«Sie wollte nicht sterben – sie konnte nicht mehr leben»
- In der KanÂtonÂssÂchule Wohlen wird vom 14. bis 19. März über ein TheÂma gesprochen, über das sonÂst gerne geschwiegen wird: Suizid. Die AusstelÂlung dazu heisst «Leben, was geht!»
- AusstelÂlungsÂmachÂer MarÂtin SteinÂer hat selÂber erlebt, was es heisst, von einem SelbÂstÂmord betrofÂfen zu sein und nicht darüber reden zu könÂnen.
- Die AusstelÂlung bietet viele MöglichkeitÂen, sich mit dem TheÂma auf verÂschiedeÂnen EbeÂnen auseinanÂderzusetÂzen, vor allem aber, mit BetrofÂfeÂnen direkt oder über PodÂcasts ins Gespräch zu komÂmen.
Zwei Jahre ist es her, dass sich die Frau von MarÂtin Mattmüller das Leben nahm. Sie hinÂterÂliess einen trauÂmaÂtisierten Mann und zwei Töchter, die, wie ihr Vater, sich erst einÂmal nicht zu helfen wussten. Erst durch den AusÂtausch mit anderen SuizidÂbeÂtrofÂfeÂnen in den SelbÂsthilÂfeÂgrupÂpen «
Refugium» und «
Nebelmeer», gelang es ihnen, Worte und Bilder für das UnbeÂgreiÂfliche zu findÂen. Der erste Schritt zur VerÂarÂbeitung war getan. «Alle BetrofÂfeÂnen haben ein riesenÂgrossÂes Gefühlschaos der Trauer durchgemacht und sind dabei auch VerzweiÂflung, Wut und VerÂletÂzung begegÂnet. Über all das zu reden, hilÂft. Dann kommt die ErkenÂntÂnis: ich bin nicht der einzige und was ich erlebt habe ist keine Schmach.»
Informationen aus erster Hand
AusstelÂlungsÂmachÂer MarÂtin SteinÂer wäre froh geweÂsen, er hätte damals auch MenÂschen gehabt, die mit ihm über das UnfassÂbare gesprochen hätÂten. Zuerst, als der BrudÂer eines engen FreÂunÂdes in den Tod ging und dann, als sich der Abwart der KanÂtonÂssÂchule Wohlen vor gut zweieinÂhalb Jahren suiziÂdierte. Aus diesen präÂgenÂden ErfahrunÂgen herÂaus kam der junge KanÂtilehrer auf die Idee zur AusstelÂlung «Leben, was geht! Suizid im Gespräch». Dazu hat er 20 MenÂschen vors Mikrophon gebeten, um ihre ErfahrunÂgen und ErlebÂnisse als BetrofÂfene im ZusamÂmenÂhang mit FreÂitoÂden aufzunehmen. Diese AufÂnahÂmen könÂnen jetÂzt schon auf der WebÂsite der AusstelÂlung unter
www.leben-was-geht.ch angeÂhört werÂden. Dazu liefert der Webauftritt von «Leben, was geht!» noch viele weitÂere Denkanstösse, HinÂterÂgründe und vor allem auch weitÂere Links für alle, die sich offen mit dem TheÂma Suizid auseinanÂderÂsetÂzen wollen.Die 20 «LivÂing Books», so der neudeutsche AusÂdruck für MenÂschen, die ihre Geschichte erzählen, sind das eigentliche Herzstück der AusstelÂlung. BesonÂders interÂesÂsant dürfte es für die AusstelÂlungsÂbeÂsuchÂer am WochÂenende vom 14./15. März werÂden, wenn 14 dieser perÂsönÂlich BetrofÂfeÂnen und FachÂperÂsoÂnÂen in der Aula und der MedioÂthek der KanÂtonÂssÂchule für direkÂte Gespräche zur VerÂfüÂgung steÂhen. «Wir stellen uns einen TurÂnus von 10 bis 15 Minuten pro GesprächsinÂsel vor», sagt MarÂtin SteinÂer. «Aber die Leitung liegt bei den MenÂschen, die die AusstelÂlung besuchen. Sie sollen den Takt vorgeben. Sie sollen die EinÂdrücke aufnehmen, den Raum begeÂhen und alles in Ruhe auf sich wirken lassen.» Dazu gibt es auch Posten mit LesesÂtoff und die Werke der beiÂden GastkünÂstÂlerinÂnen Livia Müller und JesÂsiÂca BuchÂer. Über der AusstelÂlung prangt eine grosse LeinÂwand, auf der NachrichtÂen der AusstelÂlungsÂbeÂsuchÂer und ‑machÂer via Handy hochgeÂladen werÂden könÂnen.
