«Tränen sind ein gutes Resonanzsignal»
Hartmut Rosa (*1965) ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Er lehrt an der Friedrich-Schiller-Universität im deutschen Jena und ist Direktor des Max-Weber-Kollegs. Einen Namen gemacht hat er sich mit seiner Forschung zur Beschleunigung der Zeit und zur Resonanz.
Bild: © Christoph Wider

«Tränen sind ein gutes Resonanzsignal»

Der Soziologe Hartmut Rosa ist mit seinem Resonanzbegriff in aller Munde. Im Gespräch erklärt er, was er darunter versteht, und was Resonanz mit Ostern zu tun hat.

Kirchen­baut­en sind in Ihrer Forschung wichtige Orte. Was kön­nen Kirchen?
Hart­mut Rosa: Sie kön­nen uns einen Sinn geben für eine andere Art, in der Welt zu sein. Wer eine Kirche betritt, ste­ht in einem Raum, der anders ist als ein Super­markt, ein Bahn­hof oder ein Büro. Die Art und Weise, wie wir in die Welt gestellt sind, trans­formiert sich.

Woran liegt das?
Am räum­lichen Empfind­en. Das kann sich durch die dick­en Mauern der Kirche verän­dern. Durch die Stille. Oft auch durch Dunkel­heit oder dadurch, dass es im Kirchen­raum eigentlich nichts zu tun gibt. Manch­mal spielt auch die zeitliche Veror­tung eine Rolle: Son­ntag­mor­gen fühlt sich anders an als Mon­tag­mor­gen. Kirchen kön­nen also einen Raum schaf­fen, in dem ein anderes Weltver­hält­nis möglich und erahn­bar wird.

Wozu ist das gut?
Meine sozi­ol­o­gis­che Grundthese lautet, dass wir derzeit in einem wach­send aggres­siv­en Ver­hält­nis zur Welt ste­hen. Ein anderes Ver­hält­nis zur Welt ist also drin­gend nötig und wün­schenswert.

Woran erken­nen Sie dieses aggres­sive Ver­hält­nis?
Wir müssen nur unsere To-do-Lis­ten anschauen: Die sind immer end­los und scheinen zu explodieren. Wir fühlen uns dadurch regelmäs­sig schuldig, weil wir ständig denken: Das wollte ich schon lange machen, jenes hätte ich drin­gend tun sollen, das wiederum kriege ich wom­öglich gar nicht hin. Aggres­sion wächst auf allen drei Ebe­nen der sozialen Real­ität: Im Grossen ver­hal­ten wir uns gegenüber der Natur aggres­siv, man denke nur an das Arten­ster­ben und die Kli­makrise. Im Kleinen kämpfen wir mit wach­senden Burnout- und Depres­sion­srat­en. Und viele Men­schen sind mit ihrem Kör­p­er und ihrer Psy­che nicht zufrieden, wollen sich ständig opti­mieren. Dazwis­chen liegt die Ebene des sozialen Umgangs, den wir miteinan­der pfle­gen. Hier hat sich das Kli­ma der kul­tur­poli­tis­chen Auseinan­der­set­zung verän­dert: Krieg wird nicht mehr als Aus­nah­me­fall betra­chtet, son­dern wieder als nor­mal wahrgenom­men.

Sie set­zen dem die Res­o­nanz­er­fahrung ent­ge­gen. Was passiert darin?
Res­o­nanz ist eine Form der Beziehung. Es geht darum, wie ein Sub­jekt zur Welt rund­herum in Beziehung tritt. Res­o­nanz begin­nt nicht damit, dass wir etwas tun, son­dern damit, dass wir etwas wahrnehmen. Ger­ade so, als rufe uns etwas an. Etwas berührt uns, bewegt uns, erre­icht uns. Und ich antworte darauf nicht mit dem Impuls «Das will ich haben! Das will ich kaufen!». Vielmehr öffne ich mich und gehe dem Anruf ent­ge­gen. Hören und antworten ist die Grund­form ein­er Res­o­nanzbeziehung, im Unter­schied zu beherrschen, kon­trol­lieren, dominieren.

Reinach, St. Niko­lauskirche © René Röthe­li

Wie wird Res­o­nanz aus­gelöst?
Das kann ein Bild sein, das wir im Muse­um sehen, oder ein Wort in der Predigt oder auch ein Lied. Plöt­zlich ergreift uns etwas. Manch­mal kann das so stark sein, dass uns Trä­nen in die Augen kom­men. Trä­nen sind ein gutes Res­o­nanzsig­nal. Es passiert eine Trans­for­ma­tion, ich bleibe in der Res­o­nanzbeziehung nicht der­selbe. Ursprünglich ist Res­o­nanz ein Begriff aus der Akustik, der ein Mitschwin­gen in feinen Vibra­tio­nen beschreibt.

