weit­er anhält und nie­mand da ist, der das erschöpfte Per­son­al ablösen kann?
  • Hor­i­zonte hat im Kan­ton­sspi­tal Baden und im Reuss­park Nieder­wil nachge­fragt.


Plöt­zlich standen sie im Ram­p­en­licht, die rund 220’000 Frauen und Män­ner, die sich in der Schweiz um Kranke und Betagte küm­mern. Als das Coro­n­avirus im ver­gan­genen Jahr zu wüten begann und die Infek­tions- und Hos­pi­tal­isierungszahlen drama­tisch anstiegen, da wurde auf ein­mal über sie berichtet, über all die Pflege­fach­per­so­n­en, Fach­leute Gesund­heit, Pflege­helfer wie auch Assis­ten­ten Gesund­heit und Soziales, die vor dem dro­hen­den Kol­laps des Gesund­heitssys­tems in stiller Überzeu­gung zusam­men­standen und bis an die Gren­zen ihrer eige­nen Kräfte gin­gen, um die Leben ander­er Men­schen zu schützen.

Unter dem Schock der ersten Pan­demiewelle entwick­elte sich in der Bevölkerung ein starkes Bewusst­sein dafür, welche Son­der­leis­tun­gen das medi­zinis­che Per­son­al in den Spitälern, Kliniken und Heimen in diesem Land aber auch weltweit erbrachte. Als Zeichen der Anerken­nung wur­den bren­nende Kerzen in die Fen­ster gestellt, es gab rund um den Globus Aktio­nen, bei denen die Men­schen aus Dankbarkeit für den uner­müdlichen Ein­satz der Ärzte und Pfleger san­gen und applaudierten. Die Bilder davon sorgten via Social Media und auch über offizielle Medi­enkanäle für ein wel­tumspan­nen­des Wirge­fühl.

Zu wenige Diplomierte

Schon während dieser Zeit der öffentlichen Belo­bi­gun­gen melde­ten sich immer wieder Vertreterin­nen der Pflege­fach­branche – nach wie vor arbeit­en zu mehr als 90 Prozent Frauen in der Gesund­heits- und Krankenpflege – zu Wort, die darauf hin­wiesen, dass leuch­t­ende Kerzen und Applaus zwar wohltuende Zeichen der Anerken­nung seien, dass dadurch aber nichts am Pflegenot­stand in der Schweiz geän­dert werde. Tat­säch­lich sind von den 220’000 im Pflege­bere­ich Täti­gen nur ger­ade 99’000 diplomierte Pflege­fach­per­so­n­en.

Um Geld zu sparen, beset­zen Spitäler und Pflege­heime offene Stellen oft mit gün­stigeren Hil­f­skräften. Diese kön­nen aber keine diplomierte Fachkraft erset­zen, wenn diese wegen Krankheit oder Über­las­tung aus­fällt. Für den Pflegenot­stand gibt es einen ein­fachen Grund: Es fehlt am Nach­wuchs in dieser Branche, weil der Beruf für junge Men­schen offen­sichtlich zu anstren­gend und darum, bei ver­gle­ich­sweise niedrigem Lohn, zu wenig attrak­tiv ist.

Seelsorger sind da

[esf_wordpressimage id=“30735” width=“half” float=“left”][/esf_wordpressimage]Diejenigen, die ihrem Beruf die Treue hal­ten, ver­suchen aufz­u­fan­gen, was an Zusatzarbeit durch Coro­na anfällt. Das belastet nicht nur den Kör­p­er, son­dern auch die Seele. Veroni­ka Scoz­zafa­va ist die katholis­che Heim­seel­sorg­erin im Reuss­park Nieder­wil. Bei ihren Besuchen auf den Wohn­grup­pen spricht sie das Per­son­al vor Ort gezielt an, denn sie hat die Erfahrung gemacht, dass sich viele erst dann getrauen, über belas­tende Sit­u­a­tio­nen zu sprechen. «Das gilt über­haupt für unsere Arbeit hier», sagt die erfahrende Seel­sorg­erin, «je mehr mein Kol­lege von der reformierten Kirche und ich präsent sind, umso mehr wer­den wir auch wahrgenom­men. Ein schönes Erleb­nis hat­te ich, als ich einen Gottes­di­enst auf ein­er Sta­tion feierte und alle Pflegerin­nen und Pfleger dazu kamen. Ein­er von ihnen ist sog­ar ein Mus­lim. Ich habe ein paar spezielle Für­bit­ten für sie gesprochen, und nach­her kamen sie zu mir und haben sich sehr dafür bedankt.»

