11 Jahre warten: Gelungene Integration sieht anders aus

11 Jahre warten: Gelungene Integration sieht anders aus

  • Hora aus Äthiopi­en ver­brachte zehn Jahre in einem Asylzen­trum ohne Aus­sicht auf Beschäf­ti­gung und Inte­gra­tion.
  • Aller Widrigkeit­en zum Trotz schaffte es die Tochter eines poli­tis­chen Oppo­si­tionellen, sich in der Schweiz eine kleine Exis­tenz aufzubauen: Mit zwei Jobs – angestellt im Stun­de­lohn finanziert sie sich ihre Einz­im­mer­woh­nung. Sozial­hil­fe bezo­gen hat sie nie.
  • Nun hofft Hora, mit­tels ein­er Weit­er­bil­dung in der Pflege Fuss fassen zu kön­nen. Die Car­i­tas Aar­gau und Iris Bäriswyl vom Kirch­lichen Regionalen Sozial­dienst Brugg – eine langjährige Fre­undin – unter­stützen sie dabei.
 Die Äthiopierin Hora (Name von der Redak­tion geän­dert) öffnet die Tür zu ihrer kleinen Einz­im­mer­woh­nung in Aarau. Fre­undlich lächelt sie, als sie ihre ehe­ma­lige Bezugsper­son vom Kirch­lichen Regionalen Sozial­dienst KRSD Brugg sieht und bit­tet uns here­in. Ich folge Iris Bäriswyl, reiche Hora die Hand und betrete den Ein­gangs­bere­ich der Woh­nung, in welchem sich rechts eine Kochnis­che befind­et, gegenüber WC und Dusche. Ger­adeaus öffnet sich ein klein­er Raum, in welchem ein Bett sowie ein kleines Sofa und ein klein­er Tisch Platz haben. Der Zufall ver­half Hora vor vier Jahren zu ihrer ersten eige­nen Woh­nung, nach­dem sie 11 Jahre in einem Asylzen­trum ver­bracht hat­te.

In das Asylverfahren schaltet sich auch die UNO ein

«Ich arbeit­ete in der Pizze­ria, die sich hier unten im Haus befind­et und erfuhr, dass diese Woh­nung frei wird», erzählt die 36-Jährige, die am Tisch Platz genom­men und uns das Sofa über­lassen hat. «Ich habe mich bewor­ben und die Woh­nung erhal­ten». Es fällt der Frau schw­er, zu beschreiben, was das für sie bedeutet hat. Ihre Deutschken­nt­nisse reichen hier­für zu wenig weit.Nach­dem Hora 2003 als Tochter eines Oppo­si­tionellen in die Schweiz flücht­en musste, erhielt sie zunächst einen neg­a­tiv­en Bescheid auf ihr Asylge­such. Die junge Frau legte Rekurs ein und es fol­gte eine Jahre andauernde rechtliche Auseinan­der­set­zung, in welche sich zulet­zt sog­ar die UNO ein­schal­tete. «Zurück kon­nte ich nicht, aber hier sollte ich auch nicht bleiben», erin­nert sich Hora an ihre Sit­u­a­tion. Ihr Vater sass zum Zeit­punkt ihrer Flucht bere­its im Gefäng­nis. Zu den restlichen Fam­i­lien­ange­höri­gen ver­lor sie den Kon­takt, nach­dem ihr Onkel ihr die Flucht organ­isiert hat­te. Weit­ere Fam­i­lien­mit­glieder hat­ten damit rech­nen müssen, ver­haftet zu wer­den.

Ohne Ausweis keine Aussicht auf Beschäftigung

Nach ihrer Ankun­ft in der Schweiz lebte Hora in einem Aar­gauer Asylzen­trum und musste sich mit 24 Per­so­n­en eine Toi­lette teilen. Arbeit­en durfte sie nicht, einen Deutschkurs besuchen eben­falls nicht. Von Geset­zes wegen unter­ste­hen Asyl­suchende während der ersten drei Monate einem geset­zlichen Arbeitsver­bot. Fak­tisch sei es aber so, dass sich für Flüchtlinge erst etwas bewege, wenn sie ihren Asy­lentscheid haben. «Und das kann ein, ja sog­ar bis zu zwei Jahre dauern», erk­lärte erst let­ztes Jahr noch Patrizia Bertschi, Präsi­dentin von «Net­zw­erk Asyl», gegenüber Hor­i­zonte. «Während dieser Zeit warten die Men­schen, haben kaum Deutschkurse oder Beschäf­ti­gung­spro­gramme». Und für abgewiesene Asyl­suchende wie Hora ist die Sit­u­a­tion noch härter: Ihnen ist es aus­drück­lich ver­boten, eine Erwerb­stätigkeit auszuüben. Dies trifft selb­st dann zu, wenn ein ausseror­dentlich­es Rechtsmit­telver­fahren ein­geleit­et und die Ausweisung deshalb gestoppt wurde.

