Zeichen des Glaubens
Das Leben von Seeleuten ​ist hart und einsam. ­Waren dirigieren ihre Wege. Zwei Mitarbeitende der Seemanns­mission berichten.
Bild: © Silvie Boyd, Dt. Seemannsmission Le Havre.

Zeichen des Glaubens

Tätowierungen geben Halt und Heimat

Draussen auf dem Meer, weit weg von allem, spüren die Menschen, was wirklich zählt im Leben. Silvie Boyd, ­Stationsleiterin der Deutschen Seemannsmission Le Havre, kennt den tiefen Glauben der Seeleute. Sie hat ihnen und ihren Tattoos eine Ausstellung gewidmet.


In einem grossen Hafen an Land zu gehen, ist nicht so ein­fach, wie es klingt. Sil­vie Boyd, ­Sta­tion­slei­t­erin der Deutschen See­manns­mis­sion am Hafen in Le Havre, set­zt sich nach Kräften dafür ein, dass Seeleute nach Wochen an Bord an Land gehen kön­nen. Denn allzu oft wird die «Mar­itime Labour Con­ven­tion», welche die Beschäf­ti­gungs- und Sozial­rechte der Seeleute fes­thält und regelmäs­si­gen Landgang vor­sieht, nicht aus­re­ichend berück­sichtigt.

Sehnsucht nach frisch gemähtem Gras

Sil­vie Boyd ken­nt die Sit­u­a­tion: «Die Häfen sind abgeriegelt und gesichert wie Flughäfen. Seeleute brauchen einen «shore pass», mit dem sie die Sicher­heit­skon­trolle am Ankun­ft­ster­mi­nal passieren kön­nen. Oft sind es weite Streck­en vom Hafen in die Stadt, Taxis bedi­enen diese Gegen­den nicht, und die Zeit ist knapp. Wenn die Ware gelöscht ist, läuft das Schiff so rasch als möglich wieder aus.»


Ein Tat­too kann auch ein Sym­bol sein, von dem man sich Schutz oder Trost erhofft. Dieser Seefahrer spricht sich mit dem Wort «blessed» (geseg­net) Gutes zu.

Deshalb sucht Sil­vie Boyd die Men­schen an Bord des Schiffs auf. Frei­willige begleit­en die Seel­sorg­erin bei diesen Besuchen. «Meine Beglei­t­erin­nen und Begleit­er sind oft über­rascht, auf ganz nor­male Men­schen zu tre­f­fen, die das Grün, die Bäume und den Geruch von frisch gemähtem Gras ver­mis­sen», sagt Sil­vie Boyd

Warenbegleiter, nicht Reisende

In der Logik der glob­al­isierten Wirtschaft zählen solche psy­chis­chen und sozialen Bedürfnisse nicht, der Men­sch ist Begleit­er ein­er Ware. «Seeleute kom­men via Liefer­ket­ten und nicht auf Reisewe­gen. Die Liefer­kette ori­en­tiert sich daran, was die Waren brauchen. Wenn die Bana­nen weit­er­fahren müssen, läuft das Schiff aus, und der Seefahrer als Begleit­er der Ware muss mit», erk­lärt Sev­erin Fren­zel. Er arbeit­et im Aar­gau als Leit­er der Fach­stelle Diakonie der Lan­deskirche und engagiert sich frei­willig als Kassier der Deutschen See­manns­mis­sion Le Havre.

Dazugehören

Um grundle­gende psy­chosoziale Bedürfnisse der Seeleute, die am Puls der Glob­al­isierung und für die Welt­bevölkerung unsicht­bar durch Unwet­ter, Zeit­zo­nen und poli­tis­che Krisen­ge­bi­ete rund um die Welt fahren, zu erfüllen, sind die Anstren­gun­gen der See­manns­mis­sion essen­ziell. Sil­vie Boyd erk­lärt: «Wenn es mir gelingt, die Seeleute für wenige Stun­den von Bord zu holen und mit ihnen in die Stadt zu fahren, fühlen sie sich für kurze Zeit wieder als nor­male Men­schen, als Teil der Gemein­schaft. ‹We are cre­at­ing mem­o­ries›», wir schafften gemein­sam Erin­nerun­gen, fasst Boyd die Stun­den zusam­men, die sie mit den Seeleuten an Land ver­bringt. Denn nach der arbeit­sre­ichen und auch gefährlichen Zeit auf dem Meer wüssten manche nicht ein­mal, in welchem Hafen sie sich befän­den.

