Das Menschenmögliche tun
Am 12. September 2023 wurde die Pilotstudie zum Missbrauch in der katholischen Kirche Schweiz an der Universität Zürich vorgestellt. Renata Asal-Steger (RKZ), Bischof Josef Maria Bonnemain und Beat Müller (UHZ), alle hier im Bild, gaben neben den Studienleiterinnen Monika Dommann sowie Marietta Meier und Jacques Nuoffer (Betroffenenorganisation Groupe SAPEC) Auskunft auf die Fragen der Presse.
Bild: © Christoph Wider

Das Menschenmögliche tun

Missbrauchsprävention hört nie auf

Am 12. September jährt sich die Veröffentlichung der ­Pilotstudie zum Missbrauch in der katholischen Kirche der Schweiz zum zweiten Mal. Wie kam es dazu? Was ist seither geschehen, und was steht noch an?

Als vor zwei Jahren, im Sep­tem­ber 2023, die Pilot­studie zum sex­uellen Miss­brauch in der katholis­chen Kirche der Schweiz an ein­er Medi­enkon­ferenz vorgestellt wurde, war das Entset­zen über die rund 1000 Betrof­fe­nen seit 1950 gross. Umso mehr, als die Stu­di­en­lei­t­erin­nen Moni­ka Dom­mann und Mari­et­ta Meier die Anzahl der Betrof­fe­nen lediglich als die Spitze des Eis­bergs beze­ich­neten. Denn viele Fälle wür­den erst Jahrzehnte nach der Tat gemeldet oder über­haupt nicht. Grund dafür seien oft Schamge­füh­le der Betrof­fe­nen.

Das Forum Pfar­rblatt Zürich hat in einem Dossier die Berichter­stat­tung zum The­ma Miss­brauch seit 1999 gesam­melt.

Kirchenaustritte

Das Entset­zen hat­te viele Kirchenaus­tritte zur Folge. In den Kan­to­nen Aar­gau und Solothurn etwa ver­liessen dop­pelt so viele Men­schen die Kirche wie im Vor­jahr 2022. Im Kan­ton Basel-Stadt waren es knapp dop­pelt so viele, für den Kan­ton Basel­land fehlen die Zahlen. Aber die Min­dere­in­nah­men bei den Kirchen­s­teuern im Jahr 2023 weisen auch dort auf ver­mehrte Aus­tritte hin.

Den­noch kamen die Ergeb­nisse der Pilot­studie nicht uner­wartet. Stu­di­en in Deutsch­land hat­ten einige Jahre zuvor ähn­liche Resul­tate ergeben. Die Hoff­nung der katholis­chen Schweiz, mit dem dualen Sys­tem (der Par­al­lel­struk­tur von staatskirchen­rechtlich­er und pas­toraler Seite) ver­füge man über einen Kon­trollmech­a­nis­mus, zer­schlug sich mit den vor­läu­fi­gen Forschungsergeb­nis­sen.

«Viele Katho­likin­nen und Katho­liken kön­nen nicht ver­ste­hen, wie ein Miss­brauchsskan­dal dieses Aus­mass­es möglich wurde»

Schon lange bekannt

Viele Katho­likin­nen und Katho­liken kön­nen nicht ver­ste­hen, wie ein Miss­brauchsskan­dal dieses Aus­mass­es möglich wurde – zumal schon in den 1980er-Jahren Fälle pub­lik gewor­den waren. Der amerikanis­che Doyle-Report von 1985 etwa schilderte die Machen­schaften eines Priesters, der sex­uellen Miss­brauch began­gen hat­te, und fand her­aus, dass das Bis­tum Boston 10 Mil­lio­nen Dol­lar aus­gegeben hat­te, um die Tat­en zu ver­tuschen. 1994 flog ein Priester in Irland auf, der über die Jahre 90 Kinder miss­braucht hat­te. Der Fall brachte die dama­lige irische Regierung, die stark mit der katholis­chen Kirche ver­flocht­en war, zu Fall. Viele Unter­suchun­gen und Berichte wur­den ver­fasst, und es wurde immer klar­er, dass es sich beim sex­uellen Miss­brauch in der katholis­chen Kirche um ein sys­temis­ches Prob­lem von Klerikalis­mus, über­höhtem Priester­bild und Täter­schutz durch Ver­schweigen und Ver­tuschen han­delte.