Muss man Res­o­nanz üben?
Nehmen wir an, jemand geht am Son­ntag zum Gottes­di­enst, er macht das vielle­icht ein­mal im Jahr oder sog­ar ein­mal in zehn Jahren. Er macht dabei eine starke Erfahrung, sodass er eine Res­o­nanz empfind­et. Er geht danach erneut zum Gottes­di­enst, aber die näch­sten 90 Mal macht er diese Erfahrung nicht mehr. Den­noch wer­den ihn der Kirchen­raum und der Gottes­di­enst immer wieder an seine Res­o­nanz­er­fahrung erin­nern und damit auch die Zuver­sicht weck­en, dass solch eine Erfahrung möglich ist.

«Kirchen kön­nen einen Raum schaf­fen,
in dem ein anderes Weltver­hält­nis
möglich wird.»

Welch­es sind die wichtig­sten Ele­mente der Res­o­nanz?
In mein­er Forschung haben sich vier Ele­mente her­auskristallisiert. Das erste Ele­ment: Nach­dem uns etwas berührt hat, kön­nen wir Antwort darauf geben. Das zweite: Wir haben das Gefühl, wir erre­ichen die andere Seite, wir fühlen uns dem Gegenüber ver­bun­den. Drit­tens: Wir fühlen uns dabei ver­wan­delt. Manche sagen, sie kom­men aus dem Gottes­di­enst anders her­aus, als sie hineinge­gan­gen sind. Vielle­icht ist ein neuer Gedanke aufge­taucht. Oder die Beziehung zur Welt hat sich fühlbar verän­dert. Und viertens: Wir kön­nen Res­o­nanz nicht her­stellen. Selb­st wenn sie ein­tritt, bleibt sie unver­füg­bar und unkon­trol­lier­bar.

Sie schreiben, Ihr Lieblingswort sei «aufhören». Warum?
Zunächst bedeutet «aufhören» unter­brechen, nicht mehr weit­er­ma­chen. Dann kann man es aber auch als «nach oben hören» ver­ste­hen. Lass dich von etwas anderem anrufen. Unsere kleine Kirche in Grafen­hausen im Schwarzwald beispiel­sweise gefällt mir deshalb so gut, weil sie in der Decke auf­strebende Balken hat und ganz oben ein kleines Fen­ster, durch das Licht here­in­fällt. Aufhören ist ein Sich-nach-oben-Richt­en, im Unter­schied zu ein­er Kul­tur des gesenk­ten Blicks zum Handy.

Bald ist Ostern. Wenn Sie an die Geschichte von Jesu Tod und Aufer­ste­hung denken – lässt Sie darin etwas aufhorchen?
Mir ist wichtig, dass der Kar­fre­itag zu Ostern gehört. Die Trauer, die da zu fühlen ist, das Lei­den, das Trost­lose, das sind essen­zielle Momente. «Aufhören» heisst für mich, genau das auch zuzu­lassen, die Angst, den Zweifel, sog­ar die Sinnlosigkeit und den Tod. Ostern ist für mich dann ein «Trotz­dem». Ich muss die Wüsten­er­fahrung der Welt nicht leug­nen, trotz­dem bietet sich ein Dahin­ter an. Das empfinde ich als sehr ein­drucksvoll.

Sie beschreiben Res­o­nanz als Ort der Entste­hung von etwas unver­füg­bar Neuem. Ist Res­o­nanz ver­gle­ich­bar mit dem, was das Chris­ten­tum an Ostern feiert: Sich hinzugeben und Neues entste­hen zu lassen?
Ja, das kön­nte sein. Man find­et diese Hal­tung auch in der Idee, dass der Geist Gottes dort weht, wo er will – und nicht dort, wo wir wollen. Damit wird Unver­füg­barkeit deut­lich gemacht. Und gle­ichzeit­ig etwas, das uns ent­ge­genkommt. Und darin steckt auch ein ganz wichtiger Gedanke gegen den Irrglauben, wir müssten alles selb­st tun. Wir müssten bess­er wer­den im Umweltschutz, wir müssten die Wirtschaft wieder in Gang brin­gen, wir müssten mehr in die Sicher­heit investieren. Der Gedanke der Res­o­nanz, der sich in der christlichen Reli­gion auch in The­olo­gie über­set­zt hat, sagt: Lass es zu, dass da auch von ander­er Seite Bewe­gung aus­ge­ht, dass Neues nicht nur durch dein Tun entste­hen kann.

