Lernen loszulassen

Lernen loszulassen

«Ich bin eine Kindernär­rin», geste­ht Jus­ta Pin­now und ergänzt lachend: «Mein Mann wusste von Anfang an, dass ich einige Kinder habe möchte.» Und so kam es. Mit­tler­weile gehören fünf eigene Kinder zur Ehrendinger Fam­i­lie, dazu sind Pin­nows bere­its dreifache Pflegeel­tern.Ist in vie­len Häusern ein mas­siv­er Esstisch mit ein­er stat­tlichen Anzahl von Stühlen drum herum Aus­druck eines grosszügi­gen Lebensstils, so ist diese Ein­rich­tung im Hause Pin­now schlicht nötig. Denn neben Jus­ta und Dieter Pin­now leben im Haushalt deren drei Töchter und zwei Söhne im Alter zwis­chen elf und vierundzwanzig Jahren, aktuell zudem ein Pflege­bub. Er ist bere­its ihr drittes Pflegekind, seit sie sich 2008 zu diesem Engage­ment entsch­ieden haben.

Platz im Herz und im Auto

«Ich lernte in mein­er Ursprungs­fam­i­lie, dass es Men­schen gibt, denen es im Leben nicht so gut geht», erzählt Jus­ta Pin­now. Jugendliche oder Mitar­bei­t­ende mit «anspruchsvollem Hin­ter­grund» erhiel­ten im elter­lichen Betrieb Unter­stützung, wenn sie Halt im Leben braucht­en. «Diese Erfahrung war klar Weg­bere­it­er für mein Engage­ment als Pflege­mut­ter.»Nach der Geburt der fünf eige­nen Kinder spürte Jus­ta Pin­now, dass es «im Herz und im Auto» – wie sie es humor­voll auf den Punkt bringt – dur­chaus noch Platz hat. Zusam­men mit ihrem Mann besuchte sie darum ein Ori­en­tierungssem­i­nar der «Fach­stelle Pflegekind Aar­gau» und liess sich nach­her zur Pflege­mut­ter aus­bilden (siehe unten­ste­hende Broschüre). 2008 kam erst­mals ein fünf­monatiges Mäd­chen zu Pin­nows und war über vier Jahre lang Teil der Fam­i­lie.Mit der Rück­platzierung des Mäd­chens zur eige­nen Mut­ter begann das, was für Jus­ta Pin­now noch heute am schw­er­sten ist in ihrer Auf­gabe als Pflege­mut­ter: das Loslassen. «Dieser Schritt hin­ter­liess eine grosse Lücke, denn ich war trotz der zur Auf­gabe gehören­den Pro­fes­sion­al­ität mit sehr viel Herz dabei.» Jus­ta Pin­now schluckt leer.«Es ist mein­er Ansicht nach das Wichtig­ste, sich als Pflege­mut­ter bewusst zu sein, dass die Pflegekinder vielle­icht nur befris­tet ein Teil der Fam­i­lie sind. Eltern lassen die eige­nen Kinder auch irgend­wann ziehen, aber bei Pflegekindern ist der Zeit­punkt nie genau vorherse­hbar.»

Wenn Eltern eine Auszeit brauchen

Die Loslass-The­matik war auch Inhalt der Abschlus­sar­beit zur Aus­bil­dung als Pflege­mut­ter, welche die gel­ernte kaufmän­nis­che Angestellte absolvierte. «Die Abschlus­sar­beit zielt auf den Grundgedanken des Pflege­mut­ter­seins, der besagt, dass jedes Kind zu den leib­lichen Eltern gehört.»Pflegeel­tern sind dann zur Stelle, wenn die leib­lichen Eltern eine Auszeit brauchen, bis ihre Lebenssi­t­u­a­tion es zulässt, dass die Kinder wieder nach Hause kön­nen. «Wenn dieser Zeit­punkt da ist, spüren es alle», weiss Jus­ta Pin­now aus Erfahrung. «Dann ist es Zeit, loszu­lassen. Aber schw­er ist es jedes Mal.»

Rucksack inklusive

Eben­falls Voraus­set­zung für das gesellschaftlich wichtige Engage­ment der Pflegeel­tern ist die Bere­itschaft, das Kind dort abzu­holen, wo es ste­ht, mit dem «Ruck­sack», den es anhat. «Die Kinder tra­gen sehr unter­schiedliche Ruck­säcke, sog­ar Babies haben spür­bare Ruck­säck­li.» Das heisst zum Beispiel, nicht nur für das Pflegekind, son­dern auch für dessen Eltern da zu sein.«Wir hat­ten bis jet­zt das Glück, sehr nette Eltern ken­nen­zuler­nen, die ein­fach im Moment nicht genug Kraft oder Kapaz­ität hat­ten.» Die Gründe dafür sind laut der «Fach­stelle Pflegekind Aar­gau» ganz unter­schiedlich: Über­forderung bei früher Eltern­schaft, psy­chis­che und physis­che Ver­wahrlosung, Mis­shand­lung, psy­chis­che Erkrankung oder Eltern mit ein­er Sucht­prob­lematik.