Massnahmen gegen Missbrauch

Als Folge der amerikanis­chen und irischen Skan­dale ver­fassten Bischof­skon­feren­zen ver­schieden­er Län­der Richtlin­ien, um den sex­uellen Miss­brauch im kirch­lichen Umfeld zu ver­hin­dern. Auch die Schweiz­er Bischof­skon­ferenz pub­lizierte im Jahr 2002 erste Richtlin­ien dazu und schuf ein Fach­gremi­um.

2010 deck­te der Jesuit Klaus Mertes am Can­i­sius-Kol­leg in Berlin einen riesi­gen Miss­brauchsskan­dal an sein­er Schule auf. Das Ereig­nis stellte einen Meilen­stein im europäis­chen katholis­chen Miss­brauchsskan­dal dar und löste ein gross­es gesellschaftlich­es Echo aus. 2011 stellte die Schweiz­er Bischof­skon­ferenz einen Zwis­chen­bericht zur «Aufar­beitung und Präven­tion sex­ueller Über­griffe in der Seel­sorge» vor. Mar­tin Werlen, damals Abt des Klosters Ein­siedeln und Mit­glied der Bischof­skon­ferenz, kom­men­tierte die Opfer- und Täter­sta­tis­tik dahinge­hend, dass hin­ter den Zahlen immer konkrete Men­schen stün­den. Immer mehr kamen nun die Betrof­fe­nen in den Fokus.

Betroffene im Fokus

In der Westschweiz hat­ten sich ein Jahr zuvor Betrof­fene zur Opfer­vere­ini­gung «Le Groupe de sou­tien aux per­son­nes abusées dans une rela­tion d’autorité religieuse» (Groupe SAPEC) zusam­mengeschlossen. In der Deutschschweiz sollte es noch elf Jahre dauern, bis der kür­zlich ver­stor­bene Albin Reich­muth, selb­st betrof­fen von Miss­brauch, die Inter­es­sen­ge­mein­schaft für miss­brauchs­be­trof­fene Men­schen im kirch­lichen Umfeld (IG‑M!kU) grün­dete. Die Zeug­nisse von Betrof­fe­nen in Büch­ern und Fil­men, wie etwa das der ehe­ma­li­gen Ordenss­chwest­er Doris Wag­n­er, die über den erlebten Miss­brauch in der geistlichen Fam­i­lie «Das Werk» erzählte, halfen, die Struk­turen und Eigen­heit­en des Miss­brauchs im kirch­lichen Umfeld zu ver­ste­hen und den Ein­fluss auf kirch­liche Entschei­dungsträger zu erhöhen.

Hier wer­den Sie gehört
Ange­bote für Betrof­fene

Unab­hängige Anlauf­stellen für Betrof­fene in der Deutschschweiz ist die Opfer­hil­fe Schweiz. Eine Über­sicht der kan­ton­al anerkan­nten Opfer­ber­atungsstellen find­en Sie auf www.opferhilfe-schweiz.ch. Diese sind seit Jan­u­ar 2025 formell für die Beratung von Opfern von Miss­brauch im kirch­lichen Umfeld zuständig und lösen die kirch­lichen Opfer­ber­atungsstellen ab.

Hier find­en Sie eine Über­sicht zu den Selb­sthil­fe­grup­pen.

Wenn Sie bere­it sind, über sex­uellen Miss­brauch im Umfeld der katholis­chen Kirche zu Forschungszweck­en zu bericht­en, melden Sie sich bitte unter: ​ (deutsch), (franzö­sisch) oder (ital­ienisch).

