Eine wunderbare Verschwendung

Eine wunderbare Verschwendung

  • Der Vere­in «Musikalis­ches Fen­ster» schenkt schw­er kranken Men­schen und ihren Ange­höri­gen kost­bare Musik.
  • Auf der Pal­lia­tivs­ta­tion im Spi­tal Zofin­gen find­en regelmäs­sig Konz­erte statt — sobald jew­eils genug Spenden­gelder zusam­men sind, wird das näch­ste geplant.
  • Der Vor­stand arbeit­et daran, das berührende Ange­bot in weit­eren Insti­tu­tio­nen anbi­eten zu kön­nen.
  Heis­eres Hus­ten dringt durch eine Zim­mertür, irgend­wo piepst ein Appa­rat. Lift­türen öff­nen und schliessen sich mit einem schwachen Zis­chen. Ein grünes Schild weist den Weg zum Notaus­gang.Am Cem­ba­lo legt Ste­fan Müller seine Hände auf die Tas­ten, neben ihm rückt Mar­tin Pirk­tl die Gitarre zurecht. Sechs Pati­entin­nen und Patien­ten sind im Roll­stuhl oder mit Gehhil­fe auf dem Spi­talflur ver­sam­melt, andere lauschen durch die offene Zim­mertür. Das Konz­ert kann begin­nen.

Weites Land

Die bei­den Musik­er spie­len Bach. Leise schweben die Töne zwis­chen Linoleum­bo­den und Neon­licht, Klänge stre­ichen die Wände ent­lang. Die Atmo­sphäre im Raum verän­dert sich.

«Und meine Seele span­nte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus»

Bes­timmt hat­te der spätro­man­tis­che Dichter Joseph von Eichen­dorff keine Pfleges­ta­tion vor Augen, als er sein Gedicht «Mond­nacht» schuf. Doch bess­er kön­nte man die Stim­mung an diesem Son­nta­gnach­mit­tag auf der Pal­lia­tivs­ta­tion im Spi­tal Zofin­gen nicht in Worte fassen. Hier und jet­zt öffnet die Musik Kopf und Herz, so dass Gedanken und Gefüh­le hin­aus­fliegen kön­nen ins weite Land der Erin­nerung. Erin­nerun­gen an Schw­eres, aber auch viel Gutes.

Professionelle Konzerte

«Das Musikalis­che Fen­ster verza­ubert nach­haltig», sagt Karin Klemm. Die The­olo­gin arbeit­et als Psy­chi­a­trieseel­sorg­erin und freiberu­flich als CPT-Super­vi­sorin und Kurslei­t­erin. Sie ist seit den Anfän­gen bei den Konz­erten dabei. Die Idee zum Musikalis­chen Fen­ster ent­stand im Jahr 2015 am Kan­ton­sspi­tal Baden, wo sie als Spi­talseel­sorg­erin tätig war. Der Anstoss dazu kam von einem Musik­er: «Ich möchte Musik für ster­bende Men­schen machen. Siehst Du eine Möglichkeit?», fragte sie der Pianist Ste­fan Müller. Seit Mai 2018 ist das Musikalis­che Fen­ster als Vere­in organ­isiert. Der Vor­stand sam­melt Spenden, um damit pro­fes­sionelle Konz­erte in Gesund­heitsin­sti­tu­tio­nen zu organ­isieren.

Durch Spenden bezahlt

Die Musik­er wer­den bezahlt, der Vor­stand arbeit­et ehre­namtlich. Das näch­ste Konz­ert find­et jew­eils statt, sobald das Geld durch Spenden zusam­mengekom­men ist. Auf Pal­lia­tivs­ta­tio­nen oder in Pflege­heimen wird Musik für schw­er kranke Men­schen gespielt. Im ver­gan­genen Jahr fand ein Konz­ert im Hos­piz Brugg sowie deren sieben im Spi­tal Zofin­gen statt. Momen­tan ist der Vere­in mit zwei weit­eren Insti­tu­tio­nen in Kon­takt. Dabei muss das Pro­jekt nicht zwin­gend auf den Kan­ton Aar­gau beschränkt bleiben.

