Obdachlos im Aargau

Obdachlos im Aargau

Christliche Insti­tu­tio­nen wie das «Hope» und die Heil­sarmee stellen im Aar­gau für Obdachlose Unterkün­fte zur Ver­fü­gung. Der Ansturm ist gross, denn diese Unterkün­fte sind bil­lig und entsprechend attrak­tiv, wenn Gemein­den dem Gesetz fol­gend Obdachlose unter­brin­gen müssen. Es fehlen aber nicht nur Sozial­stu­dios, son­dern auch Unterkün­fte für Obdachlose mit gesund­heitlichen Prob­le­men und Suchterkrankun­gen. Aus Sicher­heits­grün­den erhal­ten diese Men­schen kein Obdach – mit fatal­en Fol­gen, wie die Recherche von Hor­i­zonte zeigt.Seit gut 30 Jahren schlägt sich Röbi von All­men (Name von der Redak­tion geän­dert) der ohne eigene Woh­nung durch. Zu seinen strüb­sten Zeit­en war Röbi auf der Gasse, schlief draussen. Zeitweise lebte der mit­tler­weile 45-jährige Alko­ho­lik­er und immer wieder rück­fäl­lige Dro­gen­süchtige bei Fre­un­den oder in Pen­sio­nen, die ihm die Sozialämter finanzierten. Zu Let­zterem sind die Gemein­den näm­lich laut Sozial­hil­fe- und Präven­tion­s­ge­setz verpflichtet.

Allein 184 Anfragen im vergangenen Jahr

Seit bald einem hal­ben Jahr wohnt Röbi im «Hope», ein­er christlichen Sozialin­sti­tu­tion in Baden. Das «Hope« bietet Men­schen ohne eigene Woh­nung für die Dauer von max­i­mal sechs Monat­en ein Obdach. Das kostet die öffentliche Hand 70 Franken am Tag – inklu­sive Vollpen­sion. Deut­lich weniger als in einem Hotel.«Wir hat­ten schon völ­lig entkräftete Leute vor der Türe, erk­lärt Daniela Fleis­chmann, Geschäft­slei­t­erin beim «Hope». Ins­ge­samt 17 Per­so­n­en wohnen jew­eils vorüberge­hend an der Stadt­turm­strasse, weit­ere 11 Per­so­n­en hat das «Hope» in exter­nen Woh­nun­gen in Baden unterge­bracht. Allein 184 Anfra­gen habe man im ver­gan­genen Jahr erhal­ten, so Daniela Fleis­chmann. Von Beistän­den, Sozial­dien­sten und Obdachlosen aus dem ganzen Kan­ton und darüber hin­aus. 62 Per­so­n­en habe man aufnehmen kön­nen.Als Wohn­be­gleit­er küm­mert sich Roger Hagen­buch im «Hope» um die Gäste auf Zeit: «Wir schauen, dass diese Men­schen wieder eine Struk­tur in ihren Tag bekom­men und zurück in den All­t­ag find­en», erk­lärt er. «Mahlzeit­en und ver­schiedene Ämtli helfen, dieses Ziel zu erre­ichen, obgle­ich die meis­ten nicht mehr als sechs bis acht Stun­den pro Woche arbeit­en kön­nen.» So gut es geht, wer­den die Gäste im «Hope« auf eine Anschlus­slö­sung vor­bere­it­et. Denn nach spätestens sechs Monat­en müssen sie gehen. Und nicht alle haben eine Anschlus­slö­sung.

Gemeinden befeuern Sozialstudio-Nachfrage

Auch die Heil­sarmee stellt Sozial­stu­dios zur Ver­fü­gung. Für die drei Sozial­stu­dios an der Basler­strasse in Brugg-Umiken erhält Korp­sof­fizier Markus Kunz täglich Anfra­gen. «Es ist hart, dass wir auch mit unseren drei Stu­dios, die wir anbi­eten, oft absagen müssen. Denn unsere Stu­dios haben teil­weise eine lange Warteliste.» Es brauche klar mehr Sozial­stu­dios, weiss Markus Kunz. Die Sozial­dien­ste der Region wür­den «ihre Leute« natür­lich am lieb­sten in solchen Stu­dios unter­brin­gen. Diese kosteten 900 Franken im Monat. Die Aus­gaben für ein Pen­sion­sz­im­mer über­steigen diese Aus­gaben um ein Vielfach­es.Max­i­mal drei Monate dür­fen Men­schen ohne eigene Woh­nung in einem der Sozial­stu­dios bei der Heil­sarmee bleiben. «So haben sie wieder eine Adresse, mit deren Hil­fe plus Ref­erenz von uns sie eine Woh­nung find­en kön­nen. Ohne diese wären sie auf dem Woh­nungs­markt chan­cen­los», erk­lärt Markus Kunz. Die Stu­dios sind schlicht gehal­ten: Ein bis zwei Zim­mer mit Schlaf- und Wohn­gele­gen­heit, dazu Kochnis­che und Nasszelle.In einem der Stu­dios tre­f­fen wir eine junge Frau mit zwei Kindern. Sie ist froh, hier sein zu kön­nen. Wegen häus­lich­er Gewalt sei sie vor zwei Monate hier gelandet. Damit sie nicht gefun­den werde, könne sie nicht bei Fam­i­lien­ange­höri­gen wohnen. «Frauen mit Kindern dürften sechs Monate bleiben», erk­lärt Markus Kunz. Voraus­set­zung sei, dass sie sich – genau wie die anderen Stu­dio-Bewohn­er – selb­st­ständig ver­sorgten und eine Kostengut­sprache vor­liege.