Melde- und Präventionsfachstellen

So wurde auf Druck von SAPEC im Jahr 2016 eine unab­hängige Meldestelle für Fälle sex­uellen Miss­brauchs gegrün­det; die Schweiz­er Bischof­skon­ferenz (SBK) und die Vere­ini­gung der Höheren Orden­sobern der Schweiz (VOS’USM) grün­de­ten eine Kom­mis­sion, die Genug­tu­ungszahlun­gen an Betrof­fene leis­tete. Daneben ent­standen in den Bistümern Präven­tions­fach­stellen, um kirch­liche Angestellte zu sen­si­bil­isieren.

Studie zur Aufarbeitung

2021 schliesslich wurde die Pilot­studie zur «Geschichte sex­uellen Miss­brauchs im Umfeld der römisch-katholis­chen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhun­derts» von der SBK, der Römisch-katholis­chen Zen­tralkon­ferenz und der Kon­ferenz der Ordens­ge­mein­schaften sowie ander­er Gemein­schaften des gottgewei­ht­en Lebens in der Schweiz (KOVOS) bei der Uni­ver­sität Zürich in Auf­trag gegeben.

Unabhängige Opferberatung

Die Ergeb­nisse der Pilot­studie hat­ten neben dem grossen Entset­zen auch ein weit­eres Mass­nah­men­paket zur Folge. So ist die Opfer­ber­atung seit Anfang dieses Jahres schweizweit von der Kirche unab­hängig. Betrof­fene kön­nen sich nun an die Opfer­ber­atungsstellen wen­den, deren Zusatza­ufwand von der Kirche getra­gen wird. Ausser­dem wurde eine Dien­st­stelle «Miss­brauch im kirch­lichen Kon­text» geschaf­fen, die vom aus­gewiese­nen Fach­mann Ste­fan Lop­pach­er geleit­et wird. Die Dien­st­stelle berät die Entschei­dungsträger, leit­et nationale Pro­jek­te in den Bere­ichen Präven­tion und Inter­ven­tion und koor­diniert ver­schiedene Fach­gremien, Betrof­fe­nenor­gan­i­sa­tio­nen und Präven­tion­sstellen.

Ausser­dem wur­den Stan­dards zur Führung und Archivierung von Per­son­al­dossiers entwick­elt. Ein neues, schweizweit ein­heitlich­es Abklärungsver­fahren dient dazu, zukün­ftige Priester­amt­skan­di­dat­en und Seel­sor­gende auf ihre Eig­nung für die Auf­gabe zu prüfen.

Einheitliche Rechtssprechung

Seit Okto­ber 2024 liegt die Zus­tim­mung zur Schaf­fung eines nationalen kirch­lichen Straf- und Diszi­pli­narg­erichts vom ober­sten Gericht­shof und dem kirch­lichen Jus­tizmin­is­teri­um in Rom vor. Ist die Rechts­grund­lage, die nun eine Gruppe von Kirchen­recht­lerin­nen und Kirchen­rechtlern erstellt, geschaf­fen und das geeignete Per­son­al gefun­den, kann es nach erneuter Zus­tim­mung von Rom seine Arbeit aufnehmen. Das nationale Gericht soll die einzel­nen Gerichte der jew­eili­gen Bistümer erset­zen und zu ein­er ein­heitlichen Recht­sprechung in der Schweiz führen. Ausser­dem soll das Gericht von aus­gewiese­nen Exper­tin­nen und Experten geführt und dadurch pro­fes­sion­al­isiert wer­den.

Sex­ueller Miss­brauch im kirch­lichen Umfeld kann nicht ein für alle Mal aus der Welt geräumt wer­den. Das hat die Real­ität gezeigt. Vielmehr braucht es Präven­tion, Sen­si­bil­isierung und Trans­parenz, damit Betrof­fene geschützt und Täter und Täterin­nen erkan­nt wer­den kön­nen. Wenn im Jahr 2027 die Resul­tate der Folges­tudie zum sex­uellen Miss­brauch im kirch­lichen Umfeld pub­liziert wer­den, wird das Resul­tat bess­er zu ertra­gen sein, wenn die Kirche alles Men­schen­mögliche getan hat, um weit­eren Miss­brauch zu ver­hin­dern.

Eva Meienberg
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