
Bild: © David Fürst
«Betroffene sollen wissen, dass es okay ist, nie zu vergeben»
Agota Lavoyer entlarvt sexualisierte Gewalt als strukturelles gesellschaftliches Problem. Die Kirche sei mit ihren rigiden Machtasymmetrien, Abhängigkeitsverhältnissen und fehlenden Kontrollmechanismen besonders davon betroffen.
Was verÂsteÂhen Sie unter sexÂuÂalÂisiertÂer Gewalt?
AgoÂta LavoyÂer: Ich verÂwende den AusÂdruck als ÜberÂbeÂgriff für alle ForÂmen sexÂueller GrenÂzverÂletÂzunÂgen. Jede HandÂlung, die die sexÂuelle Integrität eines MenÂschen verÂletÂzt, ist eine Form der sexÂuÂalÂisierten Gewalt. Darunter fallÂen Gesten, Mimik, verÂbale AusÂsagen oder körÂperÂliche ÜberÂgriffe. Von schlüpfrigen BemerkunÂgen über Nachrufen auf der Strasse, VerÂschickÂen von unerÂwünÂschtÂen IntimÂbildern bis hin zur VergeÂwalÂtiÂgung.
Ihr neuestes Buch haben Sie gegen das Phänomen der «Rape CulÂture» geschrieben. Was bedeutet dieser Begriff?
Er bedeutet nicht, dass wir in einÂer Gesellschaft leben, in der alle MänÂner VergeÂwaltiger sind. Er bedeutet auch nicht, dass unsere Gesellschaft sexÂuÂalÂisierte Gewalt befürÂwortet. Der Begriff «Rape CulÂture» drückt aus, dass sexÂuÂalÂisierte Gewalt durch eine KulÂtur ermöglicht wird, die sie verÂharmÂlost oder gar ignoriÂert. Die BetrofÂfene abwÂertet, stigÂmaÂtisiert, sie häuÂfig beschämt und zum Schweigen bringt. GleÂichzeitÂig werÂden in dieser KulÂtur Täter entschuldigt, entÂlastet und ihre TatÂen verÂtuscht. «Rape CulÂture» wird ermöglicht durch das Wegschauen und Schweigen jedes und jedÂer EinzelÂnen.
Worin grünÂdet diese KulÂtur?
Ein wichtiger Teil einÂer patriÂarÂchal geprägten Gesellschaft ist die VerÂfüÂgungsÂgeÂwalt von MänÂnern über sogeÂnanÂnt unterÂgeÂordÂnete KörÂpÂer, über Frauen und Kinder. Diese war lange auch gesetÂzlich abgesichert, zum Beispiel durch die fehlende StrafÂbarkeit der VergeÂwalÂtiÂgung in der Ehe oder dem verÂalÂteten SexÂuÂalÂstrafrecht, das wir bis 2024 hatÂten. Freud etwa hat die These vertreten, dass sich der Mann aufÂgrund seinÂer Triebe entÂladen müsse, damit sich bei ihm kein sexÂueller ÜberÂdruck aufÂbaue und erkÂlärte somit sexÂuÂalÂisierte Gewalt zu einem unkonÂtrolÂlierÂbaren und biolÂoÂgisch notwendiÂgen VorÂgang. Zudem behauptete er, dass Frauen sich deshalb nicht gegen VergeÂwalÂtiÂgunÂgen wehrten, weil es sie insÂgeÂheim erregte. Heute sind all diese biolÂoÂgisÂtisÂchen ErkÂlärunÂgen für sexÂuÂalÂisierte Gewalt widerÂlegt. Viel mehr hat sexÂuÂalÂisierte Gewalt kulÂturell bedÂingt Ursachen: MännlichkeitsvorstelÂlunÂgen, Abhängigkeits- und MachtverÂhältÂnisse, SexÂisÂmus, FrauenÂfeindlichkeit.
Welche Rolle spielt dabei die katholisÂche Kirche?
