«Ich muss mich nicht distanzieren»

«Ich muss mich nicht distanzieren»

Die Jugend­ar­beit der Mus­li­me in der Schweiz ver­nach­läs­si­ge die Inte­gra­ti­on und enga­gie­re sich zu wenig gegen Extre­mis­mus, lau­tet ein gern wie­der­hol­ter Vor­wurf in den Medi­en. Über­haupt distan­zier­ten sich die Mus­li­me in der Schweiz nicht ent­schie­den genug von ter­ro­ri­sti­schen Atten­ta­ten. Hori­zon­te ging die­sen Behaup­tun­gen auf den Grund und traf in Ober­ent­fel­den mus­li­mi­sche Jugend­li­che und die Ver­ant­wort­li­chen für die Jugendarbeit. Direkt an der Haupt­stras­se am nörd­li­chen Rand der Gemein­de Ober­ent­fel­den steht das ehe­ma­li­ge Hotel Bad. An die­sem Frei­tag im Dezem­ber ist das Gebäu­de hell erleuch­tet, vor dem Ein­gang ste­hen eini­ge Män­ner, Frau­en und Jugend­li­che. Ich nähe­re mich, man regi­striert mich sofort, schliess­lich bin ich ein «Frem­der». Ein jun­ger Mann begrüsst mich freund­lich, her­nach zwei Frau­en. Letz­te­re sind nach bos­nisch-mus­li­mi­scher Tra­di­ti­on in wei­te Gewän­der und Kopf­tuch geklei­det: N. Puric und ihre 19-jäh­ri­ge Toch­ter. Die bei­den sind auf den ersten Blick die ein­zi­gen Frau­en im tra­di­tio­nel­len Habit und blei­ben es bei einer ersten Kurz­füh­rung durch die Räum­lich­kei­ten. Inso­fern wir­ken sie rein äus­ser­lich wie Frem­de in ihrer eige­nen Gemein­schaft.Treff­punkt für Mus­li­me aus der gan­zen Regi­on In den ver­schie­de­nen Räu­men des Gebäu­des geht es leb­haft zu und her: Kin­der tol­len her­um, Jugend­li­che sit­zen an Tischen und unter­hal­ten sich ange­regt. In einem der Räu­me ist ein rie­si­ges Buf­fet auf­ge­tischt. Seit 2005 ist das ehe­ma­li­ge Hotel Bad Sitz der Isla­mi­schen Gemein­schaft der Bos­nia­ken des Kan­tons Aar­gau (IGBA). «Rund 750 Fami­li­en gehö­ren der Gemein­schaft an, das sind etwa 2000 Per­so­nen», erklärt N. Puric, die in der IGBA die Jugend­li­chen betreut. «Wir sind mehr­heit­lich Bos­ni­er, dazu ein paar Alba­ner, Tür­ken und Maze­do­ni­er.» Män­ner sehe ich auf den ersten Blick kaum. Die­se haben sich in der Moschee zum Gebet ver­sam­melt.In Bos­ni­en «die Schwei­zer», in der Schweiz «die Aus­län­der» Übers Wochen­en­de wer­den die ver­schie­de­nen Räu­me für Sprach- und Reli­gi­ons­un­ter­richt genutzt. Wei­ter tref­fen sich die Mit­glie­der ver­schie­de­ner Unter­or­ga­ni­sa­tio­nen der IGBA: Fuss­bal­ler und Tanz­grup­pen bei­spiels­wei­se. Der 19-Jäh­ri­ge, der mich zusam­men mit N. Puric und deren Toch­ter begrüsst hat­te, ist vom Gebet zurück und führt mich in den Dach­stock. Dort sit­zen im Kreis auf Ses­seln und Sofas ein paar Jugend­li­che. Ich erken­ne die Toch­ter von N. Puric wie­der. Flan­kiert wird die 19-jäh­ri­ge Kan­ti­schü­le­rin von ihren Freun­din­nen. Die Mäd­chen tra­gen Kopf­tuch, geben aber auf Nach­fra­gen an, dass sie «im All­tag in der heu­ti­gen Situa­ti­on nicht so her­um­lau­fen wür­den.» Aus Vor­sicht wol­len sie — wie alle anwe­sen­den Jugend­li­chen — nicht, dass ihre Namen aus­ge­schrie­ben wer­den. Ich soll bei Initia­len blei­ben. Die Mäd­chen ver­ste­hen sich als jun­ge