Gibt es ein Kunst­werk, das für Sie diese Dynamik aus­drückt?
Ich habe meine ästhetis­chen Sen­si­bil­itäten vor allem im Bere­ich von Musik und Lit­er­atur, aber es gibt auch unglaublich sprechende bildende Kun­st. Spon­tan kommt mir die Pietà von Käthe Koll­witz in den Sinn. Sie macht dieses Beziehungsmo­ment der Res­o­nanz, von dem wir ger­ade mit Blick auf Ostern gesprochen haben, ein­drück­lich sicht­bar.

«Lass zu, dass von ander­er Seite Bewe­gung aus­ge­ht,
dass Neues nicht nur
durch dein Tun entste­hen kann.»

Neben der Res­o­nanz beschäfti­gen Sie sich auch mit dem Leben­stem­po, das immer schneller wird. Wie kam es dazu?
Manch­mal fragt man sich: Wie kann es eigentlich sein, dass ich nie Zeit habe, wenn ich doch die ganze Zeit welche spare? Da gibt es also ein Para­dox. Dann ist mir schon als Stu­dent aufge­fall­en: Fragt man Men­schen, wie es ihnen geht, sagen sie häu­fig, dass es ihnen eigentlich gut geht, dass es nur ger­ade eben so hek­tisch sei. Da es aber fast immer für fast alle hek­tisch war, dachte ich, müsste man das «ger­ade eben» stre­ichen. Und Hek­tik scheint nichts Indi­vidu­elles zu sein, son­dern etwas Kollek­tives. Ich wollte wis­sen, woran das liegt.

Ich lese Ihre Analy­sen dazu auch als Kri­tik an unser­er Gesellschaft, die immer schneller wird.
Natür­lich. Ein Antrieb zu wis­senschaftlich­er Forschung ist ja oft­mals die Fest­stel­lung: Irgen­det­was stimmt hier nicht! So ging es mir von Anfang an mit der so unter­schiedlichen Zeit­er­fahrung zwis­chen Grafen­hausen und Lon­don. Wir ste­hen mit dem Gefühl in der Zeit, andauernd in einem Ham­ster­rad zu laufen – allerd­ings ohne voranzukom­men. Ich nenne das den «rasenden Still­stand».

Was befürcht­en Sie durch diesen rasenden Still­stand?
Dass sich die Aggres­sion als Weltver­hält­nis so stark in unsere Kör­p­er ein­schreibt, dass wir uns gar keine andere Art mehr vorstellen kön­nen, in der Welt zu sein. Ich bin aber überzeugt: Wir brauchen Räume, die uns ein anderes In-der-Welt-Sein offen­hal­ten.

Im Waldkloster - Lichtblick Römisch-katholisches Pfarrblatt der Nordwestschweiz 8
Das Ora­to­ri­um des Wald­klosters, das 2024 auf dem Hüt­tiker­berg stattge­fun­den hat. © Marie-Chris­tine Andres

Es geht Ihnen um «das gelin­gende Leben». Was ver­ste­hen Sie darunter?
Ich beschreibe neben den vier Ele­menten der Res­o­nanz auch vier Achsen. Und ich definiere gelin­gen­des Leben als eines, in dem diese vier Achsen in Schwingung sind. Da ist zum Ersten die soziale Achse: Die Res­o­nanz mit anderen. In Liebe, Fre­und­schaft, auch in der Poli­tik oder in der Seel­sorge. Zweit­ens die materielle Achse: Man kann mit manchen physis­chen Din­gen, mit denen man sich Tag für Tag umgibt, in eine Res­o­nanzbeziehung treten. Ein Kirchen­raum ist ein Beispiel dafür. Oder der Brot­teig, den der Bäck­er bear­beit­et. Die dritte Achse ist die Selb­stachse der Res­o­nanz: Ich kann mit mir selb­st, mit meinem Kör­p­er, mein­er Psy­che, mit mein­er Biografie in ein Res­o­nanzver­hält­nis treten. Viertens schliesslich eine ver­tikale Res­o­nanz, wenn wir mit dem in Schwingung treten, was man als umfassende Wirk­lichkeit wahrnehmen kann. Es wird Natur genan­nt oder Welt oder Kos­mos oder Leben. In dieser Achse kommt Reli­gion ins Spiel. Ich glaube, «Gott» ste­ht für die Vorstel­lung, dass am Grund unser­er Exis­tenz eine Antwort­beziehung ste­ht und nicht ein schweigen­des Uni­ver­sum.

