Die Hei­mat­lo­sen – am Rand der Gemeinschaft

Die Hei­mat­lo­sen – am Rand der Gemeinschaft

Die Hei­mat­lo­sen – am Rand der Gemeinschaft

Der Hei­mat­lo­sen­platz bei Anwil, Kien­berg und Witt­nau erin­nert an einen bit­te­ren Sozialkonflikt

Im Drei­län­der­eck von Basel­land, Solo­thurn und Aar­gau exi­stier­te bis 1931 ein klei­nes Gebiet, das zu kei­nem Kan­ton gehör­te: der Hei­mat­lo­sen­platz. Bis zur Mit­te des 19. Jahr­hun­derts ver­steck­ten sich häu­fig soge­nann­te Hei­mat­lo­se in Wäl­dern abseits der Dörfer.Seit 1400 und defi­ni­tiv seit 1534 gehört das Dorf Anwil zu Basel, das Nach­bar­dorf Kien­berg seit 1523 zu Solo­thurn, wäh­rend Witt­nau bis 1798 mit dem Frick­tal zum habs­bur­gi­schen Vor­der­öster­reich gehör­te und 1803 dem neu­en Kan­ton Aar­gau ange­schlos­sen wur­de. Den­noch stos­sen die drei Kan­to­ne BL, SO und AG erst seit 1931 in einem Punkt anein­an­der. Zuvor trenn­te sie ein schma­ler, drei­ecki­ger Spickel Land von 63 Aren Flä­che, der zu kei­ner der drei Gemein­den und zu kei­nem Kan­ton gehör­te – ein staa­ten­lo­ses Gebiet.Zum gröss­ten Teil war die­ses an einem stei­len Hang gele­ge­ne Land Wald, zu einem klei­nen Teil auf der Anwi­ler Sei­te Wie­se. Die pri­va­ten Grund­be­sit­zer muss­ten für ihre Par­zel­len in die­sem Gebiet kei­nem Gemein­we­sen Steu­ern zah­len. Kei­ne Ver­wal­tung und kei­ne Poli­zei konn­ten dort Hoheits­rech­te aus­üben, zum Bei­spiel die Jagd regeln. Die Kan­to­ne ver­tra­ten die Ansicht, die­ses Gebiet gehö­re gar nicht zur Schweiz.

Okku­pa­ti­on durch die Schweiz

Die­ser Zustand ging wohl ins Anci­en Régime zurück. Wie und wann er ent­stan­den war, ist unbe­kannt. Erst­mals akten­kun­dig wird die son­der­ba­re Situa­ti­on im Jahr 1822. Damals woll­ten die drei Gemein­den das Gebiet auf­tei­len, wur­den sich aber nicht einig: «Die Weit­nau­er haben nicht füren wol­len, die Kien­ber­ger nicht hin­dern und die Anwi­ler nicht aben» (d.h. die Witt­nau­er woll­ten nicht nach vorn, die Kien­ber­ger nicht nach hin­ten und die Anwi­ler nicht nach unten – kei­ne Gemein­de war bereit, sich zu bewe­gen), heisst es im Pro­to­koll des Gemein­de­rats von Anwil 1823. Gut hun­dert Jah­re spä­ter nah­men die Kan­to­ne einen neu­en Anlauf und schlos­sen am 27. März 1931 einen Ver­trag, mit dem sie das Gebiet ent­lang von pri­va­ten Grund­stück­gren­zen auf­teil­ten. Erst jetzt sties­sen die drei Gemein­den und die drei Kan­to­ne zusam­men. An die­sem Punkt setz­ten sie den drei­kan­ti­gen Gra­nit­stein mit der Num­mer 257 (sie­he Bil­der).Damit war die alter­tüm­li­che Beson­der­heit eines staa­ten­lo­sen Gebiets bei Anwil, Kien­berg und Witt­nau besei­tigt. Die Regeln einer hoheit­li­chen Ver­wal­tung gal­ten nun auch auf dem Hei­mat­lo­sen­platz. Der Bund geneh­mig­te den Tei­lungs­ver­trag der Kan­to­ne, wobei die Juri­sten des Aus­sen­mi­ni­ste­ri­ums in Bern den Vor­gang als völ­ker­recht­lich lega­le Okku­pa­ti­on ein­stuf­ten.

