Fuss­ball inmit­ten von Problemen

Fuss­ball inmit­ten von Problemen

  • Wenn heu­te Abend Gast­ge­ber Russ­land im Eröff­nungs­spiel gegen Sau­di-Ara­bi­en die Fuss­ball-Welt­mei­ster­schaft eröff­net, erhält das von Prä­si­dent Vla­di­mir Putin geführ­te Land die Mög­lich­keit, sich von sei­ner besten Sei­te zu zei­gen. Im Schat­ten der sport­li­chen Eupho­rie ste­hen der Ukrai­ne-Kon­flikt, aber auch die Situa­ti­on der Men­schen in Russland.
  • In Süd­russ­land befin­den sich sechs der zwölf WM-Aus­tra­gungs­or­te. In die­sem Gebiet amtet bereits seit vie­len Jah­ren der gebür­ti­ge Deut­sche Cle­mens Pickel als Bischof von Sara­tow. Er sagt: «Die Fuss­ball-WM ist kein Anlass für die Men­schen in Russ­land, auch wenn sie hof­fen, dass der Anlass hilft, das Image von Russ­land in der west­li­chen Welt zu verbessern.»
Der in Deutsch­land gebo­re­ne Cle­mens Pickel ist Vor­sit­zen­der der rus­si­schen Bischofs­kon­fe­renz. Zudem ist er der Bischof von Sara­tow, bezie­hungs­wei­se Süd­russ­land. Cle­mens Pickels Diö­ze­se ist mit 1,4 Mil­lio­nen Qua­drat­ki­lo­me­tern rund 35 mal grös­ser als die Schweiz. Aller­dings leben in sei­nem Bis­tum nur gera­de 21 500 Katho­li­ken (zum Ver­gleich: im Bis­tum Basel leben rund eine Mil­li­on Katho­li­ken).

«Für die mei­sten Rus­sen ist ein WM-Ticket unerschwinglich»

Die Zah­len machen deut­lich: Die Römisch-Katho­li­sche Kir­che in Russ­land fri­stet ein Nischen­da­sein. «Wir waren immer schon eine Min­der­heit», sagt Cle­mens Pickel und erin­nert in die­sem Zusam­men­hang an die Unter­drückung unter dem kom­mu­ni­sti­schen Sowjet­re­gime. «Wir haben heu­te nicht, was wir uns nach dem Zusam­men­bruch der UdSSR erhofft haben. Vie­le dach­ten, es wür­de eine grös­se­re kirch­li­che Wie­der­ge­burt geben.»Von der Fuss­ball-Welt­mei­ster­schaft hät­ten die Men­schen in sei­ner Diö­ze­se im Grun­de genom­men nichts, meint der Bischof von Sara­tow, in des­sen Diö­ze­se sich mit Kasan, Rostow, Sama­ra, Sar­ansk, Wol­go­grad und Sot­schi gleich sechs von 12 Aus­tra­gungs­or­ten des alle vier Jah­re wie­der­keh­ren­den Fuss­balle­vents befin­den.Gewiss: Dort, wo die WM-Spie­le aus­ge­tra­gen wer­den, pro­fi­tier­ten die Men­schen zwar von neu gebau­ten Stras­sen und ande­ren bau­li­chen Mass­nah­men», so Cle­mens Pickel. Gleich­wohl wür­den vie­le Leu­te wäh­rend der Fuss­ball-WM die­se Städ­te ver­las­sen: «Wäh­rend der WM ist es dort voll und vie­les ist abge­sperrt», so der Bischof. «Hin­zu kommt: WM-Tickets gibt’s nur nach einer umständ­li­chen Prü­fung durch die Sicher­heits­be­hör­den. Und die mei­sten Rus­sen kön­nen sich so ein Ticket ohne­hin nicht lei­sten.» Das Fazit: «Die Fuss­ball-WM ist kein Anlass für die Men­schen vor Ort.»