Viel Widersprüchliches zu den Zahlen

Auf Nach­frage bei offiziellen Stellen entste­ht der Ein­druck, dass es im Grunde kein Obdachlosen­prob­lem im Aar­gau gibt. So erk­lärt beispiel­sweise Bern­hard Gras­er, Medi­en­sprech­er der Kan­ton­spolizei Aar­gau auf Anfrage: «Obdachlosigkeit ist ein Phänomen, das wir so in einem ver­gle­ich­baren Masse wie in Zürich oder anderen Grossstädten nicht ken­nen.» Klar gebe es Rand­ständi­ge wie beispiel­sweise in Aarau am Bahn­hof, aber diese seien in soziale Net­ze einge­bun­den und müssten nicht auf der Strasse schlafen.»Das bestätigt auch Jean­nine Meier, Vorste­herin der Sozialen Dien­ste der Stadt Aarau. «Der Bahn­hof ist ein Sam­melpunkt. Nur weil sich dort Rand­ständi­ge aufhal­ten, heisst das noch lange nicht, dass diese obdach­los sind.» Jeden­falls habe man noch nie von der Polizei Per­so­n­en zugewiesen bekom­men, von denen es hiess, sie seien obdach­los. «Wirk­lich Obdachlose sind uns nicht bekan­nt.»Wed­er das kan­tonale Amt für Sta­tis­tik noch der Bund liefert Zahlen zum The­ma Obdachlosigkeit. Solche find­en sich erst in der Sozial­hil­fes­ta­tis­tik. Diese erfasst, inwieweit Per­so­n­en mit «beson­deren Wohn­for­men« von den Gemein­den unter­stützt wer­den: «Ohne feste Unterkun­ft« oder in «Pen­sio­nen», bzw. «Hotels». Waren dies im Aar­gau 2012 noch 177 Per­so­n­en, so weisen die Sta­tis­tiken für die Jahre 2014 und 2015 jew­eils 228 Per­so­n­en aus.Diesen Zahlen gegenüber ste­hen die Angaben von Seit­en der Betreiber von Notun­terkün­ften und Sozial­stu­dios. Und Aus­sagen von Seit­en Sozialer Dien­ste, beispiel­sweise aus Aarau. Jean­nine Meier, Vorste­herin der Sozialen Dien­ste der Stadt Aarau, erk­lärt auf Anfrage: «Die Sozialen Dien­ste sind immer wieder in der Sit­u­a­tion, kurzfristig Per­so­n­en in pro­vi­sorischen Unterkün­ften unterkom­men zu lassen. Eine eigentliche Sta­tis­tik darüber führen wir jedoch nicht.»

Pfuusbus im Aargau gescheitert

Von «Einzelfällen» spricht zunächst Hilde­gard Hochstrass­er. Auf kri­tis­ches Nach­fra­gen hin räumt die Lei­t­erin der Sozialen Dien­ste Baden dann aber doch ein, dass es Notschlaf­stellen und Not­woh­nun­gen bräuchte. Lei­der habe unlängst ein dem Zürcher Pfu­us­bus nachemp­fun­denes Pro­jekt nicht real­isiert wer­den kön­nen, so Hilde­gard Hochstrass­er. Man habe viele Anläufe genom­men, doch die Gemein­den hät­ten das Pro­jekt nicht mit­tra­gen wollen.Auch die Lan­deskirchen waren als Part­ner für den Pfu­us­bus vorge­se­hen. Auf ein weit­er­führen­des Engage­ment zugun­sten von Obdachlosen ange­sprochen, erk­lärt Kirchen­rat­spräsi­dent Luc Hum­bel: «Im Wis­sen um die weit­er­hin beste­hende Mankosi­t­u­a­tion ist das The­ma weit­er­hin präsent und pen­dent.» Luc Hum­bel kann sich vorstellen, dass man mit der neu geschaf­fe­nen Fach­stelle Diakonie die Fragestel­lung the­ma­tisieren und wohl auch evaluieren wer­den.

