Corona führt zu Einsamkeit – und höherem Alkoholkonsum

  • Covid-19 ist eine Erkrankung, deren Spät­fol­gen noch unbekan­nt sind. Vor­erst geht es darum, die weit­ere Ver­bre­itung des Coro­n­avirus’ nach Möglichkeit einzudäm­men.
  • Die Vor­sichts­mass­nah­men zwin­gen dazu, zwis­chen­men­schliche Kon­tak­te auf ein Min­i­mum zu reduzieren. Das ver­stärkt vor allem bei älteren und kranken Per­so­n­en das Gefühl des Allein­seins.
  • Licht­man­gel, Nebelt­age, Advents- und Wei­h­nachts­de­pres­sio­nen dro­hen in dieser Zeit zusät­zlich. Der Griff zum «See­len­tröster» Alko­hol ist in dieser Sit­u­a­tion für viele Men­schen die schein­bar einzige Möglichkeit.

Die Kundin kam jede Woche, immer am Don­ner­stag­mor­gen. Sie kaufte eine Flasche Kirsch und liess sie sich vom Per­son­al als Geschenk ein­pack­en. Ein­mal waren so viele Kun­den im Vol­gladen, dass keine der Angestell­ten Zeit hat­te, die Kirschflasche in Geschenkpa­pi­er zu hüllen. «Na, dann bringe ich sie halt so zu meinen Fre­un­den. Sie wer­den sich sich­er auch ohne schöne Ver­pack­ung über mein Geschenk freuen», rief die Kundin laut, pack­te ihre Flasche und ver­liess den Laden. Josef Brun­ner, Laden­leit­er im Volg Meren­schwand, erin­nert sich noch gut an diese Kundin: «Uns allen war klar, dass sie wohl kaum jede Woche bei Fre­un­den ein­ge­laden war, denen sie eine Flasche Kirsch als Geschenk mit­brachte. Aber ich darf sich­er nicht einen Kun­den auf seine Einkäufe oder Gewohn­heit­en ansprechen, geschweige denn darüber urteilen. Es fällt einem ein­fach auf und man macht sich halt im Stillen seine Gedanken darüber.»

Alkoholverkäufe steigen markant

Seit dem soge­nan­nten Lock­down, der im Früh­ling dieses Jahres fast das gesamte Sozialleben in der Schweiz auf Eis gelegt hat, musste sich Josef Brun­ner aber noch viel mehr Gedanken machen, denn die Verkauf­szahlen sein­er Abteilung Weine und Spir­i­tu­osen stiegen markant an. «Das lag sich­er daran, dass die Restau­rants und Garten­beizen geschlossen waren. So ver­lagerte sich der Kon­sum von Alko­hol vom öffentlichen in den pri­vat­en Bere­ich. Das Bier, den Most oder die Flasche Wein, die man in der Gast­stätte getrunk­en hätte, die trank man jet­zt halt zu Hause im Garten oder auf der Ter­rasse.» Dazu kam, dass all die Früh­lings- und Som­mer­feste, alle Grossan­lässe, bei denen man in gesel­liger Runde den ein oder anderen Trunk genossen hätte, abge­sagt wer­den mussten. «Auch dieser Kon­sum ver­lagerte sich vom Anlass in die heimis­che Stube», kon­sta­tiert der Vol­gfil­ialleit­er.

In dieser Pri­vatisierung des Alko­holkon­sums sieht Josef Brun­ner eine Gefahr: «Es fehlt dabei die soziale Kon­trolle. Wenn man mit Fre­un­den oder im Vere­in an ein Fest geht, dann ist da immer ein­er, der einen warnt oder bremst, wenn man es mit dem Alko­hol übertreibt. Auch in einem Wohn­quarti­er kann diese soziale Kon­trolle in gewis­sem Masse noch funk­tion­ieren. Aber es wird immer weniger, je mehr sich die Leute zurückziehen. Früher hielt man sich doch eher noch zurück, weil es immer hiess: ‹Was sollen die Leute von dir denken…?› Heute kann man darüber erschreck­en, wie wenig die Leute über­haupt aneinan­der denken.»