«Reli­gio­nen stärken den Sinn dafür,
dass da draussen etwas ist,
das mich anruft.»

Hat­te Jesus in diesem Sinn ein «gelun­ge­nes Leben»?
Es fällt mir schw­er, das auf Jesus anzuwen­den … Ich würde zunächst davon aus­ge­hen, dass er im ver­tikalen, existen­ziellen Res­o­nanzsinn über eine starke Achse ver­fügte. Dann hat er bes­timmt auch eine Art von Selb­stres­o­nanz gelebt, ich stelle ihn mir so vor, dass er mit sich selb­st im Reinen war. Und er hat­te seine Jünger, mit denen er wohl eine Res­o­nanzbeziehung gepflegt hat. Ich würde also davon aus­ge­hen, dass Jesus in diesem Sinn ein gelun­ge­nes Leben hat­te. Aber wir sehen ger­ade bei ihm auch, dass gelin­gen­des Leben nicht bedeutet, keine Phasen der Ent­frem­dung zu durch­lei­den. Die Evan­gelien erzählen, dass auch bei Jesus die Res­o­nan­zach­sen nicht immer ohne Ein­schränkun­gen geschwun­gen haben. «Mein Vater, warum hast Du mich ver­lassen?» – dieser Schrei Jesu am Kar­fre­itag ist ein radikaler Aus­druck des Ver­lusts ein­er Res­o­nanzbeziehung. Ich glaube, nie­mand ist in Dauer­res­o­nanz, nicht ein­mal Jesus.

Gilt es, Ent­frem­dung unter allen Umstän­den zu ver­mei­den?
Ursprünglich dachte ich das. Dann habe ich fest­gestellt, dass das zu ein­fach ist. Wir kön­nen inzwis­chen sog­ar empirisch zeigen, dass Men­schen, die inten­sive Resonanz­erfahrungen erleben, immer auch inten­sive Ent­frem­dungs-Erfahrun­gen machen. Genau das würde ich auch für Jesus diag­nos­tizieren. Ver­mut­lich hat er über inten­sive Res­o­nanzbeziehun­gen und ‑erfahrun­gen ver­fügt. Aber er kan­nte auch diese men­schlichen Wüsten­phasen der Dürre und Res­o­nan­zlosigkeit.

Jesus hat auch Hass auf sich gezo­gen. Ist Hass eben­falls eine Form der Res­o­nanz?
Ich sehe Hass nicht als Form der Res­o­nanz. Hass ist die völ­lige Vernei­n­ung des anderen, der Abbruch der Beziehung: «Ich will dich weghaben». Ans Kreuz geschla­gen zu wer­den, kann für nie­man­den eine Res­o­nanz­er­fahrung sein.

Sie haben ein Buch mit dem Titel «Demokratie braucht Reli­gion» veröf­fentlicht. Weshalb?
Reli­gio­nen stärken den Sinn dafür, dass da draussen etwas ist, das mich anruft, das mich etwas ange­ht, das nicht ich selb­st bin. Ich bin überzeugt, dass Demokratie genau diese Anruf­barkeit braucht. Es geht mir also nicht um Kirche oder um Insti­tu­tio­nen. – Ich glaube übri­gens, dass es damit in der Schweiz etwas bess­er funk­tion­iert – bei allem, was man auch kri­tisieren kann.

Woran genau denken Sie?
Dass wir uns als Men­schen begeg­nen, als Bürg­erin­nen und Bürg­er, die einan­der etwas zu sagen haben. Dass mir der andere etwas zu sagen hat, obwohl er aus mein­er Sicht zunächst mal – verzei­hen Sie – ein Depp ist. In Deutsch­land spüre ich momen­tan jedoch eine starke gegen­seit­ige Dämon­isierung und die Gräben zwis­chen den Parteien sind tief bis zum Hass.

Sehen Sie einen Weg aus dieser Ver­bit­terung?
Demokratie ist das Ver­sprechen, dass jed­er eine Stimme hat. Zur Stimme gehören aber auch Ohren. Es geht nicht nur darum, dass ich «es» mal gesagt habe, son­dern auch, dass ich höre, mich vom anderen erre­ichen und poten­ziell trans­formieren lasse. Das ist die Hal­tung der Anruf­barkeit. Reli­gio­nen sind eine Möglichkeit, das zu üben.