Die katholisÂche Kirche ist traÂdiÂtionell eine sehr hierÂarÂchisch-patriÂarÂchale InstiÂtuÂtion. Die EntscheiÂdungsÂgeÂwalt liegt fast aussÂchliesslich bei MänÂnern, Frauen haben nur eingeschränkÂte TeilÂhabe an Macht und GestalÂtung. GeschlechterÂstereoÂtype werÂden götÂtlich legitÂimiert: Der Mann ist der Frau überÂlegen, die Frau hat die pasÂsive Rolle der GebenÂden, FürÂsorÂglichen, DienenÂden, weil Gott dies so will. Hinzu komÂmen die KonÂtrolle und Tabuisierung der weibÂlichen SexÂuÂalÂität in der Kirche. All das müsste ändern, um die «Rape CulÂture» zu entkräften, und das ist schwierig, wenn dies verÂmeintlich von Gott gegeben ist.
Hier werden Betroffene gehört
UnabÂhängige AnlaufÂstellen für BetrofÂfene in der Deutschschweiz ist die OpferÂhilÂfe Schweiz. Eine ÜberÂsicht der kanÂtonÂal anerkanÂnten OpferÂberÂatungsstellen findÂen Sie auf www.opferhilfe-schweiz.ch. Diese sind seit JanÂuÂar 2025 formell für die Beratung von Opfern von MissÂbrauch im kirchÂlichen Umfeld zuständig und lösen die kirchÂlichen OpferÂberÂatungsstellen ab.
Hier findÂen Sie eine ÜberÂsicht zu den SelbÂsthilÂfeÂgrupÂpen.
Wenn Sie bereÂit sind, über sexÂuellen MissÂbrauch im Umfeld der katholisÂchen Kirche zu ForschungszweckÂen zu berichtÂen, melden Sie sich bitte unter: ​ (deutsch), (franzöÂsisch) oder (italÂienisch).
Wie funkÂtionÂieren patriÂarÂchal geprägte InstiÂtuÂtioÂnen wie die katholisÂche Kirche?
CharakÂterÂisÂtisch darin sind MänÂnerÂbünde – ich nenne sie auch männliche MonokulÂturen – in denen MänÂner PrivÂiÂlegien aussÂchliesslich untereÂinanÂder weitÂergeben. Um das zu rechtÂferÂtiÂgen, wird alles weibÂlich KonÂnotierte abgewÂertet – in der breÂitÂen Gesellschaft biolÂoÂgisÂtisch begrünÂdet, in der Kirche zusätÂzlich theÂolÂoÂgisch. In dieser Logik sind MänÂner die SubÂjekÂte, Frauen und ihre KörÂpÂer die ObjekÂte, über die verÂfügt werÂden darf. Die Frau hat ein reines Wesen zu sein, mit Maria, der jungfräulichen MutÂter, als IdeÂalÂbild.
Vor zwei Jahren wurde die PilotÂstudie zum sexÂuellen MissÂbrauch in der katholisÂchen Kirche pubÂliziert. Wie haben Sie das EreigÂnis wahrgenomÂmen?
Das ErgebÂnis hat mich nicht erstaunt. Das AusÂmass an sexÂuÂalÂisiertÂer Gewalt in unserÂer Gesellschaft ist gross. Jede achte Frau berichtet, dass sie vergeÂwaltigt worÂden ist. Jedes siebte Kind erfährt sexÂuÂalÂisierte Gewalt. Alle Frauen erleben irgendÂwann eine sexÂuelle BeläsÂtiÂgung. Die Kirche ist von dieser sexÂuÂalÂisierten Gewalt nicht ausgenomÂmen. Im GegenÂteil: die rigiÂden MachÂtaÂsymÂmeÂtrien und AbhängigkeitsverÂhältÂnisse in der Kirche, die fehlenÂden KonÂtrollmechÂaÂnisÂmen führen zu einÂer gewaltÂgewährenÂden KulÂtur.
Haben Sie in während Ihrer Arbeit in der OpferÂberÂatung ErfahrunÂgen gemacht mit MenÂschen, die sexÂuÂalÂisierte Gewalt im Umfeld der Kirche erlebt haben? Gibt es SpezÂiÂfiÂka?