Mus­li­min­nen und Bos­nie­rin­nen, obwohl sie in der Schweiz gebo­ren sind. Ich fra­ge mich, inwie­weit das nicht das Vor­ur­teil der indif­fe­ren­ten Par­al­lel­ge­sell­schaft bestä­tigt. Da meint A., der mich begrüsst hat und mir nun gegen­über sitzt: «Ich glau­be, wir sind nir­gends wirk­lich daheim. In Bos­ni­en sind wir “die Schwei­zer”, hier “die Aus­län­der”.» Neben dem 19-Jäh­ri­gen sitzt ein etwas jün­ge­res Mäd­chen. Sie trägt weder Kopf­tuch noch tra­di­tio­nel­le Klei­dung. «Ich bin Schwei­ze­rin, bekennt sie, ergänzt dann aber nach einer kur­zen Pau­se: «Mit der bos­ni­schen Kul­tur füh­le ich mich gleich­wohl ver­bun­den, sonst wäre ich wohl nicht hier». Die anwe­sen­den Jugend­li­chen haben sich offen­sicht­lich bereits dif­fe­ren­ziert mit dem The­ma Hei­mat aus­ein­an­der­ge­setzt. Wei­ter scheint es kein Pro­blem zu sein, sich als Schwei­ze­rin oder Schwei­zer zu ver­ste­hen, sofern man das will. Aber wo ste­hen die­se Jugend­li­chen ideo­lo­gisch? Was für Wer­te ver­tre­ten sie und was ver­mit­teln ihnen die Erwach­se­nen?War­um Distan­zie­ren, wenn man damit nichts zu schaf­fen hat Die Pro­pa­gan­da-Vide­os des IS haben eini­ge Jugend­li­che schon gese­hen. «Das müs­sen wir ja, weil wir im All­tag immer wie­der bewei­sen müs­sen, dass wir nicht so sind», klagt die Toch­ter von N. Puric zer­knirscht. Sie sehe nicht ein, war­um sie sich von den Taten jener Leu­te distan­zie­ren müs­se, die ihm Namen Allahs Ver­bre­chen ver­üb­ten. Sie habe doch nichts zu schaf­fen mit denen. Ich ver­ste­he: Dass Mus­li­me auf Ereig­nis­se wie die Anschlä­ge in Paris nicht die von uns erwar­te­te Reak­ti­on zei­gen, heisst nicht, dass Ter­ror im Rah­men der Reli­gi­on gebil­ligt wird. Im Gegen­teil. M. Muja­la, Prä­si­dent der IGBA, erklärt es so: «Wenn ein Betrun­ke­ner „Alla­hu akbar“ ruft und sich dann in die Luft sprengt – was hat das bit­te mit dem Islam zu tun?» Und nach einer Pau­se ergänzt er: «Bei euch kommt es doch auch nie­man­dem in den Sinn, alle Chri­sten unter Gene­ral­ver­dacht zu stel­len, wenn ein Fana­ti­ker im Namen Got­tes Men­schen tötet.» «Als Mus­li­min muss ich mich dann hier in der Schweiz dafür recht­fer­ti­gen, was der IS tut und was irgend­wel­che Leu­te in Euro­pa im Namen des IS tun», berich­tet die Toch­ter von N. Puric. Der Frust inner­halb der Run­de ist spür­bar. Ein jun­ger Erwach­se­ner direkt neben mir wirft ein: «Einer­seits zeigt ihr immer mit dem Fin­ger auf uns, aber hin­ter­fragt euch nicht. Nach den Anschlä­gen in Frank­reich woll­ten auf Face­book alle „Char­lie“ oder „Paris“ sein, aber wenn in Anka­ra oder Istan­bul so ein Anschlag ver­übt wird, pas­siert nichts der­glei­chen.»Nur weni­ge schwar­ze Scha­fe unter 400 000 Mus­li­men «Seit fast dreis­sig Jah­ren – also seit es die­se Gemein­schaft gibt – kämp­fen wir gegen Vor­ur­tei­le gegen­über uns Mus­li­men», erklärt N. Puric. «Und wenn die SVP und die Zei­tun­gen immer wie­der die­sel­ben Unwahr­hei­ten ver­brei­ten, dann wird das irgend­wann für die Leu­te zur Wahr­heit», ergänzt M. Muja­la. «Es leben etwa 400 000 Mus­li­me in