Buchtipps

— Demokratie braucht Reli­gion.
Über ein eigen­tüm­lich­es Res­o­nanzver­hält­nis
Schmales Büch­lein, bre­ite Bedeu­tung: zu einem The­ma, das aktueller ist denn je.
Hart­mut Rosa, Kösel 2022

— Res­o­nanz.
Eine Sozi­olo­gie der Welt­beziehung
Wenn Beschle­u­ni­gung das Prob­lem ist, dann ist Res­o­nanz vielle­icht die Lösung.
Hart­mut Rosa, Suhrkamp 2018

Res­o­nanz ist also keine Ein­bahn­strasse.
Genau. Bei einem Res­o­nan­zange­bot habe ich den anderen nicht schon völ­lig begrif­f­en. Es bleibt da eine Irri­ta­tion: «Moment mal, das kenne und ver­ste­he ich noch nicht ganz.» Und es kann etwas qual­i­ta­tiv Neues in mir entste­hen. Wenn mir jemand hinge­gen nur ein gutes Gefühl gibt, so in etwa: «Der sagt endlich, was ich schon immer dachte», dann ist das nicht Res­o­nanz, obwohl es mich vielle­icht entzün­det. Res­o­nanz bedeutet eine Offen­heit der Beziehung.

Der Katholizis­mus ver­füge über mehr und andere Res­o­nanzqual­itäten als der Protes­tantismus, sagten Sie ein­mal.
Als Kind wollte ich katholisch wer­den, weil ich meine Kam­er­aden darum benei­dete. Warum? Max Weber, ein Klas­sik­er der Sozi­olo­gie, hat das gut beschrieben: Für gläu­bige Katho­liken ist die Welt voller Res­o­nanz. Man betritt eine Kirche, bekreuzigt sich am Wei­h­wasser­beck­en. Die Berührung mit dem Wass­er macht etwas mit mir – sie ist eine materielle Res­o­nanz. Dann das ewige Licht, die Idee der Gegen­wart Gottes. Mit den Heili­gen kann man in Beziehung treten, der Weihrauch zieht in die Nase, das Kreuz am Weges­rand erin­nert mich. Die Protes­tanten haben das Meiste davon stum­mgestellt. Es geht stark um das Wort und um den Ver­stand. Vielle­icht wur­den dadurch aber auch neue, vielle­icht sog­ar tiefer­liegende Res­o­nanzquellen erschlossen, in der Kun­st, in der Musik, in der Natur.

Wei­h­wass­er und Musik hin oder her: Warum erzeu­gen die grossen Kirchen nur noch so wenig Res­o­nanz?
Das ist ein gross­es Rät­sel. Rit­uale kön­nen eben auch erstar­ren. Dann erleben wir sie, die eigentlich Res­o­nanz aus­lösen sollen, umso stärk­er als ent­frem­dend. Du sitzt in der Kirche und denkst: «Das sagt mir gar nichts mehr.» Ich glaube, es hängt auch mit dem mod­er­nen Ver­sprechen zusam­men, wir kön­nten uns die Welt ver­füg­bar machen. Dazu hat die Kirche eben wenig anzu­bi­eten. Sie macht gar nichts ver­füg­bar. Jet­zt, wo wir allerd­ings nach und nach merken, dass es mit dem Ver­füg­bar­ma­chen nicht so richtig klappt, ist vielle­icht Zeit für eine Neubesin­nung.

Angesichts all der Beschle­u­ni­gung ger­at­en lang­samere Sys­teme unter Druck. Sollen sich die Kirchen fügen, um nicht unterzuge­hen? Oder wer­den sie ger­ade dann unterge­hen, wenn sie sich anpassen?
Ich glaube, sie würde gut daran tun, sich nicht anzu­passen. Allerd­ings nicht mit dem Gefühl, abge­hängt zu sein, son­dern im Bewusst­sein und in der Absicht, Res­o­nanzräume zu schaf­fen. Ich würde nicht bedin­gungs­los in die mod­erne Logik des Ver­füg­bar­ma­chens ein­treten. Wird das Lied «Meine Zeit ste­ht in deinen Hän­den» eigentlich auch in der katholis­chen Tra­di­tion gesun­gen?

Ja.
Da geht es um eine alter­na­tive Form, um das, was man Sakralzeit oder Heil­szeit nen­nen kann. Das scheint mir wichtig. Ich erin­nere mich an eine Diskus­sion mit meinem Vater. Er hat­te Wei­h­nacht­en satt. «Seit 2000 Jahren immer das Gle­iche», mur­rte er. Darauf sage ich: Ja genau, darum geht es.

Der Artikel ist zuerst im Forum-Mag­a­zin, dem Pfar­rblatt der katholis­chen Kirche im Kan­ton Zürich erschienen.

Veronika Jehle
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