Es lohnt sich, auf die EigenÂheitÂen verÂschiedenÂer Orte zu schauen, wo sexÂuÂalÂisierte Gewalt geschieht, um die MenÂschen bessÂer schützen und unterÂstützen zu könÂnen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die sexÂuÂalÂisierte Gewalt im kirchÂlichen Milieu spirÂiÂtuÂalÂisiert wurde. «Gott will das so», sagten die Täter, oder «Diese Liebe, die du durch mich erfährst, ist die Liebe Gottes». Die TäterÂstrateÂgien waren so geartÂet, dass Gewalt unter dem DeckÂmanÂtel der götÂtlichen FürÂsorge verübt wurde.
Viele BetrofÂfene haben nicht über den MissÂbrauch gesprochen oder erst nach JahrzehnÂten. Warum ist es im kirchÂlichen KonÂtext so schwierig über sexÂuÂalÂisierte Gewalt zu sprechen?
Ermutigt.
«Mit senÂsiÂblem und inkluÂsivem Blick geben die Expert:innen AgoÂta LavoyÂer und Sim Eggler in diesem HandÂbuch Antworten, die ermächtiÂgen und stärken sollen. Sie unterÂstützen BetrofÂfene darin, die Gewalt einzuordÂnen und ihre ReakÂtioÂnen zu verÂsteÂhen. Die Autor:innen zeigen auf, was BetrofÂfene tun könÂnen und welche UnterÂstützungsangeÂbote ihnen in der Schweiz offenÂsteÂhen.»

Das ist ein weitÂeres SpezÂiÂfikum. Im kirchÂlichen Umfeld ist es noch schwieriger über sexÂuÂalÂisierte Gewalt zu sprechen, weil MenÂschen, die religiös sozialÂisiert worÂden sind, oft die Sprache fehlt, um über SexÂuÂalÂisiertes zu sprechen. SexÂuÂalÂisierte Gewalt erfahren zu haben fühlt sich für viele als Sünde an. Das Sprechen über sexÂuÂalÂisierte Gewalt löst dann grosse SchamgeÂfühÂle aus. AusserÂdem habe ich einige BetrofÂfene beratÂen, die sich innerÂhalb der Kirche Gehör verÂschafÂfen wollÂten, die nicht gehört oder deren ErlebÂnisse verÂharmÂlost oder verÂtuscht wurÂden. Und schliesslich ist der VerÂtrauensverÂlust in die Kirche für die BetrofÂfeÂnen immens, weil sie vielleÂicht auch ihre spirÂituelle Heimat verÂlieren.
Gibt es weitÂere EigenÂheitÂen im kirchÂlichen Umfeld?
Ich habe die ErfahrunÂgen gemacht, dass im kirchÂlichen Umfeld Konzepte wie Reue oder VergeÂbung einen immensen zusätÂzlichen Druck auf die BetrofÂfeÂnen ausüben. Um eine solche GewaltÂtat verÂarÂbeitÂen zu könÂnen, muss kein Opfer dem Täter vergeben WomÂöglich ist es für eine BetrofÂfene sehr wichtig, zu vergeben. Das ist okay. Ich wünÂsche mir aber, dass BetrofÂfene wisÂsen, dass es auch okay ist, nie zu vergeben.
Welche Rolle spielt für Sie das ZöliÂbat im ZusamÂmenÂhang mit sexÂuÂalÂisiertÂer Gewalt im kirchÂlichen Umfeld?
Ich glaube, im ZöliÂbat einen Grund zu suchen, ist zu einÂfach. Ein enthaltÂsam lebenÂder MenÂsch kann sich wie jedÂer andere MenÂsch in jedem Moment entscheiÂden, Gewalt auszuüben oder nicht und die körÂperÂliche Integrität seines Gegenübers zu respekÂtieren oder nicht.
Sie analysieren die mediÂale BerichterÂstatÂtung über sexÂuÂalÂisierte Gewalt. Wie wird im Umfeld der Kirche berichtet?