Sieben Franken Nothilfe

Hora wehrte sich gegen ihre Auss­chaf­fung – und das Rechtsmit­telver­fahren zog sich bis 2014 hin. Während dieser Zeit blieb sie im Asylzen­trum und hat­te pro Tag nur sieben Franken Nothil­fe zur Ver­fü­gung. Im Jahre 2006 gelangte die junge Frau über eine Empfehlung an Car­i­tas Aar­gau. Und via Car­i­tas kam der Kon­takt mit Iris Bäriswyl zus­tande. Let­ztere war Mit­glied ein­er Gruppe kirch­lich­er Sozialar­bei­t­en­der und Car­i­tas-Mitar­bei­t­en­der, die auf­grund der dama­li­gen Ver­schär­fung des Asylge­set­zes die Öffentlichkeit sen­si­bil­isieren woll­ten.«Hora ging es damals nicht gut», erin­nert sich Iris Bäriswyl. Sie war vere­in­samt und hat­te keine Per­spek­tive. Um Hora zu motivieren, nahm Iris Bäriswyl die junge Äthiopierin mit in ihre Pfar­rei Brugg. Dort organ­isierte sie mit der Flüchtlings­frau einen Äthiopisch-Kochkurs für Inter­essierte. Hora engagierte sich mit Begeis­terung und genoss es, ihre Kul­tur den Pfar­reim­it­gliedern näher zu brin­gen. «Als Geschenk für ihren Ein­satz ermöglichte die Pfar­rei der Asyl­suchen­den den Besuch eines Deutschkurs­es», erzählt Iris Bäriswyl. «Etwas später ver­loren wir uns lei­der aus den Augen.»

Nach 11 Jahren endlich das «humanitäre F»

Auch zu den Pfar­reim­it­gliedern in Brugg ent­standen keine anhal­tenden Beziehun­gen. Hora blieb auf sich gestellt. Die Ungewis­sheit im laufend­en Rekursver­fahren, das schi­er end­lose Warten, set­zte Hora zu, sie wurde depres­siv, nahm an Gewicht zu und kam in ärztliche Behand­lung. «Ich musste Tablet­ten nehmen und erhielt im Asylzen­trum ein Einzelz­im­mer», erin­nert sich Hora. «Ich war oft trau­rig, hat­te keine Hoff­nung mehr und lag viel im Bett» erzählt sie. «Ich durfte ja nichts tun.»2014 dann der Entscheid, das «human­itäre F» — die vor­läu­fige Auf­nahme aus human­itären Grün­den. Hora durfte sich endlich Arbeit suchen. Ein­fach­er gesagt als getan. Mit ihren gerin­gen Deutschken­nt­nis­sen machte sie sich in Aarau auf die Suche und fand schliesslich zwei Jobs: Die reformierte Kirchge­meinde übertrug ihr Reini­gungsar­beit­en im Umfang von 30 Stun­den im Monat, und in ein­er Pizze­ria wurde die vor­läu­fig Aufgenommene im Stun­den­lohn angestellt. «Unter­stützung bei der Job­suche erhielt ich von nie­man­dem. Das habe ich allein geschafft. Und Sozial­hil­fe habe ich nie bezo­gen», erk­lärt Hora.

Überlebenskampf mit Stundenlohnjobs

Weil die Äthiopierin im Stun­den­lohn angestellt ist, kann sie nicht mit einem geregel­ten Einkom­men rech­nen. «Meist ver­di­ene ich so zwis­chen 1’300 und 1’500 Franken im Monat», erzählt sie. Manch­mal aber auch deut­lich weniger. «Während der Som­mer­fe­rien beispiel­sweise werde ich nicht gebraucht, da ver­di­ene ich fast nichts». Eine unan­genehme Sit­u­a­tion in Anbe­tra­cht der Fixkosten, die da sind: 400 Franken Miete, Nebenkosten, Krankenkasse und andere Dinge, die es halt braucht.Iris Bäryswil staunte nicht schlecht, als sie Hora nach über zehn Jahren wieder begeg­nete. Vor weni­gen Wochen – beim Aufräu­men und Aus­mis­ten alter Akten – kam ihr die Han­dynum­mer von Hora wieder in die Hände. Spon­tan wählte die Diakonie-Ver­ant­wortliche die Num­mer. Tat­säch­lich: Hora war noch immer unter dem notierten Kon­takt erre­ich­bar und freute sich riesig über den Anruf ihrer ehe­ma­li­gen Bezugsper­son, die für sie zu ein­er Fre­undin gewor­den war. Die bei­den Frauen verabre­de­ten sich sofort.

Die Caritas unterstützt die Weiterbildungspläne

«Sicher­lich hat man bei der Inte­gra­tion von Hora zehn Jahre ver­loren», bedauert Iris Bäriswyl, «doch für mich ist es gle­ich­wohl eine pos­i­tive Geschichte. Hora hat sich allein durchgeschla­gen und das Beste aus ihrer Sit­u­a­tion gemacht.» Sie habe auch Pläne und wolle sich weit­er­en­twick­eln, freut sich Iris Bäriswyl «Mein Ziel ist eine Fes­tanstel­lung in der Pflege», erk­lärt Hora. Da sich Hora die Aus­bil­dungskosten allerd­ings nicht leis­ten kann (Anmerkung der Redak­tion: Zwis­chen 2’000 und 3’000 Franken), hat sie erneut die Car­i­tas um Hil­fe gebeten. «Die übernehmen einen Teil der Kosten für den Pflege­helfer­kurs beim Roten Kreuz sowie nochmals für einen Deutschkurs, den ich vor­ab besuchen soll», erk­lärt Hora. Für den Pflege­helfer­kurs wird näm­lich das Sprach­niveau B1 voraus­ge­set­zt. Mit dem erfol­gre­ichen Abschluss dieser bei­den Kurse hätte Hora nach 15 Jahren endlich die Chance, sich beru­flich nach­haltig zu inte­gri­eren und ein sicheres Einkom­men zu erwirtschaften.
Andreas C. Müller
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