«Es gibt zwei Arten von Kunden»

Schon früher gab es Ereignisse, die die Men­schen so sehr quäl­ten, dass sich diese See­len­not in den Alko­holverkäufen seines Ladens man­i­festierte. Josef Brun­ner erin­nert sich etwa an die Flugzeugkatas­tro­phen 1998 in Hal­i­fax und 2002 bei Über­lin­gen oder an das Atten­tat im Zuger Kan­ton­srat 2001: «Damals merk­te man den Leuten deut­lich an, wie bedrückt sie waren. Jet­zt spürt man diese Bedrück­ung auch wieder. Wer eine Fam­i­lie hat, kann das vielle­icht noch bess­er ver­ar­beit­en. Aber wenn man ganz alleine ist…»

Der Fil­ialleit­er des Vol­gladens in Meren­schwand ken­nt seine Kun­den und er würde das Ver­trauen, das sie in ihn und seine Mitar­beit­er haben, niemals ver­let­zen. Darum erk­lärt er ganz all­ge­mein: «Es gibt zwei Arten von Kun­den, die Alko­hol bei uns kaufen. Die einen sind Geniess­er, die sich oder ihren Gästen etwas Gutes gön­nen wollen. Die kom­men vor­bei, sagen, was sie gern­hab­en, lassen sich von uns auch berat­en und kaufen dann, was ihnen gefällt. Die anderen erscheinen eher zu den Rand­stun­den. Sie kom­men rein und kaufen möglichst viel Alko­hol für wenig Geld.» Das Elend dieser Men­schen berührt Josef Brun­ner, auch wenn er sich bemüht, es an sich abprallen zu lassen: «Ich kann nicht der See­len­dok­tor mein­er Kun­den sein. Dafür gibt es Spezial­is­ten.»

«Unsere Tür muss offen bleiben»

Zu den Spezial­is­ten für men­schliche See­len­nöte gehören ganz sich­er die Seel­sorg­er in den Pfar­reien. Meren­schwand ist zwar momen­tan noch auf der Suche nach ein­er zuständi­gen Per­son für die Pfar­reiseel­sorge, aber den­noch muss im Pas­toral­raum Muri AG und Umge­bung nie­mand auf seel­is­chen Bei­s­tand verzicht­en. Neben Pas­toral­raump­far­rer Stephan Stadler, küm­mern sich Kaplan Julius Dsouza, Diakon Francesco Mar­ra sowie die bei­den Pfar­reiseel­sorg­er Nicole Mac­chia und Ste­fan Heinz­mann um die Men­schen im oberen Freiamt. Auch wenn unter den aktuellen Bes­tim­mungen nicht mehr als 50 Men­schen an einem Gottes­di­enst teil­nehmen dür­fen, so sind die Türen der Pfar­rhäuser und somit der Weg zu einem per­sön­lichen Gespräch für Rat­suchende jed­erzeit offen (siehe Kas­ten unten).

Anlauf­stellen bei Alko­hol­prob­le­men

Wenn Sie jeman­den ken­nen, der im Umgang mit Alko­hol Prob­leme hat oder wenn Sie sel­ber Rat suchen, dann kön­nen Sie sich jed­erzeit ver­trauensvoll an die Seel­sorg­erin oder den Seel­sorg­er Ihrer Pfar­rei wen­den. Im gemein­samen Gespräch wer­den Sie her­aus­find­en, welche Schritte zu unternehmen sind. Sie find­en die Namen und Tele­fon­num­mern auf der Pas­toral­raum- oder Pfar­rei­seite Ihrer Wohnge­meinde hier bei Hor­i­zonte online oder in Ihrer Print­aus­gabe.