«Ein schwimmendes Gefängnis»

Auch Sev­erin Fren­zel betont, wie extrem die Arbeits­be­din­gun­gen an Bord seien: «Bis zu neun Monate und oft noch länger arbeit­en die Leute in zwei 6‑S­tun­den-Schicht­en täglich in ständi­gem Lärm.» Und Sil­vie Boyd ergänzt: «Die meis­ten Men­schen wählen die Seefahrt nicht aus Lei­den­schaft, son­dern aus finanziellen Grün­den. Viele lei­den unter den Bedin­gun­gen an Bord, sind erschöpft und weit weg von richti­gen sozialen Kon­tak­ten. Einige sind ori­en­tierungs­los, und ein Gespräch braucht manch­mal etwas Anlaufzeit.»


«Wichtig ist nicht, dass man jeden Tag zum Gottes­di­enst geht. Wichtig ist der Glaube, den man in sich drin hat», sagte der See­mann mit diesem Tat­too zur Seel­sorg­erin Sil­vie Boyd.

Die Schiff­fahrt ist mil­itärisch organ­isiert, und es herrscht eine strik­te hier­ar­chis­che Befehlsstruk­tur. Schliesslich gibt es auf hoher See keinen Staat, der zuständig ist. An Bord befind­et sich eine bunt gemis­chte Truppe von Men­schen aus den ver­schieden­sten Län­dern, die meis­ten stam­men von den Philip­pinen, aus Sri Lan­ka, Indi­en, Rumänien, Rus­s­land und der Ukraine. Unter den Seeleuten kur­siert der Spruch: «a ves­sel is a float­ing jail» – ein Schiff sei ein schwim­mendes Gefäng­nis. Auf­schliessen kann sinnbildlich Sil­vie Boyd – und so wird ihr Besuch von den Seeleuten sehn­süchtig erwartet.

«God bless you!»

Auf hoher See, weit weg von der Fam­i­lie und der Heimat, sind die Seeleute zurück­ge­wor­fen auf sich und ihren Glauben. Mit so viel Abstand von allem, spüren sie, was das Grundle­gende, das Wichtige in ihrem Leben ist. «Die Seeleute sind sehr tra­di­tionell in ihrem Glauben. Sie find­en einen Anker­punkt in Gott und pfle­gen eine ein­fache, von Herzen kom­mende Spir­i­tu­al­ität. Sev­erin Fren­zel hat erfahren: «Wenn ein­er von ihnen zu dir sagt: ‹God bless you!›, kommt das tief aus dem Innern.» Häu­fig sprächen auch Ange­hörige ander­er Reli­gion­s­ge­mein­schaften die Angestell­ten und Frei­willi­gen der See­manns­mis­sion mit «Sis­ter» und «Broth­er» an und brächt­en damit zum Aus­druck, dass sie let­ztlich an den gle­ichen Gott glaubten.

Das Urmenschliche

Ähn­lich­es berichtet auch Sil­vie Boyd von ihren Gesprächen mit den Seeleuten. Wenn sie an Bord Arm­bän­der mit einem Segensspruch drauf verteile, inter­essierten sich auch Hin­dus und Mus­lime für den Segen: «Gese­hen zu wer­den, Segen zu erhal­ten, Zus­pruch und Zuge­wandtheit zu erfahren, bedeutet ihnen viel. Sie wis­sen: Wir alle haben einen Glauben an etwas Göt­tlich­es.» Eine rein mus­lim­is­che Crew bat Sev­erin Fren­zel, damals noch Sta­tion­sleit­er der Deutschen See­manns­mis­sion in Rot­ter­dam, nach einem Todes­fall an Bord um einen Besuch und ein gemein­sames Gebet. Einen mus­lim­is­chen Seel­sorg­er gibt es in Rot­ter­dam, wie in den meis­ten Häfen, nicht. Sev­erin Fren­zel betete mit der mus­lim­is­chen Besatzung das Vaterunser für den ver­stor­be­nen Kol­le­gen. «Das hat sie gestärkt. Sie haben diese Offen­heit, weil sie spüren, dass es beim Glauben um das Urmen­schliche geht. Einen Vater anrufen zu kön­nen, tröstet und stärkt.»

Der Glaube als Anker und Leuchtturm

«Seeleute machen einen der gefährlich­sten Jobs der Welt. Das ist vie­len von uns nicht bewusst. Der Glauben ist für die Seeleute Anker und Leucht­turm», sagt Sil­vie Boyd. Die Seeleute trans­portieren 90 Prozent der weltweit­en Waren und arbeit­en für uns alle.