[esf_wordpressimage id=“30736” width=“half” float=“right”][/esf_wordpressimage]Spitalseelsorger Jür­gen Heinze, der im Kan­ton­sspi­tal Baden arbeit­et, bestätigt: «Es gibt schon vere­inzelte Gespräche mit Leuten aus der Pflege. Da hört man dann auch, wie belas­tend die Sit­u­a­tion für manche ist. Aber sie kom­men nicht in Scharen.» In der Spi­talseel­sorge des KSB arbeit­en neben Jür­gen Heinze noch drei weit­ere Seel­sorg­er. Bei ihren Patien­tenbe­suchen kom­men sie automa­tisch mit den Mitar­bei­t­erin­nen und Mitar­beit­ern des KSB in Kon­takt, doch um seel­sorg­erische Betreu­ung wer­den sie dabei eher nicht gebeten. «Ich glaube schon», sagt Jür­gen Heinze, «dass es bei eini­gen Pflegeper­so­n­en ein Lei­den im stillen Käm­mer­lein gibt, aber das lösen sie auf indi­vidu­elle Weise.»

Corona-Careteam

[esf_wordpressimage id=“30734” width=“half” float=“left”][/esf_wordpressimage]«Corona wird uns wohl noch lange beschäfti­gen», sagt Viviane Per­drizat, Lei­t­erin Betrieblich­es Gesund­heits­man­age­ment im Kan­ton­sspi­tal Baden. «Man muss in Span­nung bleiben – sich aber nicht verspan­nen.» Im KSB wusste man, was im Falle ein­er Pan­demie auf die 2’653 Spi­ta­langestell­ten zukom­men würde, beson­ders auf die 1’024 Pflegerin­nen und Pfleger im Betrieb. Darum hat die hau­seigene Task­force, ein inter­diszi­plinäres Team mit Vertretern aus der Geschäft­sleitung und ver­schiede­nen Fach­bere­ichen des KSB, schon im ver­gan­genen Früh­ling die Ein­set­zung eines Coro­na-Careteams ver­an­lasst. Es beste­ht aus Viviane Per­drizat, ein­er Psy­cholo­gin, einem Seel­sorg­er und einem Mit­glied des Ethik­fo­rums.

Über eine eigens ein­gerichtete Tele­phon­hot­line kon­nten sich die Mitar­beit­er des KSB an das Careteam wen­den, wären sie im Zusam­men­hang mit Coro­na in psy­chis­che oder physis­che Nöte ger­at­en. Da dieses Ange­bot nur auf geringe Res­o­nanz stiess, erset­zte das Careteam die Hot­line durch ein E‑Mailpostfach, das aber auch wenig angeschrieben wurde. «Die meis­ten Anfra­gen betrafen ganz konkrete, vornehm­lich medi­zinis­che und organ­isatorische Aspek­te rund um das Virus», berichtet Viviane Per­drizat.

Existenzielle Fragen

Vergebens waren die Bemühun­gen der Geschäft­sleitung aber nicht, denn diejeni­gen, die auf­grund der Coro­n­a­pan­demie doch Äng­ste entwick­el­ten oder deren Pri­vatleben auf ein­mal in Schieflage geri­et, fan­den in Viviane Per­drizat und ihrer Kol­le­gin beim Betrieblichen Gesund­heits­man­age­ment (BGM) kom­pe­tente Gesprächspart­ner­in­nen, um ihre Sor­gen loszuw­er­den und pro­fes­sionelle Hil­festel­lung zu erhal­ten. «Seit Jan­u­ar haben sich rund 60 Per­so­n­en gemeldet. Mit jed­er davon wur­den sich­er eines, je nach Bedarf aber auch mehrere Gespräche geführt. Zwei Drit­tel dieser Gespräche hat­ten einen Coro­n­ahin­ter­grund», resümiert die Lei­t­erin BGM. Exis­ten­tielle Fra­gen taucht­en dabei auf, es gehe um den Umgang mit der steigen­den Ver­ant­wor­tung, um Über­forderung, kör­per­liche und seel­is­che Gren­zen, finanzielle Sor­gen, belas­tende famil­iäre The­men, um Sin­n­fra­gen – «Bin ich in dem Beruf noch richtig…?» – und um das Prob­lem, sich sel­ber nicht mehr gerecht zu wer­den.