«Der FC Basel und der FC Zürich schau­en bei den Rus­sen ab»

Dem wider­spricht Mar­cel Hel­fen­stein, lang­jäh­ri­ger stell­ver­tre­ten­der Chef der Fach­grup­pe Logi­stik der DEZA (Direk­ti­on für Ent­wick­lung und Zusam­men­ar­beit) und Inha­ber des «Rus­sen Shop» in der Schweiz: «Die Men­schen in Russ­land freu­en sich auf die Fuss­ball-Welt­mei­ster­schaft. Dass in den WM-Aus­tra­gungs­or­ten wäh­rend der Spie­le die Stras­sen gesperrt wür­den, sei ärger­lich, doch: Die Rus­sen in den Städ­ten sind sich Stau gewohnt und alle, die ein gere­gel­tes Ein­kom­men haben, kön­nen sich auch ein WM-Ticket lei­sten.» Auf die auf­wen­di­gen Sicher­heits­über­prü­fun­gen ange­spro­chen, meint Mar­cel Hel­fen­stein: «Per­so­na­li­sier­te Ein­tritts­kar­ten wol­len ja auch der FC Basel und der FC Zürich ein­füh­ren. Was soll dar­an schlecht sein?» Auf die­se Art und Wei­se habe man Gewähr, all­fäl­li­ge Chao­ten bes­ser aus­ma­chen zu kön­nen.Dass man sich in Russ­land auf die Fuss­ball-Welt­mei­ster­schaft freut, will auch Cle­mens Pickel nicht von der Hand wei­sen und meint: «Die Men­schen hof­fen, dass sich Russ­land von einer posi­ti­ven Sei­te zei­gen kann. Vie­le glau­ben näm­lich, dass gera­de die Men­schen im Westen das Gefühl haben, es sei in Russ­land alles schlecht», so Cle­mens Pickel.

«Auf dem Land gibt es kaum Arbeit, dafür vor allem Armut»

Auf­grund der Arbeit sei­nes Seel­sor­ge-Teams bleibt der Bischof von Süd­russ­land jedoch dabei: «Die mei­sten Men­schen in Russ­land haben nichts von dem teu­ren Gross­an­lass.» Die Kluft zwi­schen den paar weni­gen Städ­ten und dem Leben auf dem Lan­de sei zu ekla­tant, berich­tet Cle­mens Pickel. «Auf dem Land gibt es kaum Arbeit.» Alko­hol­kon­sum ist immer noch ein gros­ses Pro­blem. «Und vie­le Men­schen wis­sen ein­fach nicht mehr, wie man Kin­der erzieht». Sowohl die Müt­ter als auch die Väter sei­en meist schwer bela­stet mit ihrer Situa­ti­on und kämen nicht mehr auf die Idee, sich mit ihren Kin­dern ernst­haft aus­ein­an­der­zu­set­zen.Oft nicht weni­ger als 400 Kilo­me­ter lie­gen zwi­schen zwei Kirch­ge­mein­den, wo jeweils 70 bis 120 Per­so­nen jede Woche den Got­tes­dienst besu­chen. Alles in allem gehö­ren zur Diö­ze­se Süd­russ­land 70 Pfar­rei­en, wovon die mei­sten nur einen vor­bei­fah­ren­den Prie­ster zu Gesicht bekom­men, wel­cher der Gemein­de mit dem Auto jede Woche einen Besuch abstat­tet und die Mes­se fei­ert. Nur gera­de an 26 Orten ist ein Prie­ster sta­tio­niert. «Dort kann Seel­sor­ge und Jugend­ar­beit betrie­ben wer­den», erklärt Cle­mens Pickel. «Und die haben die Men­schen vor Ort auch bit­ter nötig.»

Eska­liert der Ukrai­ne-Kon­flikt nach der WM erneut?

