Zeigen, was Missbrauch mit Kindern macht
Die Missbrauchsbetroffene Vreni Peterer hat zeichnend ausgedrückt, wie sich anfühlt, was sie erleben musste.
Bild: © zvg

Zeigen, was Missbrauch mit Kindern macht

Der SRF «Reporter» von Helen Arnet gibt Betroffenen von Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche mit einem Zweiteiler ein Gesicht.

Die Journalistin Helen Arnet hat Missbrauchsbetroffene der römisch-katholischen Kirche vor die Kamera geholt. In zwei Teilen zeigt SRF «Reporter» die Folgen von Übergriffen und wie Betroffenen einen Weg der Aufarbeitung gehen.

Helen Arnet, Sie möcht­en Betrof­fe­nen von Miss­brauch ein Gesicht geben. Was haben Sie bei den Drehar­beit­en gese­hen und erlebt?
Ich habe viel Lei­den, viel Schmerz gese­hen. Miss­bräuche, die oft­mals über ein halbes Jahrhun­dert zurück­liegen, prä­gen Betrof­fene bis zum heuti­gen Tag. Wenn ein 70 Jahre alter Mann vor der Kam­era über das Erlebte weinen muss, all die schlim­men Emo­tio­nen noch ein­mal fühlt, ist dies sehr berührend. Mitgenom­men hat mich ein Moment bei den Drehar­beit­en, als Vreni Peter­er, Präsi­dentin der IG MikU, in ein­er Sakris­tei von der Ver­gan­gen­heit einge­holt wurde. Da erlebte ich, was es bedeutet, wenn trau­ma­tisierte Men­schen getrig­gert wer­den: Für den Film öffnete Sepp Koller, Mit­glied das Fach­gremi­ums des Bis­tums St. Gallen, den Schrank, in dem die Priestergewän­der und Stolen der Kapelle auf­be­wahrt wer­den. Vreni Peter­er wurde von diesem Anblick über­wältigt, musste den Raum ver­lassen, rang nach Atem und kon­nte nur noch stock­end sprechen — es war für sie, als ob sie auf ein­mal der ver­sam­melten Macht der Geistlichkeit gegenüber­ste­hen würde.

Das klingt unglaublich inten­siv und belas­tend.
Ich habe mich bei den Drehar­beit­en oft gefragt: «Darf ich das über­haupt?» Darf man Miss­brauchs­be­trof­fene mit Fra­gen und Szenen wieder in das Erlebte zurück kat­a­pul­tieren? Diese Frage beschäftigt mich bis heute: Es war und ist mir ein gross­es Anliegen, mit diesen Fil­men aufzuzeigen, was Kindern ange­tan wurde von Vertretern der katholis­chen Kirche. Ich will zeigen, wie tief sich der spir­ituelle und der sex­uelle Miss­brauch in Kinder­see­len hineinge­fressen hat, wie er bis heute Auswirkun­gen auf das Fühlen und Leben dieser Men­schen hat. Nacher­leben kann man dies als Aussen­ste­hende nur, wenn Betrof­fene in die Szenen von damals ein­tauchen, nacherzählen, nach­spüren, das Grauen und den Schmerz in Worte fassen.

Wie sind Sie mit der Frage umge­gan­gen, ob Sie das dür­fen?
Die porträtierten Per­so­n­en haben mir zum Glück selb­st die Antwort auf die Frage gegeben, ob man als Filmemacherin so tief in die Erleb­niswelt von Miss­brauchs­be­trof­fe­nen ein­tauchen darf. Sie sagten: Ja, man darf. Man muss sog­ar. Um den 1002 «Fällen» der 2023 erschiene­nen Pilot­studie ein Gesicht zu geben. Um zu zeigen, was Miss­brauch mit Kindern macht. Um weit­ere Miss­bräuche zu ver­hin­dern. Nicht nur in der römisch-katholis­chen Kirche, son­dern auch im Spitzen­sport, in Vere­inen, in Fam­i­lien. Und man muss sog­ar, damit «die Scham die Seite wech­seln kann». Denn Schuld- und Schamge­füh­le sind es, die Miss­brauchs­be­trof­fene oft bis zum heuti­gen Tag daran hin­dern, über das Erlebte zu reden und die Ver­ar­beitung anzuge­hen. Und wagten es Betrof­fene trotz Schuld und Scham über das Erlebte zu reden, wurde ihnen nicht geglaubt. So kamen Täter unges­traft davon.