Auf viele Fra­gen kön­nen die diplomierten Sozialar­bei­t­erin­nen des BGM direkt antworten oder weit­er­führende Kon­tak­te ver­mit­teln. Sie triagieren aber auch zu ihren Kol­le­gen vom Coro­na-Careteam, das weit­er beste­hen bleibt, und ste­hen im Aus­tausch mit den Per­son­alärztin­nen des Haus­es. So entste­ht ein tragfähiges Netz, das allen Mitar­beit­ern des KSB ein Gefühl von Sicher­heit ver­mit­teln kann. Viviane Per­drizat ist sich sich­er: «Unter­stützende Berufe wer­den noch lange zu tun haben, auch wenn dann das Gröb­ste mal über­standen ist.» ‧

Offene Kommunikation

[esf_wordpressimage id=“30733” width=“half” float=“right”][/esf_wordpressimage]Wie im KSB, set­zte man auch im Reuss­park Nieder­wil, dem grössten Pflege­heim im Aar­gau, von Anfang an auf eine solide Vor­bere­itung und eine kon­se­quente, offene Kom­mu­nika­tion. «Wir informieren auf allen möglichen Kanälen», erk­lärt die Lei­t­erin Geri­atrie im Reuss­park, Priska Sci­mon­et­ti. «Wir kom­mu­nizieren über Mes­sen­ger­di­en­ste, wir drehen Videos, schreiben E‑Mails, und auch über den Lohn­brief erre­ichen die neusten Infos unsere Mitar­bei­t­en­den. Darüber hin­aus haben wir unsere Covid-Krisen­stab­ssitzung. Da wer­den drän­gende Fra­gen aus der Basis ver­ar­beit­et und die Antworten direkt wieder an die Basis zurück­gegeben.»

Von den total 512 Angestell­ten des Reuss­parks arbeit­en 340 Per­so­n­en im Bere­ich Pflege. Die Coro­n­a­pan­demie ist auch für das gut geschulte Per­son­al in Nieder­wil eine echte Her­aus­forderung, denn viele der 300 Heim­be­wohn­er lei­den unter demen­tiellen Erkrankun­gen, und alle gehören per se zur vul­ner­a­blen Gruppe. «Aktuell haben wir zwar keine akuten Fälle», bestätigt Priska Sci­mon­et­ti, «aber es gab doch schon ein paar Fälle. Dann isolieren wir sofort die ganze betrof­fene Sta­tion, inklu­sive Per­son­al. Das belastet die Teams schon sehr. Aber wir haben das grosse Glück, dass wir mehr Fach­per­son­al im Haus haben als ander­swo. Unser medi­zinis­ch­er Dienst beste­ht aus einem zehnköp­fi­gen, inter­diszi­plinären Team aus Geri­atern, All­ge­mein­medi­zin­ern und klin­is­chen Fach­spezial­is­ten. Die sind im Haus und kön­nen oft­mals Fra­gen direkt beant­worten. Zudem unter­stützt uns die Infektiologie/Spitalhygiene des KSB. Ganz wichtig ist auch die Sol­i­dar­ität unter den Teams. Wenn ein Team in Iso­la­tion war, wurde es von den anderen Teams und der Seel­sorge mit Anrufen, kleinen Briefen und Fresspäckchen unter­stützt. Das hat sie psy­chisch enorm aufgestellt.»

Seelsorge ist vor Ort

Auch im Reuss­park wurde eine Coro­na-Hot­line für das Per­son­al ein­gerichtet. Sie wurde aber, wie die im KSB, noch nicht benutzt. «Das liegt wohl auch daran», sagt Priska Sci­mon­et­ti, «dass unsere Heim­seel­sorge von Mon­tag bis Fre­itag im Haus unter­wegs ist. Die bei­den fan­gen vieles direkt vor Ort auf. Ausser­dem haben wir einen Coach, der regelmäs­sig vor­beikommt und an den sich unser Per­son­al wen­den kann, wenn es etwas bedrückt. Auch zwei Leute im Haus sel­ber haben eine Coachin­gaus­bil­dung.» An pro­fes­sioneller Betreu­ung fehlt es dem Pflegeper­son­al im Reuss­park also nicht. Wenn nun auch noch die fünf offe­nen Stellen für diplomierte Pflege­fach­leute und die sechs für Fachangestellte Gesund­heit beset­zt wer­den kön­nten, dann wäre ein weit­eres Prob­lem in dieser Coro­n­akrise gelöst.

Christian Breitschmid
mehr zum Autor
nach
soben