Zu VorÂfällen in der katholisÂchen Kirche wird ebenÂso wie zu anderen Fällen immer wieder verÂharmÂlosend berichtet. Zum Beispiel wird die Gewalt nicht klar benanÂnt. Der Titel lautet dann: «SkanÂdal in der Kirche» oder «Me-too-VorÂfälle in der Kirche», «SexÂopfer in der Kirche». Da wird «Gewalt» mit «Sex» ersetÂzt, vielleÂicht um mehr AufmerkÂsamkeit zu generÂieren oder auch um zu verÂharmÂlosen. Zudem bekommt die OpferÂperÂspekÂtive viel zu wenig Raum. Im AllÂgeÂmeinen wird über sexÂuÂalÂisierte Gewalt als Einzelfall berichtet. Bei der PubÂlikaÂtion der Studie wurde hingeÂgen klar, dass die über 1000 BetrofÂfeÂnen keine Einzelfälle sind, sonÂdern dass die sexÂuÂalÂisierte Gewalt strukÂturell ist.
Worauf ist bei einÂer senÂsiÂblen BerichterÂstatÂtung zu achtÂen?
Es ist wichtig, dass die BetrofÂfeÂnen aus einÂer ermächtigten PerÂspekÂtive berichtÂen könÂnen. Das beginÂnt schon bei der Bebilderung eines Artikels. Die DarstelÂlung eines MinÂisÂtranÂten, der auf einÂer dunÂklen Treppe kauert und sich die Ohren zuhält, trigÂgert und schwächt BetrofÂfene. Stattdessen könÂnte eine PerÂson abgeÂbildet werÂden, die sich HilÂfe holt, sich jemanÂdem anverÂtraut. BetrofÂfene sollen durch die BerichterÂstatÂtung ermutigt werÂden.
Was könÂnen wir gesellschaftlich tun, um gegen sexÂuÂalÂisierte Gewalt vorzugeÂhen?
Es geht darum, BetrofÂfene von sexÂuÂalÂisiertÂer Gewalt bedinÂgungsÂlos zu unterÂstützen. Wir müssen ihnen sigÂnalÂisieren, dass sie über ihre Erfahrung sprechen dürÂfen, dass wir ihnen glauben und dass sie sichÂer sind. Wir wisÂsen, dass sich nur jede zehnte Frau, die von sexÂuÂalÂisiertÂer Gewalt betrofÂfen ist, UnterÂstützung sucht und eine MelÂdung macht. Das muss sich ändern. Wir brauchen ein gemeinÂsames VerÂständÂnis von sexÂuÂalÂisiertÂer Gewalt und die HalÂtung, dass diese in allen ForÂmen abzulehnen ist. AusserÂdem müssen wir die Bilder von Männlichkeit revÂiÂdieren. So lange wir GeschlechterÂhierÂarÂchien und AbhängigkeitsverÂhältÂnisse haben, so lange DomÂiÂnanz eine entscheiÂdende QualÂität von Männlichkeit ist und NarÂraÂtive kurÂsieren, dass MänÂner Frauen erobern müssen oder MänÂner von Natur aus oder Gott gegeben mehr zu sagen hätÂten, solange werÂden wir sexÂuÂalÂisierte Gewalt nicht verÂminÂdern könÂnen. Das gelingt erst dann, wenn wir an den gesellschaftlichen MachtverÂhältÂnisÂsen rütÂteln.
Dann tut sich die Kirche selbÂst einen GefallÂen, wenn sie für GleÂichÂberechÂtiÂgung in ihrer InstiÂtuÂtion sorgt.
UnbeÂdÂingt! Ohne GleÂichÂberechÂtiÂgung werÂden wir keine gewaltÂfreie Gesellschaft sein. Es ist nicht möglich, Gewalt in der Kirche zu verÂhinÂdern, solange sie nicht gleÂichÂberechtigt ist.
Jede_Frau
«Mit scharÂfem Blick zerpflückt AgoÂta LavoyÂer unseren Umgang mit sexÂuÂalÂisiertÂer Gewalt. Sie komÂbiniert StaÂtisÂtiken und ForschungsergebÂnisse mit zahlreÂichen BeispieÂlen aus der PopÂulärkulÂtur, der StrafverÂfolÂgung und der MediÂenÂberichterÂstatÂtung, räumt mit gängiÂgen Mythen auf und zeigt, dass sexÂuÂalÂisierte Gewalt kein AusÂrutschÂer oder MissverÂständÂnis ist, sonÂdern Teil des toxÂisÂchen KonÂstrukÂts patriÂarÂchaler Männlichkeit, das unsere Gesellschaft immer noch prägt.»