Erin­ne­rung an die «Hei­mat­lo­sen­fra­ge»

Die Behör­den und die ansäs­si­ge Bevöl­ke­rung der Umge­bung bezeich­ne­ten das exter­ri­to­ria­le Kurio­sum im 19. Jahr­hun­dert mit ver­schie­de­nen Namen: «In der Frey­heit», aber auch «Vagan­ten­platz» und «Hei­mat­lo­sen­platz». Die­ser letz­te Name war von 1877 bis 1900 auch auf der Lan­des­kar­te der Eid­ge­nös­si­schen Lan­des­to­po­gra­phie ein­ge­tra­gen. Er wird im Ver­trag von 1931 ver­wen­det und ist bis heu­te gebräuch­lich, wenn von die­sem The­ma die Rede ist, manch­mal in mund­art­na­hen Schreib­wei­sen wie Hei­mat­lo­sen­plätz oder Hei­met­lo­se­blätz.Der Name erin­nert an ein domi­nie­ren­des The­ma in der Schweiz der ersten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts. Als Hei­mat­lo­se gal­ten Men­schen ohne Bür­ger­recht einer Gemein­de, zum Bei­spiel Fah­ren­de oder Bett­ler. Sie waren weit­ge­hend recht­los. Die «Hei­mat­lo­sen­fra­ge» wur­de dann vom jun­gen Bun­des­staat im Hei­mat­lo­sen­ge­setz von 1850 ange­packt.

Oltin­ger Land­jä­ger schiesst scharf …

Die Bezie­hun­gen zwi­schen Sess­haf­ten und Hei­mat­lo­sen waren vol­ler Kon­flik­te. Ein­drück­lich zei­gen das zwei Quel­len aus dem Basel­biet, die der Histo­ri­ker Micha­el Blat­ter in der Fach­zeit­schrift «Tra­ver­se» (2007/2) ver­öf­fent­licht hat. In einem Rap­port vom 18. März 1838 beschreibt Land­jä­ger Eglin vom Grenz­po­sten Oltin­gen, wie er nachts auf Patrouil­le ein Lager­feu­er im Wald zwi­schen Wens­lin­gen und Rothen­fl­uh ent­deck­te und zusam­men mit Wäch­ter Gysin Jagd auf die Hei­mat­lo­sen mach­te, die er als «eine Par­tie Lum­pen­pack» und «Bet­tel­ge­s­in­del» bezeich­net. Aus einer Distanz von weni­ger als 100 m schos­sen bei­de auf die Grup­pe von «drei oder vier Manns­per­so­nen» und «ein paar Weibs­bil­dern». «Aber wir wis­sen nicht, ob wir Einen getrof­fen haben oder nicht, denn es war wohl weit.» Die Ange­grif­fe­nen flo­hen oder ver­steck­ten sich vor den Grenz­wäch­tern. «Wir ver­mu­te­ten, dass sie gegen Anwil geflo­hen sei­en und über die Gren­zen in den Kan­ton Aar­gau oder Solo­thurn», schreibt Land­jä­ger Eglin.

… und Dok­tor Ripp­mann klagt an

Nur drei Mona­te spä­ter, am 20. Juni 1838, notier­te der Arzt Dr. Ripp­mann von Rothen­fl­uh in sein Tage­buch, dass er von einem 16-jäh­ri­gen hei­mat­lo­sen Mäd­chen zu des­sen ster­bens­kran­kem Bru­der in den Wald «auf dem Ber­ge oben» geholt wor­den sei. In weni­gen Kilo­me­tern Ent­fer­nung vom Dorf fand der Arzt in unweg­sa­mem Gelän­de, wohl nahe der Gren­ze gegen Witt­nau, «auf einem Lager von Baum­ästen, mit elen­den Lum­pen beklei­det, einen abge­zehr­ten, blas­sen Mann von unge­fähr 24 Jah­ren, auf des­sen Gesicht sich die furcht­bar­sten Schmer­zen und Lei­den abspie­gel­ten, ver­bun­den mit einem Zug tief­ster Trau­er und Schwer­mut». Beim Lager­platz befand sich die Gefähr­tin des Kran­ken mit einem fünf Wochen alten Säug­ling und zwei wei­te­ren Kin­dern, dazu meh­re­re ande­re Frau­en und Kin­der. Die Hil­fe des Arz­tes kam zu spät: «Zu sei­ner Wie­der­ge­ne­sung war kei­ne Hoff­nung da, doch ver­liess ich ihn, nach­dem ich getan, was ich für den Augen­blick tun konn­te», schreibt Ripp­mann. Am Tag danach war der Mann tot.Ripp­mann war offen­bar ein poli­ti­scher Kopf, denn in sei­nem Tage­buch klag­te er die Behör­den an, die die Hei­mat­lo­sen «gleich dem Wild Tag und Nacht gejagt und gehetzt» hät­ten und sie ohne Ver­pfle­gung und ärzt­li­che Ver­sor­gung jeweils an die näch­ste Kan­tons­gren­ze setz­ten. Das Gesetz ver­un­mög­li­che den Hei­mat­lo­sen auch Tage­löh­ner­dien­ste für die Sess­haf­ten. Das von ihm ange­trof­fe­ne «Schmer­zens­la­ger» im Wald beelen­de­te den Arzt der­mas­sen, dass er glaub­te, des­sen Anblick wäre «selbst für die Tag­sat­zung ein Sporn zur schnel­len Abhil­fe die­ses Jam­mers gewe­sen».