Hil­fe und Beratung bietet im Kan­ton Aar­gau auch die Sucht­ber­atung ags. Nieder­schwellige Anlauf­stellen sind auch die Kirch­lichen Regionalen Sozial­dien­ste KRSD, deren Berater im Auf­trag von Lan­deskirche und Car­i­tas zur Ver­fü­gung ste­hen. Auch das Sor­gen­tele­fon ist immer erre­ich­bar für ein helfend­es und unter­stützen­des, anonymes Gespräch. Das Sor­gen­tele­fon für Jugendliche unter der Num­mer 147 . Das Sor­gen­tele­fon Num­mer 143 ste­ht Män­nern und Frauen jeden Alters zur Ver­fü­gung. 

«Das The­ma Alko­holmiss­brauch kommt bei uns jedes Jahr wieder, so ab November/Dezember», bestätigt Diakon Francesco Mar­ra. «Dieses Jahr hat es aber schon im Früh­ling begonnen, als die Coro­n­a­pan­demie zum Lock­down und zu all den anderen Schutz­mass­nah­men führte.» Das grosse Prob­lem im Zusam­men­hang mit dem Alko­holkon­sum sei die Anonymität: «Das bet­rifft ja nicht nur Meren­schwand. Die Leute fahren anonym in ein anderes Dorf, um dort, unerkan­nt, ihren Alko­hol zu kaufen. Sie haben Angst vor der Stig­ma­tisierung.» Wegen dieser Angst sucht­en viele Alko­ho­lab­hängige auch nicht den Kon­takt mit einem Seel­sorg­er. «Wir müssen uns schon klar sein», sagt Francesco Mar­ra, «dass wir Seel­sorg­er das Prob­lem Alko­hol­sucht nicht lösen kön­nen. Aber wir kön­nen den Gang zu ein­er Fach­stelle empfehlen. Und: unsere Tür muss immer offen­bleiben, denn wenn die Men­schen den Kon­takt ver­lieren, dann wird’s gefährlich.»

«Problem ist grösser als unsere Region»

Im weit­eren Gespräch macht Diakon Mar­ra klar, dass neben dem Alko­holmiss­brauch noch ein weit­eres gross­es Prob­lem aus der Coro­n­akrise erwächst: die Armut. In vie­len Pfar­reien erwarte man auf­grund von Stel­len­ver­lus­ten, Kurzarbeit und Umsatzein­bussen bei den Kirchen­mit­gliedern einen spür­baren Rück­gang der Steuere­in­nah­men im kom­menden Jahr. «Unsere Sorge ist es, dass man dann genau dort spart, wo die Gelder am drin­gend­sten gebraucht wer­den, bei der Car­i­tas, bei der ganzen Diakonie. Dabei muss man ger­ade die jet­zt unter­stützen. Wir müssen uns bewusst sein: Dieses Prob­lem ist gröss­er als unsere Region.»

Die Sit­u­a­tion nach einem Dreiviertel­jahr Coro­n­abedro­hung zeige sich akut in der Ein­samkeit, der Unsicher­heit, der Trau­rigkeit und dem Gefühl des Ver­loren­seins viel­er Men­schen. Der erhöhte Alko­holkon­sum ist  nach Ansicht Francesco Mar­ras die Kon­se­quenz aus dieser Sit­u­a­tion. Der Ver­lust der Arbeitsstelle, Kurzarbeit oder auch nur schon die Angst davor, ver­schlim­merten die depres­sive Stim­mung zusät­zlich. Darum ist das Pas­toral­raumteam von Muri und Umge­bung bere­its dabei, eine Strate­gie umzuset­zen, die den Fol­gen von Arbeit­slosigkeit und Armut, Trauer und Ein­samkeit ent­ge­gen­wirkt. «Das fängt in der Adventszeit schon an», ver­rät Francesco Mar­ra. «Wir inten­sivieren die per­sön­liche Kon­tak­tpflege zu unseren Pfar­reim­it­gliedern, etwa indem wir die heilige Kom­mu­nion nach Hause brin­gen oder mit Aktio­nen wie den Advents­geschicht­en, die wir in der Kirche von Bünzen an drei Nach­mit­ta­gen erzählen.» 

Christian Breitschmid
mehr zum Autor
nach
soben