Missbrauchsstudie führt zu einer Verdoppelung der Kirchenaustritte im Aargau

Missbrauchsstudie führt zu einer Verdoppelung der Kirchenaustritte im Aargau

  • Die Römisch-Katholis­che Kirche im Aar­gau hat im ver­gan­genen Jahr 9’075 Mit­glieder ver­loren. Das sind fast dop­pelt so viele wie im Jahr 2022.
  • Die Lan­deskirche nen­nt in ihrer Medi­en­mit­teilung die Veröf­fentlichung der Pilot­studie zum Miss­brauch als Grund für die hohen Aus­trittszahlen.
  • Die Aus­trittswelle stellt Lan­deskirche und Kirchge­mein­den vor finanzielle Her­aus­forderun­gen. Trotz­dem begrüsst die Katholis­che Kirche im Aar­gau die Miss­brauchsstudie als längst fäl­li­gen Schritt in Rich­tung Trans­parenz und Ver­ant­wor­tung.

Die hohen Aus­trittszahlen aus der Römisch-Katholis­chen Kirche im Jahr 2023 ste­hen ganz im Zeichen der Veröf­fentlichung der von der Römisch-Katholis­chen Kirche in der Schweiz in Auf­trag gegebe­nen Pilot­studie zum Miss­brauch seit 1950. Die erschüt­tern­den Miss­brauch­szahlen aus der Studie, ins­beson­dere aus den frühen Jahren, führten ab Sep­tem­ber 2023 zu ein­er grossen Aus­trittswelle von Kirchen­mit­gliedern im Aar­gau und sum­mierten sich schliesslich zu ein­er Ver­dop­pelung der Aus­tritte im Ver­gle­ich zu den Vor­jahren.

Massiv mehr Austritte ab September 2023

Im Kan­ton Aar­gau gehörten 2023 von den gut 720’000 Ein­wohner­in­nen und Ein­wohn­ern (Stand 30. Juni 2023) rund 27.5 % der Römisch-Katholis­chen Kirche an. Von diesen 197’728 Mit­gliedern trat­en im let­zten Jahr 9’075 oder 4.59 % aus der Kirche aus. Die Ver­dopplung der Aus­tritte, deren Zahl im Vor­jahr noch bei 4’559 Per­so­n­en lag, sei in erster Lin­ie auf die am 12. Sep­tem­ber 2023 präsen­tierten Resul­tate der Studie «Aufk­lärung Miss­brauch» in der Römisch-Katholis­chen Kirche in der Schweiz seit 1950 zurück­zuführen, schreibt die Lan­deskirche in ihrer Medi­en­mit­teilung. Dieser Schluss ergibt sich daraus, dass die Aus­trittszahlen ab Sep­tem­ber 2023 im Ver­gle­ich zu den Vor­jahren mas­siv höher gewe­sen seien.

Die Studie «Aufk­lärung Miss­brauch» ist eine unab­hängige his­torisch-wis­senschaftliche Unter­suchung, welche die Aufar­beitung sex­uellen Miss­brauchs in der katholis­chen Kirche Schweiz zum Ziel hat. Sie wurde von den drei nationalen kirch­lichen Insti­tu­tio­nen der Schweiz – der Schweiz­er Bischof­skon­ferenz (SBK), der Römisch-Katholis­chen Zen­tralkon­ferenz der Schweiz (RKZ) und der Kon­ferenz der Vere­ini­gung der Orden und weit­er­er Gemein­schaften des gottgewei­ht­en Lebens (KOVOS) der Uni­ver­sität Zürich in Auf­trag gegeben und wird bis 2026 fort­ge­führt.

Zeichen für einen wichtigen Gesinnungswechsel

Trotz der hohen Aus­trittszahlen begrüsst die Katholis­che Kirche im Aar­gau die Studie zur Aufar­beitung des Miss­brauchs inner­halb der Römisch-Katholis­chen Kirche in der Schweiz als wichti­gen und längst fäl­li­gen Schritt in Rich­tung Trans­parenz und Ver­ant­wor­tung für die ver­gan­genen Tat­en. Was geschehen sei, dürfe nicht wieder geschehen und solle mit den bere­its seit 2002 erschienen ersten gülti­gen Richtlin­ien der Schweiz­er Bischof­skon­ferenz zu Präven­tion und zum Umgang mit Fällen und Mel­dun­gen ver­hin­dert wer­den. Für Mitar­bei­t­ende der Römisch- Katholis­chen Kirche im Aar­gau gilt seit 2010 eine ver­traglich fest­ge­hal­tene Anzeigepflicht bei Ken­nt­nis­nahme von Fällen gegen die per­sön­liche Integrität. Laut Mit­teilung der Aar­gauer Lan­deskirche greifen die unab­hängige Meldestelle und der Genug­tu­ungs­fonds für Opfer, Schu­lun­gen in Nähe- und Dis­tanz sowie Leu­mund­szeug­nisse für pas­toral tätige Per­so­n­en bere­its heute. Kirchen­rat­spräsi­dent Luc Hum­bel betont, dass die Römisch-Katholis­che Kirche im Aar­gau als Insti­tu­tion punk­to Ver­hin­derung von Miss­brauch heute gut aufgestellt sei.