HEKS vermietet an jene, die niemand will

Seit­ens der Reformierten Lan­deskirche Aar­gau hält Chris­t­ian Härtli fest: «Im Auf­trag der reformierten Kirche ist das Hil­f­swerk der Evan­ge­lis­chen Kirchen der Schweiz HEKS in diesem Bere­ich aktiv.» Die Region­al­stelle Aargau/Solothurn bewahre mit dem Pro­jekt «HEKS-Wohnen» viele Men­schen, die keine Woh­nung find­en, vor Obdachlosigkeit. Unter­stützt werde das Pro­jekt seit Anfang mit namhaften Beiträ­gen von Seit­en der Reformierten Lan­deskirche.Die sieben Not­woh­nun­gen in Aarau seien etwa zu 90 Prozent aus­ge­lastet, erk­lärt René Lin­den­maier von der Region­al­stelle Aargau/Solothurn des HEKS. Er wisse von vie­len Leuten, die über Monate hin­weg keine eigene Woh­nung hat­ten – Zunehmend Men­schen mit Schulden und Betrei­bun­gen. «Diese kön­nen keine Woh­nung anmi­eten», hält René Lin­den­maier fest.In den Not­woh­nun­gen des HEKS kön­nen Obdachlose zwis­chen drei bis sechs Monat­en bleiben. Bedin­gung sei die Akzep­tanz von regelmäs­si­gen Besuchen, René Lin­den­maier nen­nt das Wohn­be­gleitung. In der Begleitung wür­den leben­sprak­tis­che und psy­chosoziale The­men bear­beit­et, erk­lärt der Sozialpäd­a­goge. Auch für Fam­i­lien hält das HEKS eine solche Notun­terkun­ft bere­it. Let­ztere kostet die öffentliche Hand 140 Franken pro Tag, für eine Einzelper­son wer­den den Sozial­dien­sten 85 Franken ver­rech­net – ohne Verpfle­gung. Die Leute hät­ten so ein gün­stiges Zim­mer mit eigen­em Bad und ein­er Küche – ein Vorteil gegenüber der Unterkun­ft in einem Hotel oder ein­er Pen­sion.Für Men­schen mit hohen Schulden und Betrei­bun­gen, die auf dem Woh­nungs­markt chan­cen­los bleiben, ver­mi­etet das HEKS zudem 49 eigene Woh­nun­gen. Auch diese wür­den nur mit Wohn­be­gleitung ver­mi­etet, erk­lärt René Lin­den­maier und fügt an: Zur Zeit seien alle diese Woh­nun­gen belegt.

Kein Obdach für Suchtkranke

Dass immer mehr Men­schen mit finanziellen Prob­le­men keine Woh­nung mehr find­en, weiss auch Daniela Fleis­chmann vom «Hope». Ihr Sorge gilt indessen einem anderen Prob­lem: «Die Sozialämter erfassen die Per­so­n­en, die bei Ihnen gemeldet sind und sich an die Ämter wen­den. Was aber ist mit Men­schen, die nir­gends gemeldet sind – spanis­chen Gas­tar­beit­ern zum Beispiel? Was ist mit Suchtkranken, die aus der Ther­a­pie fliegen oder Men­schen, die sich nicht auf die Ämter trauen?» Auch Men­schen mit ein­er psy­chis­chen Erkrankung, die mit ihrem All­t­ag über­fordert, zugle­ich aber den Anforderun­gen an einen Aufen­thalt in ein­er Insti­tu­tion für Men­schen mit ein­er psy­chis­chen Erkrankung nicht entsprächen, wür­den sich selb­st über­lassen.Men­schen mit Suchterkrankun­gen oder psy­chis­chen Prob­le­men hät­ten generell ein hohes Risiko für Obdachlosigkeit, so Daniela Fleis­chmann. Kommt hinzu, dass sie aus Sicher­heits­grün­den wed­er von der Heil­sarmee, noch vom «Hope» beherbergt wer­den. «Das ist zu gefährlich. Unsere Struk­turen reichen dazu nicht, wie uns die Erfahrung gezeigt hat», erk­lärt Daniela Fleis­chmann. Mit teils trau­ri­gen Kon­se­quen­zen: Zwei Schw­er­st­süchtige, die um Hil­fe ersucht hät­ten und abgewiesen wer­den mussten, star­ben kurze Zeit später.
Andreas C. Müller
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