
Bild: © Marie-Christine Andres
Im Waldkloster
Eine Woche im Wald lehrt das Staunen über die kleinen Wunder und die grosse Schöpfung.
Ein Platz zum Schlafen, ein Platz zum Essen und ein Platz zum Schlafen: Das Leben im Waldkloster ist einfach, aber erfüllend.
«Gestern haben wir darüber abgestimmt, welcher Wochentag ist. Die Mehrheit war für Mittwoch», berichten Janique, Brigitte, Karl und Michael und lachen. Die Tatsache, dass sie die Zeit, ja gar den Wochentag vergessen haben, beunruhigt sie nicht im Geringsten, im Gegenteil. Vor fünf Tagen haben sie sich auf dem Hüttikerberg an der Grenze der Kantone Aargau und Zürich im Wald eingerichtet und geniessen den Luxus, Handy, Uhr und Terminplan beiseite zu legen, mit der Sonne aufzustehen und im eigenen Rhythmus in den Tag hineinzuleben.
Ein einfaches Kloster
«Ich muss vorsichtig sein mit meinen Ideen», sagt Karl Flückiger und giesst kochendes Wasser in einen Krug. Während der Schwarztee vor sich hin dampft, erklärt er: «Nur wenn jeweils mindestens drei weitere Personen meine Idee gut finden, setze ich sie in die Tat um.»
Der reformierte Pfarrer, Organisationsberater und Psychotherapeut engagiert sich seit den Anfängen beim Stadtkloster Zürich (siehe Box). Im letzten Sommer hatte er die Idee, Kloster und Wald zu verbinden und als Gemeinschaft eine Woche im Wald zu leben.




Äussere Geräusche und innere Stimmen
Karl Flückiger fand Menschen, denen seine Idee gefiel, und er fand einen Ort, an dem sie sich umsetzen liess. So lud die Stadtkloster-Gemeinschaft alle Interessierten ein, rund ums Pfadiheim auf dem Hüttikerberg am Feuer zu kochen, schweigend im Wald zu baden, Tagzeitengebete zu halten, im Freien zu schlafen, mit Lehm zu hantieren und den Geräuschen im Wald sowie den inneren Stimmen zu lauschen. 15 Personen folgten der Einladung und weilten für einen oder mehrere Tage im Waldkloster. «Es ist ein einfaches Kloster», sagt Janique Behman, «wir haben einen Ort zum Beten, zum Essen und zum Schlafen.» Wasser und sanitäre Anlagen nutzt die Gruppe im nahen Pfadiheim.
Oratorium
Heute sind Matthias und Simon eingetroffen, nun sind sieben Personen hier. Als die Sonne schräg durch die Blätter scheint, setzt sich die Gruppe in einem Halbkreis um einen Wurzelstock. Auf Moos gebettet steht eine Klangschale bereit, Kerzen brennen. Sobald die Gespräche verstummen, wird die Zivilisation hörbar: Triebwerke, Kuhglocken, Motoren und ein Alphorn mischen sich zwischen die Psalmen und Fürbitten. Die Geräusche stören nicht, sie beruhigen: Die Welt ist da, aber weit genug weg.
Nach der Vesper geht es rund ums Feuer geschäftig zu und her. Karl knetet Teig, Simon präpariert die Glut, Brigitte schenkt Wein ein. Es gibt Schlangenbrot mit einem Ratatouille aus Randen, Äpfeln und Rüebli aus dem nahen Hofladen.
Mutter Erde
Nach dem Abendessen gibt es eine Austauschrunde. Am Nachmittag hat die Gruppe den Wald erkundet, mit allen Sinnen. Wer will, kann seine Eindrücke teilen. Brigitte berichtet, dass sie im Wald gesessen sei und etwas gemacht habe, was sie bisher noch nie getan habe: die Erde gestreichelt. Dabei sei ihr auf einmal bewusst geworden, dass sie die Erde bis jetzt immer nur bearbeitet habe: «Ich habe sie gestochen, umgegraben, auf ihr herumgehackt. Aber ich habe sie noch nie gestreichelt.» Es sei ein berührender Augenblick gewesen, sagt sie. «‹Mutter Erde› ist mir durch den Kopf gegangen. Hierher werde ich einmal zurückkehren.»
Janique findet es spannend, wie innere Prozesse von äusseren Dingen angeregt werden. Sie liess sich eine Brombeere auf der Zunge zergehen und ertastete die Adern eines Blattes mit den Fingern. «Diese Zeit habe ich mir vorher noch nie genommen.»
Karl erwähnt, dass etwas nicht eingetroffen sei, das er eigentlich erwartet hatte: Es war ihm in den letzten Tagen noch nie langweilig. Jede und jeder findet eine erfüllende Beschäftigung.
Dormitorium
Die Komplet schliesst den Tag ab, Brigitte bläst die Kerzen aus. Zwei übernachten in einer Hängematte, eine auf dem Feldbett mit Moskitonetz, andere mit der Isomatte auf dem Waldboden. Jeder hat Raum für sich, ist aber nicht allein. Brigitte will irgendwann auch einmal allein im Wald übernachten: «Im Moment würde ich mich aber noch nicht trauen und bin froh, dass die anderen da sind.» Die Geräusche der Natur und der nahen Zivilisation begleiten die Gruppe durch die Nacht.
Menschen, die sich Gedanken machen
Beim Zmorge drehen sich die Gespräche am Feuer um persönliche Erfahrungen mit Religion und Kirche. Einer hat Theologie studiert und in verschiedenen Kirchgemeinden sowie als Lehrer gearbeitet. Eine war in einer Freikirche aktiv, ist aber stets Mitglied der reformierten Kirche geblieben. Einer wuchs katholisch auf, trat mit 20 Jahren aus der Kirche aus und mit 35 Jahren in die reformierte Kirche wieder ein. Alle sind Suchende, die ihr Leben in Verbindung mit Gott und seiner Schöpfung gestalten wollen. Es sind Menschen, die sich viele Gedanken machen über das Leben, die Welt und gelebte Solidarität. Menschen, die nach ihrer Bestimmung, ihrer Aufgabe suchen.
Das Handwerk gehört dazu
Es sind aber auch Menschen, die eine Feuerstelle einrichten können und aus wenigen Zutaten ein feines Menü kochen. Das Handfeste gehört zum Waldkloster und erdet die Gruppe. Das Nachdenken über Gott, das Leben und den eigenen Alltag ist immer verbunden mit einer praktischen Tätigkeit. Wer im Waldkloster dabei ist, brennt Lehm, schnitzt Stöcke, flicht Zweige und sammelt Rinde. Dabei reift die Erkenntnis, wie wenig es eigentlich braucht, um zu gestalten und sich daran zu freuen. Die Fülle der Schöpfung umgibt und inspiriert alle. Karl findet dafür die Worte: «Ich brauche so wenig und habe doch alles.»