Ihre Ver­bun­den­heit mit Gott brin­gen viele Seeleute mit Tat­toos zum Aus­druck. Das Motiv eines Tat­toos ist immer etwas, das jemand nah bei sich haben möchte – etwa den Namen des Part­ners, der Kinder – oder eben Gott.

Das Motiv eines Tat­toos ist immer etwas, das jemand nah bei sich haben möchte – etwa den Namen des Part­ners, der Kinder – oder eben Gott.

Hin­ter jedem Tat­too ste­ht eine per­sön­liche Geschichte. Jede Tätowierung gibt Zeug­nis davon, wie Men­schen sich selb­st und ihren Lebensweg deuten und aus­ge­drückt sehen wollen. Sil­vie Boyd hat während mehr als zwei Jahren Inter­views mit den Seeleuten darüber geführt, was hin­ter ihren Tätowierun­gen steckt. Aus den Inter­views und den Fotografien der Tat­toos hat sie eine Ausstel­lung zusam­mengestellt. Das Ziel der Schau ist es, die Indi­vid­u­al­ität der Seeleute zu zeigen, sie in ihrer Einzi­gar­tigkeit wahrzunehmen und so diejeni­gen sicht­bar zu machen, die son­st meis­tens unsicht­bar sind. Die Ausstel­lung «Sea­far­ing Tat­toos» ist als Wan­der­ausstel­lung unter­wegs und lädt die Besucherin­nen und Besuch­er ein, Seeleuten und ihrer Lebens- und Glaubenswelt durch die spezielle Bild­sprache ihrer Tat­toos zu begeg­nen.

Sich ein Zeichen geben

Paul-Hen­ri Camp­bell, The­ologe und Autor des Buchs «Tat­too und Reli­gion», for­mulierte in einem Inter­view den Zusam­men­hang zwis­chen Reli­gion – expliz­it dem Chris­ten­tum – und ein­er Tätowierung so: «Was ich grund­sät­zlich für eine christliche Brücke zur Tätowierung halte, ist etwa die Beze­ich­nung, die wir auch für die Taufe ver­wen­den: ‹char­ac­ter indelebilis›, ein until­gbares Präge­mal. Es geht mit der Entsch­ieden­heit ein­her, sich ein Zeichen zu geben.»

Wiederkehrende Tat­too-Motive bei den Seeleuten, die Sil­vie Boyd porträtiert hat, sind Kreuze, Anker, Segenssprüche und die Namen von Fam­i­lien­mit­gliedern. Sev­erin Fren­zel erk­lärt, warum sich viele Seeleute Tat­toos stechen lassen: «Hier an Land kön­nen wir jed­erzeit eine Kirche auf­suchen oder in einen Gottes­di­enst gehen. Seeleute haben das nicht, erre­ichen oft keine Kirche und keinen Wall­fahrt­sort. Ihre Suche nach einem Ort, einem Fix­punkt, drückt sich im Tat­too aus. Das Tat­too gibt Halt, es ist ein lebendi­ger Glauben­saus­druck und auch ein Stück Heimat.»

«Sea­far­ing Tat­toos»

Die Wan­der­ausstel­lung «Sea­far­ing Tat­toos» kön­nte auch zu Ihnen kom­men

Die Wan­der­ausstel­lung «Sea­far­ing Tat­toos» wurde bish­er in den drei Hafen­städten Rouen, Le Havre und Sète gezeigt. Sie darf gerne an weit­ere Orte wan­dern, auch in die Schweiz. Wer Inter­esse hat, die Ausstel­lung zu beherber­gen, kann sich bei Sev­erin Fren­zel melden:

Per­so­n­en
Sil­vie Boyd ist Sta­tion­slei­t­erin der Deutschen See­manns­mis­sion in Le Havre, Frankre­ich. Sev­erin Fren­zel arbeit­et als Mitar­beit­er der Fach­stelle Diakonie der Aar­gauer Lan­deskirche und engagiert sich ehre­namtlich als Kassier im Vor­stand der Deutschen See­manns­mis­sion Le Havre. Die See­manns­mis­sion bietet Seeleuten spir­ituelle, psy­chol­o­gis­che und prak­tis­che Unter­stützung. In den Häfen besuchen die Seel­sor­gen­den, Mitar­bei­t­ende und Frei­willige die Seeleute, die oft unter isolierten und gefährlichen Bedin­gun­gen arbeit­en, an Bord.

Zeichen des Glaubens - Lichtblick Römisch-katholisches Pfarrblatt der Nordwestschweiz 3
Bild: © Sil­vie Boyd, Dt. See­manns­mis­sion Le Havre
Marie-Christine Andres Schürch
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