Wegen Missbrauchsstudie: Verdoppelung der Kirchenaustritte im Jahr 2023
Medienkonferenz anlässlich der Veröffentlichung der Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch an der Universität Zürich am 12. September 2023
Bild: © Christoph Wider

Wegen Missbrauchsstudie: Verdoppelung der Kirchenaustritte im Jahr 2023

Die Publikation der Missbrauchstudie im Herbst 2023 hat zu einer Verdoppelung der Austritte aus der römisch-katholischen Kirche geführt. In der evangelisch-reformierten Kirche sind die Austrittszahlen 2023 ein Drittel höher als im Vorjahr.

Der Effekt ist offen­sichtlich: Nach der Pub­lika­tion der Miss­brauchsstudie in der katholis­chen Kirche im Sep­tem­ber 2023 kam es zu ein­er grossen Aus­trittswelle, erläutert Arnd Bünker, Leit­er des Schweiz­er Pas­toral­sozi­ol­o­gis­chen Insti­tuts (SPI), am 14. Novem­ber gegenüber den Medi­en. Zu diesen hohen Zahlen kommt allerd­ings ein seit Jahren anhal­tender Trend an Aus­trit­ten aus den bei­den grossen Lan­deskirchen, bed­ingt durch Säku­lar­isierung und Indi­vid­u­al­isierung. Diese Entwick­lung kann auch die Zuwan­derung, von der die römisch-katholis­che Kirche bis 2014 prof­i­tierte, nicht aufhal­ten. Seit 2015 wird die Anzahl Katholik:innen in der Schweiz klein­er. Aktuell sind es noch 2’795’067 Mit­glieder, 93’233 weniger als im Vor­jahr.

Grafik: SPI

Doch damit nicht genug: Für die sink­enden Mit­gliederzahlen sind nicht nur Aus­tritte ver­ant­wortlich, son­dern auch die zunehmende Ent­frem­dung von Men­schen, die zwar for­mal noch Kirchen­mit­glieder sind, jedoch nicht am kirch­lichen Leben teil­haben. «Sie geben die Zuge­hörigkeit zur Kirche in ihrer Fam­i­lie immer weniger weit­er», so Bünker.

Doppelt negativer Trend: Mehr Austritte und weniger Taufen

Dies wird sicht­bar an der eben­falls rück­läu­fi­gen Anzahl kirch­lich­er Hochzeit­en und Taufen (siehe Grafik 2). «Nicht getaufte Kinder sind ein vor­weggenommen­er Kirchenaus­tritt», so Bünker. Damit ende eine jahrhun­derte­lange famil­iäre Tra­di­tion der Weit­er­gabe von Glauben­stra­di­tion und Kirchen­zuge­hörigkeit.

Grafik: SPI

Die bei­den Vertreter der katholis­chen Kirche, der St. Galler Bischof Markus Büchel und RKZ-Gen­er­alsekretär Urs Brosi, hal­ten bei­de in ihren State­ments fest, dass die Aufk­lärungs- und Präven­tion­sar­beit den­noch der richtige Weg sei. «Es gibt für uns kein Zurück», sagt Urs Brosi. «Präven­tion von Miss­brauch, ein aufrichtiger Umgang mit Betrof­fe­nen sowie kon­se­quentes Han­deln gegenüber Tätern» müssten gemein­sam vor­ange­bracht wer­den. «Wir haben die War­nung gehört und ernst genom­men, die aus diesen Zahlen spricht.»

Ein Ver­gle­ich mit den reformierten Kirchen zeigt laut Brosi, dass die Aus­trittszahlen bei den Katholik:innen nicht direkt mit dem anhal­tenden Reform­stau zusam­men­hängt. Daher sei es wichtig, die Frage nach Refor­men nicht im Blick auf die Aus­trittszahlen zu stellen, «son­dern von unserem Ver­ständ­nis von Kirche her.»

Grafik: SPI

Brosi gewichtet die seit Jahren anhal­tenden Aus­trittszahlen und die fehlen­den Taufen jedoch mehr als die Aus­trittswelle nach der Miss­brauchsstudie. «Wir sehen nicht, wer aus welchen Grün­den seine Kinder nicht mehr taufen lässt».

Bescheidener werden

Markus Büchel gibt selb­stkri­tisch zu, dass die Kirche ihre pas­toralen Gewohn­heit­en zu lange fort­ge­set­zt habe, «ohne uns aus­re­ichend auf die Fra­gen der Men­schen heute einzu­lassen So sind wir für viele Men­schen irrel­e­vant gewor­den. Jet­zt müssen wir beschei­den­er wer­den.»

Rita Famos, Präsi­dentin der evan­ge­lis­chen Kirche Schweiz, muss zur Ken­nt­nis nehmen, dass die Aus­tritte aus ihrer Kirche unmit­tel­bar nach Erscheinen der katholis­chen Miss­brauch­studie zunah­men. Sie will den Fehler jedoch nicht nur bei der katholis­chen Kirche suchen. «Es ist uns in vie­len Fällen nicht gelun­gen, glaub­würdig, rel­e­vant und nahe bei den Men­schen zu sein».

Auf die Fest­stel­lung ein­er Jour­nal­istin, es entste­he der Ein­druck, die Kirchen wür­den die steigen­den Aus­trittszahlen ein­fach hin­nehmen, ent­geg­net Brosi: «Ja, der Berg rollt und wir kön­nen ihn nicht stop­pen.» Die Kirche könne sich aber fra­gen, wo sie näher bei dem sein könne, was Men­schen von der Kirche erwarten. Rita Famos hält dem ent­ge­gen, dass die evan­ge­lis­che Kirche sich schon lange auf den Weg gemacht habe durch Struk­turbere­ini­gun­gen, indi­vidu­ellere Gottes­di­en­st­for­mate und Taufrituale, Kirche auf der Strasse etc. «Wir schauen nicht ein­fach zu.» Aber die Welle könne man tat­säch­lich nicht stop­pen.

Grafik: SPI

Engagement von Freiwilligen nur leicht rückläufig

In ihrer Präsen­ta­tion dieser düsteren Resul­tate beto­nen die Kirchen­vertreter das Engage­ment von Frei­willi­gen, welch­es durch die Miss­brauchsstudie nicht sicht­bar beein­trächtigt wurde. «Trotz der Schock­wellen, welche die die Pilot­studie bei vie­len Men­schen aus­gelöst hat», sei 2023 sta­tis­tisch kein damit ver­bun­den­er Rück­gang der Zahl frei­willig Engagiert­er festzustellen, so Bünker. Er beruft sich dabei auf Erhe­bun­gen, die das Bis­tum St. Gallen zur Frei­willi­ge­nar­beit gemacht hat und beze­ich­net diese als repräsen­ta­tiv für die ganze Schweiz. Dem Entset­zen über die Miss­brauchs­fälle stün­den bei den Frei­willi­gen pos­i­tive Erfahrun­gen in der Kirche vor Ort gegenüber, welche offen­sichtlich stärk­er gewichtet wur­den. Dies habe auch damit zu tun, dass die Mehrheit der Miss­brauchs­fälle Jahrzehnte vor dem eige­nen frei­willi­gen Engage­ment stattge­fun­den habe. Den­noch ist auch bei den frei­willig engagierten der Trend rück­läu­fig.

Der Artikel ist am 14. Novem­ber auf der Seite des Bern­er «pfar­rblatt» erschienen.

Sylvia Stam
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