Nach all­dem, was Sie gese­hen haben: Was wäre das, was Betrof­fene brauchen und von der Kirche weit­er­hin nicht erhal­ten?
Ich denke, auf diese Frage gibt es so viele Antworten, wie es Miss­brauchs­be­trof­fene gibt. Der gemein­same Nen­ner aller Geschicht­en, die ich ken­nen­gel­ernt habe, ist aber vielle­icht fol­gen­der: Die Betrof­fe­nen möcht­en, dass ihre Geschicht­en und ihr Schmerz von der römisch-katholis­chen Kirche anerkan­nt wer­den. Sie möcht­en, dass die katholis­chen Wür­den­träger wirk­lich ver­ste­hen und nachempfind­en, wie viel Leid Geistliche von damals an Kindern verur­sacht haben.

Welch­es Gesicht hat Ihnen die Insti­tu­tion Kirche gezeigt?
Ich habe ganz ver­schiedene Gesichter der römisch-katholis­chen Kirche ken­nen­gel­ernt. Mit Sepp Koller, Dolores Was­er Balmer und Ste­fan Lop­pach­er hat­te ich Vertreterin­nen und Vertreter vor der Kam­era, die für den geforderten Kul­tur­wan­del ste­hen. Auch die Schweiz­er Bischof­skon­ferenz hat mich zusam­men mit Vreni Peter­er zu einem Tre­f­fen zwis­chen Betrof­fe­nenor­gan­i­sa­tio­nen und den Bis­chöfen ein­ge­laden – fil­men durfte ich die Begeg­nung indes nicht. Im Zusam­men­tr­e­f­fen mit den Bis­chöfen der ver­schiede­nen Bistümer spürte ich zwar Offen­heit, aber auch eine gewisse Ner­vosität.

Haben Sie den Ein­druck, dass es der Kirche in der Schweiz ernst damit ist, das Sys­tem so zu verän­dern, dass miss­bräuch­lich­es Ver­hal­ten nicht mehr so leicht geschehen kann?
Ich hat­te für meine Filme in erster Lin­ie mit Betrof­fe­nen zu tun. Bei den oben erwäh­n­ten Vertreterin­nen und Vertretern der Kirche spürte ich ein ehrlich­es Bemühen um Verän­derung. Aber ich spürte bei ihnen auch ein Hadern mit den Struk­turen, die einen Wan­del oft­mals verun­möglichen.

Was motiviert Sie, sich dem Miss­brauch im kirch­lichen Umfeld zuzuwen­den?
Ich habe schon mehrere Filme zu Miss­brauch­s­the­matiken real­isiert – all diese Geschicht­en sind mir nahe gegan­gen. Eine neue Dimen­sion für mich ist der spir­ituelle Miss­brauch, der sich eben­falls furcht­bar tox­isch auswirkt: Es bee­len­det mich unendlich, wenn sich eine ges­tandene Frau wie Vreni Peter­er, die die eigene Miss­brauchs­geschichte so mutig aufgear­beit­et hat, bis zum heuti­gen Tag davor fürchtet, bei ihrem let­zten Atemzug dem Teufel gegenüberzuste­hen. Dies hat ihr Verge­waltiger der zehn­jähri­gen Vreni ange­dro­ht. Und kein Seel­sorg­er der Welt kann ihr diese Angst nehmen.

Dieser Text erschien zuerst bei www.forum-magazin.ch

Die Sendung «Reporter» auf SRF

Erstausstrahlung der bei­den Teile am 30. April und am 7. Mai

Der SRF «Reporter» von Helen Arnet gibt Betrof­fe­nen von Miss­brauch in der römisch-katholis­chen Kirche mit einem Zweit­eil­er ein Gesicht.

Teil 1: «Die Opfer des Her­rn Pfar­rer» – Mittwoch, 30. April , 21 Uhr, SRF 1
Teil 2: «Das lange Schweigen der Opfer» – Mittwoch, 7. Mai, 21 Uhr, SRF 1

 

Zeigen, was Missbrauch mit Kindern macht - Lichtblick Römisch-katholisches Pfarrblatt der Nordwestschweiz 1
Die Jour­nal­istin Helen Arnet. Bild: © zvg
Veronika Jehle
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