Auch Eintritte, die sich auf die Studie beziehen

Der hohen Zahl von Aus­trit­ten ste­hen 161 Wiedere­in­tritte und rund 1’000 Erstkom­mu­nio­nen gegenüber. Rück­mel­dun­gen geben Grund zur Hoff­nung, dass die Studie sich let­ztlich pos­i­tiv auf die Glaub­würdigkeit und damit auf die Mit­gliederzahl auswirkt. Luc Hum­bel erk­lärt: «Wir haben auch Ein­tritte, die sich expliz­it auf die Studie beziehen, weil wir hin­schauen und unsere Arbeit machen.»

SBK, RKZ und KOVOS haben auf nationaler Ebene weit­ere Mass­nah­men beschlossen, mit denen die Aufar­beitung fort­ge­set­zt wird und insti­tu­tionelle Män­gel ange­gan­gen wer­den: Es gibt noch viel zu tun im Bestreben, sys­temis­che Defizite und Risiken zu erken­nen und anzuge­hen, Miss­bräuche zu ahn­den und Ver­tuschung zu ver­hin­dern. Die Aufar­beitung der Ver­gan­gen­heit und die Mass­nah­men für die Zukun­ft seien Zeichen für einen wichti­gen Gesin­nungswech­sel und wür­den der Römisch-Katholis­chen Kirche helfen, sich zu verän­dern. Weit­er sei die Römisch-Katholis­che Kirche gefordert, ihre Reformbe­stre­bun­gen auch im Bere­ich der Gle­ich­berech­ti­gung glaub­würdig umzuset­zen.

«Katholikinnen und Katholiken müssen den Mehrwert erkennen»

Die grosse Zahl der Aus­tritte stellt die Kirchge­mein­den und die Lan­deskirche vor finanzielle Her­aus­forderun­gen, da sich die Kirche durch Kirchen­s­teuern ihrer Mit­glieder finanziert. Die Lan­deskirche unter­stützt mit ihren Mit­teln die Kirchge­mein­den und Pfar­reien vor Ort, aber auch Jugen­dar­beit, spezial­isierte Seel­sorge zum Beispiel in den Aar­gauer Spitälern, Kliniken und Heimen, christliche Bil­dung und Bekämp­fung von Armut über katholis­che Hil­f­swerke wie die Car­i­tas Aar­gau oder Ein­rich­tun­gen wie die Notschlaf­stelle Aar­gau. Auch die Bewahrung der Schöp­fung durch Unter­stützung von Umwelt­pro­jek­ten oder der Unter­halt der kul­turhis­torischen Güter gehören zu den Auf­gaben der Lan­deskirche.

Kirchen­rat­spräsi­dent Luc Hum­bel sagt: «Katho­likin­nen und Katho­liken müssen für sich sel­ber und für die Gesellschaft den Mehrw­ert erken­nen, der Kirche anzuge­hören, auch wenn sie nicht mehr regelmäs­sig die Gottes­di­en­ste besuchen. Die Kirche bietet für Men­schen in allen Lebensla­gen Seel­sorge und Gemein­schaft. Sie engagiert sich für die Schwachen am Rande der Gesellschaft. Damit erfüllt sie auch heute noch eine unverzicht­bare Funk­tion.»

…und sie bewegt sich doch

«Die Welt­syn­ode im Okto­ber 2023 in Rom hat sich für mehr regionale Unab­hängigkeit in unser­er wel­tumspan­nen­den Kirche aus­ge­sprochen und das an ein­er Syn­ode, an der zum ersten Mal auch Frauen gle­ich­berechtigt teil­nah­men. Wir sind voller guter Hoff­nung, dass sich die Kirche eben doch bewegt. Das sind erste Schritte, um die Glaub­würdigkeit in der heuti­gen Zeit wiederzugewin­nen», bekräftigt Luc Hum­bel.

Marie-Christine Andres Schürch
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