Mit Handy und Kopfhörern
Neben PsyÂchiÂater und TherÂaÂpeut, SeelÂsorgÂern, Polizistin, BestatÂterinÂnen, Nothelfern und einem Philosophen, ist MarÂtin Mattmüller einÂer von zehn DirekÂtÂbeÂtrofÂfeÂnen, die als «LivÂing Books» ihre Geschichte erzählen. «Heute kann ich darüber reden», sagt der 65-Jährige. «Nach zwei Jahren ist der Tod meinÂer Frau zwar nicht überÂwunÂden, aber er ist in mein Leben und in das meinÂer Töchter inteÂgriÂert. Ich sage immer: meine Frau hatÂte SeeÂlenkrebs. Sie wollte nicht sterÂben – sie konÂnte nicht mehr leben.» Wer am 14. und 15. März die AusstelÂlung in der Aula der KanÂtonÂssÂchule Wohlen nicht besuchen kann, kann von MonÂtag bis DonÂnerÂstag die «LivÂing Books» als PodÂcasts runÂterÂladen und hat so auch die Möglichkeit, in eine Art von DiaÂlog mit den ErzähÂlern zu treten. Dazu muss man aber unbeÂdÂingt sein Handy und eigene KopfhörÂer zur AusstelÂlung mitÂbrinÂgen. Ohne funkÂtionÂiert der virtuelle AusÂtausch nicht.MarÂtin SteinÂer freut sich auf das WagÂnis dieser AusstelÂlung: «Der Inhalt ist für die BesuchÂer nicht vorgeÂferÂtigt. Die AusstelÂlung setÂzt MenÂschen voraus, die eine gewisse OffenÂheit haben.» «Leben, was geht!» bietet über drei StunÂden TonÂdokuÂmente. «Es gibt viel zu hören, zu lesen – es liegen auch BüchÂer auf
– und anzuschauen. Das wirft sichÂer FraÂgen auf und regt zu Gesprächen an.»
«Keine freie Entscheidung»
Die AusstelÂlung wird unter anderen von der Römisch-KatholisÂchen KirchgeÂmeinde Wohlen unterÂstützt. Ein EngageÂment, das der PfarÂrer von Wohlen, Pater Solomon, sehr begrüsst: «Das Aussprechen, das Darüber-Sprechen beinÂhalÂtet auch Heilung», sagt der SeelÂsorgÂer, der selÂber schon viele ErfahrunÂgen mit dem TheÂma Suizid machen musste. Die MenÂschen in Europa betonÂten immer gerne, dass sie alles selÂber und frei entscheiÂden würÂden, «aber SelbÂstÂmord ist keine freie EntscheiÂdung. Da wirken Kräfte und Zwänge, die wir uns nicht vorstellen könÂnen.»Auch wenn Pater Solomon sich schon viele Male die quälende Frage nach dem Warum gestellt hat und, wie die meisÂten BetrofÂfeÂnen, auch VorÂwürfe gemacht hat, weil er verÂmeintlich hätte erkenÂnen sollen, dass sich ein MenÂsch etwas antun könÂnte, spricht er mit ÜberzeuÂgung: «Die Kirche hat ein AngeÂbot zu machen, sowohl denen, die in einÂer Krise steckÂen, als auch den MenÂschen, die vom Suizid eines FreÂunÂdes oder VerÂwandten betrofÂfen sind. Das vergessen viele Leute hier, weil sie immer noch das Bild im Kopf haben vom Priester mit dem erhobeÂnen ZeigefinÂger. Es wäre ein erster Schritt, wenn die MenÂschen die Kirche wieder als FreÂund sehen könÂnten, der für sie da ist und ihnen die Hand reicht.» Trotz seines vollen TerÂminkalenÂders als verÂantÂwortlichÂer Priester für sechs PfarÂreien mit 13’000 MitÂgliedern, nimmt er sich die Zeit, wenn jemand in Not ist. «Es gibt ein schönes SprichÂwort: Vor dem SonÂnenaufÂgang ist die Nacht am dunkelÂsten. Dann ist es wichtig, für jemanÂden da zu sein und diesem MenÂschen das Licht am Ende des TunÂnels zu zeigen.»
Ausstellungsdaten
Die Vernissage von «Leben, was geht! Suizid im Gespräch» ist am SamÂstag, 14. März, um 13 Uhr, in der Aula der KanÂtonÂssÂchule Wohlen. Die ÖffÂnungszeitÂen sind: 14. und 15. März, von 14 bis 18 Uhr, und 16. bis 19. März, von 8 bis 20 Uhr. Am DonÂnerÂstagabend, um 17 Uhr, liest in der MedioÂthek der KanÂtonÂssÂchule eine «ÜberÂlebende» aus ihrem Skript vor und gewährt einem interÂessierten PubÂlikum EinÂblicke in ihr Leben und in ernÂsthafte Krisen, die sie durchÂlaufen und überÂlebt hat.