der Schweiz», fährt N. Puric fort. «Unter die­sen gibt es etwa 20 bis 30 Per­so­nen, von denen ver­mu­tet wird, dass sie mit dem IS sym­pa­thi­sie­ren. Die mei­sten davon sind Kon­ver­ti­ten. Da kann man doch nicht hin­ge­hen und alle Mus­li­me ver­däch­ti­gen.» Spin­ner gebe es doch über­all, wirft A. ein. Und N. Puric dop­pelt mit einer Fra­ge nach: «Exi­stiert über­haupt eine gros­se Gemein­schaft, in der es nicht eine gewis­se Pro­zent­zahl an Extre­mi­sten und Fana­ti­kern gibt?»Aus­bil­dung, Auf­rich­tig­keit und Gemein­schaft Was aber garan­tie­re denn, dass mus­li­mi­sche Jugend­li­che nicht für die Ideen eines radi­ka­len Islam emp­fäng­lich wür­den, will ich wis­sen. Man müs­se zunächst ein­mal schau­en, was das denn für Leu­te sei­nen, erklärt A. In Frank­reich sei­en das Jugend­li­che ohne Per­spek­ti­ven, ohne Arbeit, die auch die Spra­che nicht könn­ten. «Wir legen Wert dar­auf, dass unse­re Jugend­li­chen eine Aus­bil­dung machen und sich inte­grie­ren», erklärt M. Muja­la. «Und wir erzie­hen unse­re Kin­der nicht mit Legen­den, die Hass schü­ren. Wir Bos­ni­er spü­ren heu­te noch jeden Tag, was uns die, die uns has­sen, ange­tan haben. Des­we­gen wol­len wir unse­re Kin­der nicht im Hass erzie­hen.» Ein letz­ter wich­ti­ger Teil sei die Gemein­schaft und die damit ver­bun­de­nen gemein­sa­men Wer­te. Die Jugend­li­chen nicken zustim­mend: Man kommt regel­mäs­sig zusam­men, tauscht sich aus, macht sich im Reli­gi­ons­un­ter­richt und beim Gebet mit zen­tra­len Wer­ten ver­traut. «Aber wenn nun ein Gemein­de­vor­ste­her radi­ka­le Ansich­ten ver­tritt, dann wer­de doch gera­de die Gemein­schaft für die Jugend­li­chen zur Gefahr», wer­fe ich ein. «Trotz allem, was uns in Bos­ni­en pas­siert ist, sind wir nicht zu Extre­mi­sten gewor­den», bekräf­tigt N. Puric. Die­se Aus­sa­ge bewei­se aber noch gar nichts, mei­ne ich. «Wir kön­nen letzt­lich nur immer wie­der zei­gen, was der Islam ist. Nur so kön­nen wir Ver­trau­en auf­bau­en», meint M. Muja­la.Manch­mal ein Aus­sen­sei­ter Wofür denn ihre Gemein­schaft genau ein­ste­he, will ich wis­sen. «Es geht zu einem Gross­teil dar­um, den Jugend­li­chen die Reli­gi­on sowie die bos­ni­sche Spra­che und Kul­tur zu ver­mit­teln», erklärt M. Muja­la «Man merkt den Unter­schied zwi­schen Men­schen, die einen festen Platz in einer Gemein­schaft haben, und ande­ren», meint die Toch­ter von N. Puric. «Wir unter­stüt­zen uns gegen­sei­tig und haben so die Kraft, unse­re Wer­te zu bewah­ren.» Klar, die bos­ni­sche Kul­tur funk­tio­nie­re anders als die Schweiz, das mer­ke man im All­tag. Reli­gi­on, der Gehor­sam gegen­über den Eltern und die Ver­bin­dung in der Gemein­schaft sei­en hier­zu­lan­de oft Neben­sa­che. Ent­spre­chend erle­be man sich manch­mal als Aus­sen­sei­ter, wenn man nicht mit­zie­he, bestä­tigt A. Gleich­wohl hat der jun­ge Mann viel Lob für die Schweiz übrig: «Hier leben vie­le Men­schen mit aus­län­di­schen Wur­zeln. Sie leben nicht nur hier, sie sind inte­griert, sie haben ihren Platz.» 
Andreas C. Müller
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