In den säku­la­ren Medi­en wur­den im Vor­feld der Fuss­ball-Welt­mei­ster­schaft wie­der­holt auch der Ukrai­ne-Kon­flikt und die Unter­drückung von Oppo­si­tio­nel­len in Russ­land the­ma­ti­siert. Ob er denn selbst auch Repres­si­on erle­be? Dazu äus­sert sich Cle­mens Pickel nur ungern. Das Poli­ti­sche will er lie­ber aus­sen vor las­sen.Chri­sti­an And­res arbei­tet zur­zeit in Kiew: «In der Ukrai­ne ist die Fuss­ball-WM kein The­ma. «Das liegt zunächst ein­mal dar­an, dass sich das ukrai­ni­sche Natio­nal­team nicht für das Tur­nier qua­li­fi­ziert hat. Dar­über hin­aus über­trägt das staat­li­che Fern­se­hen die Spie­le aus poli­ti­schen Grün­den nicht», so And­res. Aus poli­ti­scher Sicht sor­ge die WM aber aus einem ande­ren Grund für Dis­kus­sio­nen im Land: Vla­di­mir Putin habe davor gewarnt, dass eine Offen­si­ve der ukrai­ni­schen Armee in der Ost­ukrai­ne wäh­rend der Welt­mei­ster­schaft «ernst­haf­te Kon­se­quen­zen» haben wür­de. In der Ukrai­ne besteht daher die Befürch­tung, Russ­land könn­te irgend­ei­nen Vor­wand suchen, um im Anschluss an den sport­li­chen Wett­be­werb hart zuzu­schla­gen. «Kurz nach den Olym­pi­schen Win­ter­spie­len in Sot­schi 2014 nah­men die bis heu­te andau­ern­den Kon­flik­te um die Krim und in der Ost­ukrai­ne ihren Anfang», erin­nert sich Chri­sti­an And­res.

«Ukrai­ni­sche Listen sind wie ein Todesurteil»

Und Anläs­se zum Han­deln, die sich instru­men­ta­li­sie­ren lies­sen, gibt es genug, das bestä­tigt auch Mar­cel Hel­fen­stein. Der gelern­te Spe­di­ti­ons­kauf­mann kennt die Situa­ti­on in den von Russ­land besetz­ten Gebie­ten. Unter ande­rem hat er für die DEZA Hilfs­kon­vois nach Donezk orga­ni­siert und beglei­tet. «Die Schwe­ster von einer Kol­le­gin mei­ner Frau – übri­gens eine Ukrai­ne­rin – wohnt mit ihren Eltern gera­de an der Front. Und sie berich­tet, dass da regel­mäs­sig noch Gra­na­ten flie­gen.» Eine Sei­te begin­ne jeweils, die ande­re feue­re zurück.Der ehe­ma­li­ge Chef der Fach­grup­pe sich aller­dings an der sei­ner Ansicht nach ein­sei­ti­gen Sicht des Westens auf die Ver­hält­nis­se. «Die ukrai­ni­sche Regie­rung hat die Kri­se mit­ver­schul­det, indem sie einer­seits die Rech­te von Min­der­hei­ten in den Grenz­ge­bie­ten miss­ach­te­te und im Zuge des Mai­dan nach der Flucht von Wik­tor Janu­ko­wytsch trotz gegen­tei­li­ger Ver­ein­ba­rung des­sen Par­tei von den Neu­wah­len aus­schloss», sagt er. Euro­pa und den Ver­ei­nig­ten Staa­ten habe das in die Hän­de gespielt und Russ­land hät­te dann begon­nen, aktiv Sepa­ra­ti­sten in der Ost­ukrai­ne zu unter­stüt­zen. Aller­dings füh­re die Ukrai­ne Listen, auf wel­chen soge­nann­te pro­rus­si­sche Akti­vi­sten öffent­lich denun­ziert wer­den. Das kom­me für die­se Per­so­nen einem Todes­ur­teil gleich. Sol­cher­lei igno­rie­re die west­li­che Bericht­erstat­tung. Eben­so auch, dass die ukrai­ni­schen Kämp­fer meist von Olig­ar­chen bezahlt wür­den. «Die Ukrai­ne ist bank­rott, die Kämp­fer an der Front wer­den pri­vat­fi­nan­ziert.»

