«Eine persönliche Insel zum Auftanken war noch nie wichtiger als jetzt»

«Eine persönliche Insel zum Auftanken war noch nie wichtiger als jetzt»

  • Seit knapp einem Jahr hält das Virus, Covid-19, die ganze Welt in Atem.
  • Die psy­chis­che Belas­tung der Men­schen ist gross und wird täglich noch gröss­er. Es ist eine all­ge­meine, grosse Gereiztheit spür­bar.
  • Hor­i­zonte hat mit Hans Niggeli, dem Leit­er der öku­menis­chen Spi­talseel­sorge im Kan­ton Aar­gau, über die aktuell düstere Sit­u­a­tion gesprochen.
     

Herr Niggeli, seit knapp einem Jahr kur­siert das Virus Covid-19 in unser­er Bevölkerung. Inwieweit ist dies bei Ihrer Arbeit in den Psy­chi­a­trischen Dien­sten Aar­gau (PDAG) in Königs­felden spür­bar? 
Hans Niggeli:
Die notwendi­gen, sich auch immer wieder ändern­den Schutz­mass­nah­men, machen die Seel­sorge noch anspruchsvoller und kom­pliziert­er. Dies sowohl in Bezug auf die Durch­führung von gottes­di­en­stlichen Feiern und Rit­ualen, als auch auf die eigentlichen seel­sorg­er­lichen Gespräche. Feiern wer­den in kleinen Grup­pen mehrmals durchge­führt oder auf Video aufgenom­men und einzel­nen Sta­tio­nen auf einem USB-Stick zugeschickt. Die Ver­ständi­gung mit Masken und der notwendi­gen Dis­tanz ist nicht nur bei älteren Men­schen meist erschw­ert. Men­schen mit demen­tiellen Erkrankun­gen ist es öfters nicht möglich, die notwendi­ge Dis­tanz einzuhal­ten oder die Maske kor­rekt zu tra­gen. Der Umgang mit Nähe und Dis­tanz ist akzen­tu­iert. Ger­ade ältere Men­schen sehnen sich nach Nähe, nach Berührung, und doch braucht es von unser­er Seite ver­ständ­nis- und liebevolle, aber auch klare Gren­zen.

Es gibt momen­tan mehr Per­so­n­en, welche auf­grund der aktuellen Sit­u­a­tion psy­chisch angeschla­gen sind, doch wollen deshalb auch mehr Per­so­n­en seel­sorg­erische Unter­stützung?
Da der Kon­takt der Patien­ten durch die Schutz­mass­nah­men bisweilen sowohl untere­inan­der als auch nach aussen geringer ist, wächst der Bedarf nach seel­sorg­er­lich­er Begleitung. Auch wenn eher sel­ten die Coro­n­akrise der Aus­lös­er für ein Gespräch ist, so ste­hen die The­men doch öfters in unmit­tel­bar­er Verbindung dazu: Beziehungs­the­men, Zukun­ft­säng­ste, das Gefühl des Aus­geliefert­seins und der Hil­flosigkeit,  des Selb­st­wirk­samkeitsver­lustes, Iso­la­tion, Ein­samkeit und so weit­er. Die Seel­sorge ist aus­ge­lastet, und immer wieder bleibt das Gefühl, nicht genü­gend Zeit und Raum zu haben, um den Anfra­gen und Bedürfnis­sen gerecht zu wer­den. Dies tritt zwar auch unter «nor­malen» Umstän­den auf, hat mit den Her­aus­forderun­gen durch Covid-19 jedoch deut­lich zugenom­men. 

Wie geht die Seel­sorge mit dieser speziellen Sit­u­a­tion um? 
Wir sind auch und ger­ade in unruhi­gen Zeit­en für die Patien­ten da, ver­suchen, mit ihnen so oft wie möglich nach draussen zu gehen, einen Spazier­gang auf dem Gelände zu machen oder im Begeg­nungszen­trum einen Kaf­fee zu trinken. Solche Ange­bote ver­schär­fen aber auch das Zeit­prob­lem. Zudem haben wir das religiöse Ange­bot angepasst, indem wir zum Beispiel Feiern mehr auf der Sta­tion sel­ber als sta­tion­süber­greifend anbi­eten. 

Sie wer­den also auch per­sön­lich mehr gefordert. Wie wer­den Sie dieser Sit­u­a­tion Herr? 
Es sind immer wieder Ein­fall­sre­ich­tum, Kreativ­ität und Anpas­sungs­fähigkeit gefordert: Zum Beispiel Feiern auf Video aufnehmen, eine Wei­h­nachts­feier nur mit drei Patien­ten und dafür mehrmals durch­führen et cetera. Um mit den Schutz­mass­nah­men, den anforderungsre­ichen Gesprächen und Sit­u­a­tio­nen gut und ein­heitlich umge­hen zu kön­nen und sel­ber gut in der Kraft zu bleiben, sind für uns der inten­sive Aus­tausch und die gegen­seit­ige Unter­stützung und Wertschätzung im Team äusserst wichtig und tra­gend. Eben­so auch die hil­fre­iche Ein­bindung in die PDAG, der gute Kon­takt  mit den Infek­ti­olo­gen und mit dem Per­son­al.  

Was beschäftigt die Men­schen in Bezug auf das Virus Covid-19? 
Bei den Gottes­di­en­sten und auf den Sta­tio­nen darf nicht mehr gesun­gen wer­den. Dies ver­mis­sen die Men­schen sehr. Sin­gen ist für sie eine Quelle der Freude, der Ablenkung von Sor­gen wie auch der Erin­nerun­gen an wertvolle Zeit­en, wenn es etwa heisst: «Damals im Chor haben wir dieses Lied gesun­gen.» Bei ein­er solchen Aus­sage erfüllt ein Lachen das Gesicht. Das Abspie­len der Musik per Handy ist zwar ein hil­fre­ich­es Mit­tel, aber es erset­zt nicht das Sin­gen mit Herz und Seele. Durch das Sin­gen kön­nen Men­schen wieder etwas sel­ber tun. Diese Quelle der Inspi­ra­tion ist derzeit stark eingeschränkt.

Wie hat sich Ihre Arbeit durch Coro­na all­ge­mein verän­dert?
Sie ist nochmals inten­siv­er gewor­den, unter anderem durch die Schutz­mass­nah­men. Auf manchen Sta­tio­nen müssen Schutzkit­tel getra­gen wer­den, ver­gle­ich­bar mit der Berufs­bek­lei­dung von Ärzten, auf anderen eine umfassende Schutzbek­lei­dung. Eben­so sind wir sel­ber her­aus­ge­fordert, Wege zu find­en, um mit der aktuellen Covid-19 Sit­u­a­tion umzuge­hen, uns per­ma­nent zu informieren und kör­per­lich und seel­isch sta­bil zu bleiben. Ganz bewusst für uns Inseln der Ruhe und Entspan­nung zu suchen und zu find­en, ist noch wichtiger als zuvor.

 

 

Cornelia Suter
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