Eine öffentliche Familie

Bei Pin­nows trafen die drei Pflegekinder nicht nur auf Pflegeel­tern, son­dern eben­so auf Pflegegeschwis­ter. «Irgen­deines unser­er Kinder nimmt sich immer beson­ders dem Pflegekind an», beobachtet Jus­ta Pin­now. «Und vor jedem neuen Engage­ment mussten alle ‚Ja’ sagen zum näch­sten Pflegekind.» Die fünf­fache Mut­ter ist der Mei­n­ung, dass diese Erfahrung das soziale Ver­ständ­nis der eige­nen Kinder geschärft hat.«Unsere Kinder sehen, dass das Leben facetten­re­ich ist. Es macht sie dankbar für das, was in ihrem eige­nen Leben gut läuft und sie wis­sen, dass es sich lohnt, Kom­mendes mit Zuver­sicht anzuge­hen.» Über­haupt zieht das Pflegeel­tern­sein Kreise. Jus­ta Pin­now: «Das ganze Fam­i­lien­sys­tem, also beispiel­sweise auch unsere Eltern, ziehen mit.» Oben­drein ist man als Pflege­fam­i­lie eine öffentliche Fam­i­lie. Ein gutes Gefüge zwis­chen Behör­den, Bei­s­tand und «Fach­stelle Pflegekind Aar­gau» ist zen­tral.

Liebe zum Mensch

Jus­ta Pin­now ist eine viel­seit­ige Frau. Sie nahm und nimmt vor allem im Dorf ver­schiedene ehre­namtliche Auf­gaben war, pflegt ihre Fre­und­schaften, liest gerne und tankt nicht zulet­zt im Gebet auf: «Wir sind überzeugt katholisch», beken­nt die 51-Jährige und sagt abschliessend, während sie der Tochter erlaubt, ein «Gspän­li» zum Aben­dessen einzu­laden: «Meine Quelle für diese Auf­gabe ist die Liebe zum Men­sch. Die eigene Fam­i­lie ist zwar der Kern, aber es gibt viele andere Men­schen, unter­schiedlich­ster Natio­nen und Reli­gio­nen, die zur Fam­i­lie wer­den, wenn man dies zulässt und sie gern hat.» Wahrlich ein Esstisch der Gemein­schaft – und nicht ein­fach ein Sta­tussym­bol – der in diesem Ehrendinger Wohnz­im­mer ste­ht. Fach­stelle Pflegekind Aar­gauDie «Fach­stelle Pflegekind Aar­gau» koor­diniert und begleit­et Pflege­platzierun­gen im Auf­trag ver­schieden­er öffentlich­er Stellen: Jugend- und Fam­i­lien­ber­atun­gen, Sozial­dien­sten, Kinder- und Erwach­se­nen­schutz­di­en­sten und andere mehr. Die Zusam­me­nar­beit mit den Auf­traggeben­den ist durch Leis­tungsvere­in­barun­gen und Kostengut­sprachen geregelt. Als Auf­trag­nehmerin trägt die «Fach­stelle Pflegekind Aar­gau» für die Dauer der Platzierung eine delegierte Ver­ant­wor­tung. Die Fed­er­führung und das Case-Man­age­ment bleiben jedoch bei der zuweisenden Instanz.Die Pflege­fam­i­lien wer­den von den Mitar­bei­t­en­den der Fach­stelle sorgfältig aus­ge­bildet, ver­traglich angestellt und entschädigt. Das Team der Fach­stelle beste­ht aus aus­gewiese­nen Fach­leuten, die in Sozialer Arbeit, Psy­cholo­gie oder ver­wandten Fachge­bi­eten qual­i­fiziert sind und die sich überdies für die Arbeit mit Kindern und Fam­i­lien weit­erge­bildet haben.Die «Fach­stelle Pflegekind Aar­gau» hält die zuweisenden Stellen über die Entwick­lung des Pflegev­er­hält­niss­es stets auf dem Laufend­en. Die Eingewöh­nungsphase des Kindes wird beson­ders eng­maschig begleit­et. So kann es gelin­gen, einem Kind ein Stück unbeschw­erte Kind­heit zurück­zugeben.Die Römisch-Katholis­ches Lan­deskirche im Aar­gau und ver­schiedene Pfar­reien unter­stützen die Tätigkeit der «Fach­stelle Pflegekind Aar­gau» mit finanziellen Zuwen­dun­gen.www.pflegekind-ag.chLehrgang für Pflegeel­tern  
Redaktion Lichtblick
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