«Die Wirt­schaft ist am Boden»

Lucia Wicki-Rensch ist Infor­ma­ti­ons­be­auf­trag­te bei «Kir­che in Not», dem kirch­li­chen Hilfs­werk, das auch Bischof Cle­mens Pickel finan­zi­ell unter­stützt – mit Geld, damit die Prie­ster mit Fahr­zeu­gen regel­mäs­sig die weit ver­streu­ten Kirch­ge­mein­den besu­chen kön­nen oder Kin­der­zen­tren unter­hal­ten kön­nen, in denen Kin­der sich mit den Betreu­ern nach der Schu­le eine war­me Mahl­zeit zube­rei­ten und Unter­stüt­zung bei den Haus­auf­ga­ben erhal­ten.Lucia Wicki-Rensch hat nicht nur Kon­tak­te zu Geist­li­chen, die in den umkämpf­ten Gebie­ten in der Ost­ukrai­ne sowie auf der besetz­ten Halb­in­sel Krim im Ein­satz ste­hen, sie rei­ste auch wie­der­holt in jene Gegen­den, um sich selbst ein Bild zu machen. Zum The­ma Repres­si­on nennt sie Bei­spie­le: «Das Bischofs­haus in Donet­sk wur­de am Anfang des Kon­flik­tes beschlag­nahmt.» Zur Situa­ti­on der Men­schen in der Ost­ukrai­ne und auf der Krim sagt Lucia Wicki-Rensch wei­ter: «Vie­le ver­las­sen ihre Hei­mat­or­te. Die Prei­se stei­gen stän­dig, und die öko­no­mi­sche Kri­se ist groß. Auf der Krim leb­ten vie­le Men­schen von Tou­ris­mus, jetzt gibt es das nicht mehr.» Ein gro­ßes Pro­blem sei das Gefühl der Hei­mat­lo­sig­keit der Men­schen. Zudem befän­den sich Donet­sk und Lug­ansk wei­ter­hin im Krieg.

«Hohe Selbst­mord­ra­te in der Bevölkerung»

«Die pasto­ra­le Seel­sor­ge der Men­schen dort ist sehr wich­tig», recht­fer­tigt Lucia Wicki-Rensch das Enga­ge­ment ihres Hilfs­werks. «Nach vier Jah­ren Kon­flikt machen sich die psy­chi­schen Pro­ble­me bemerk­bar; auf­fal­lend vie­le Men­schen bege­hen Selbst­mord.» Ein wei­te­res Pro­blem sei, dass vie­le Fami­li­en aus­ein­an­der geris­sen wur­den. Eini­ge gin­gen nach Russ­land, ande­re in die Ukrai­ne.»Mar­cel Hel­fen­stein bestä­tigt die­se Ein­drücke und meint: «Dort, wo kei­ne Gra­na­ten mehr flie­gen, liegt die Wirt­schaft am Boden. Es gebe kei­ne funk­tio­nie­ren­den staat­li­chen Struk­tu­ren mehr. «Sie sind zwar noch exi­stent, funk­tio­nie­ren aber nicht mehr. Beam­te haben seit Jah­ren kei­nen Lohn mehr gese­hen, weiss der ehe­ma­li­ge DEZA-Mit­ar­bei­ter.Trotz all die­ser Pro­ble­me fei­er­te Russ­land sich erneut selbst: nach Olym­pi­schen Spie­len, der Eis­hockey-Welt­mei­ster­schaft folgt nun König Fuss­ball und sorgt dafür, dass in den fol­gen­den vier Wochen Armut, Kriegs- und Flücht­lings­elend ins Abseits gedrängt werden. 
Andreas C. Müller
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