Ein Geschenk

«Ich komme nicht ganz nach, wie das nun ist mit dem Zahlen?», flüstert eine Zuhörerin ihrer Beglei­t­erin zu. «Du musst nichts zahlen, nur zuhören», antwortet diese. Karin Klemm fügt hinzu: «Die Musik ist ein Geschenk.»

«Das fragen wir nicht»

«’Lohnt sich das?’ – diese Frage stellen wir nicht», sagt Karin Klemm. Für das Konz­ert im Spi­tal Zofin­gen pack­te Ste­fan Müller sein Cem­ba­lo zuerst ins Auto, dann in den Lift, baute es im drit­ten Stock auf und wieder ab. Mar­tin Pirk­tl reist mit zwei Gitar­renkof­fern an. Karin Klemm weiss: «Die Frage, ob sich dieser logis­tis­che Aufwand für die halbe Stunde Konz­ert rech­net, führt in eine Sack­gasse. Die Konz­erte sind Luxus, sind Ver­schwen­dung, die Musik ist ein kost­bares Geschenk.» Das Musikalis­che Fen­ster sein ein «Sich in den Dienst stellen», find­et Karin Klemm. In den Dienst der Men­schen auf der Sta­tion und ihrer Ange­höri­gen.

Zuwendung

Dass die Musik live gespielt werde, sei entschei­dend: «Ich bin überzeugt, dass bei diesen Konz­erten im Gegen­satz zu Musik ab Kon­serve eine ganz andere Art von Zuwen­dung von Seit­en der Musik­er zu spüren ist», sagt Karin Klemm. Ste­fan Müller find­et: «Die Musik­er treten beim Spie­len in Beziehung zueinan­der, was die Zuhören­den wahrnehmen kön­nen. «Dieses Dial­o­gis­che ist etwas Urchristlich­es.»

Musik direkt ans Bett

Auf die Ankündi­gung, es fände bald wieder ein Konz­ert statt, sagte ein Patient ein­mal zu Karin Klemm: «Daran merke ich, dass ihr es gut mit mir meint.» Die Lei­t­erin der Pal­lia­tivs­ta­tion im Spi­tal Zofin­gen, Tirza Hochstrass­er, erk­lärt: «Wir fra­gen die Pati­entin­nen und Patien­ten jew­eils vorher, ob sie für das Konz­ert auf den Gang kom­men wollen oder ob wir ihre Zim­mertür offen lassen sollen. So kommt die Musik direkt an ihr Bett.

Selten so viel Sinn

Ste­fan Müller, der his­torische Tas­tenin­stru­mente wie Cem­ba­lo, Orgel und Klavi­chord spielt, ver­fügt über gute Kon­tak­te zu anderen Musik­ern. Im Aus­tausch mit den Ver­ant­wortlichen auf der Sta­tion und mit Karin Klemm organ­isiert er den musikalis­chen Teil. Auf der Pal­lia­tivs­ta­tion zu spie­len, ist für die meis­ten Musik­er unge­wohnt. Man muss sich auf die Sit­u­a­tion ein­lassen kön­nen, darf den nahen Kon­takt mit den Men­schen nicht scheuen. Eine Her­aus­forderung, die für die Musik­erin­nen und Musik­er sehr berührend sein kann. Karin Klemm erin­nert sich an die Rück­mel­dung eines Musik­ers, der ihr nach einem Konz­ert sagte, sel­ten habe das Musizieren so viel Sinn gemacht.

Musik will öffnen

Bei der Auswahl der Stücke ist Ste­fan Müller auf Aus­ge­wogen­heit bedacht: «Musikalisch wollen wir nicht an die Gren­zen gehen und die Leute gefühlsmäs­sig in eine bes­timmte Rich­tung drän­gen.» Wed­er tod­trau­rig noch allzu lüp­fig sollen die Melo­di­en sein. Karin Klemm: «Die Musik soll eher öff­nen, deshalb auch der Name ‚Musikalis­ches Fen­ster’.» 

Standaktion in Baden

Am Sam­stag, 21. Sep­tem­ber, ist der Vere­in «Musikalis­ches Fen­ster» am Wochen­markt in Baden mit einem Stand vertreten. Zwis­chen 8 und 11.30 Uhr kön­nen sich Inter­essierte dort über den Vere­in informieren, ein Stück Kuchen und Live-Musik geniessen. www.musikalisches-fenster.ch
Marie-Christine Andres Schürch
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