Kran­ken­sal­bung ja, Beer­di­gung nein

Auch von der Ein­stel­lung der Hei­mat­lo­sen zur Reli­gi­on und vom Ver­hal­ten der kirch­li­chen Amts­trä­ger ver­mit­telt der Tage­buch­ein­trag von Dr. Ripp­mann einen Ein­druck. Offen­bar waren die Leu­te in dem Lager katho­lisch, denn sie hol­ten den katho­li­schen Pfar­rer aus Witt­nau zu dem Ster­ben­den. Die­ser kam, beglei­tet von einem Bewaff­ne­ten, und spen­de­te die Kran­ken­sal­bung. Laut Ripp­mann nah­men die «ohne allen Unter­richt selbst in der Reli­gi­on» auf­ge­wach­se­nen Hei­mat­lo­sen dar­an mit einer «Inbrunst und Andacht» bei, «die man­chem unter uns zum Muster die­nen dürf­te».Die Bestat­tung des Ver­stor­be­nen auf dem Fried­hof von Witt­nau wur­de aber ver­wei­gert, «denn man fürch­te­te Unko­sten», wie Ripp­mann schreibt. Statt­des­sen liess man den Toten im Sarg ins refor­mier­te Rothen­fl­uh tra­gen, «wo Herr Pfar­rer Lich­ten­hahn auf gewohn­te Wei­se und unter Bei­sein vie­ler Orts­be­woh­ner die Lei­che fei­er­lich beglei­te­te und eine rüh­ren­de Rede hielt. Kaum war die­se been­digt», fährt Ripp­mann fort, «wur­de die gan­ze Gesell­schaft der Hei­mat­lo­sen auf einen Wagen gesetzt und dem Bezirks­haupt­or­te Siss­ach zuge­führt, um über die Gren­ze einem ande­ren Kan­ton zuge­scho­ben zu wer­den.»

War­um der Name «Hei­mat­lo­sen­platz»?

Der Rap­port von Land­jä­ger Eglin und das Tage­buch von Dok­tor Ripp­mann bele­gen, dass die Sess­haf­ten an den Kan­tons­gren­zen von Basel­land, Solo­thurn und Aar­gau in der ersten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts rund um ihre Dör­fer jeder­zeit auf Hei­mat­lo­se tref­fen konn­ten, beson­ders im Wald. Wenn sie das zu kei­nem Kan­ton gehö­ren­de Land­stück «Vagan­ten-» oder «Hei­mat­lo­sen­platz» nann­ten, kam die­se Bezeich­nung aus ihrer Lebens­er­fah­rung. Das bedeu­tet nicht, dass auf die­sem «Blätz» beson­ders häu­fig oder gar regel­mäs­sig Hei­mat­lo­se gela­gert hät­ten. Im Gegen­teil: Von einer Begeg­nung mit Hei­mat­lo­sen auf die­sem klei­nen, schma­len und abschüs­si­gen Land­strei­fen ist kein ein­zi­ges Zeug­nis bekannt – im Unter­schied zu den Wäl­dern der umlie­gen­den Aar­gau­er, Basel­bie­ter und Solo­thur­ner Gemein­den, wo sich genü­gend ver­steck­te Lager­plät­ze anbo­ten.Zwar muss­ten die Hei­mat­lo­sen dort über­all mit Ver­trei­bung und sogar mit Angrif­fen auf ihr Leben rech­nen, wie der Rap­port Eglin zeigt. Doch der abge­le­ge­ne Hei­mat­lo­sen­platz hät­te ihnen kei­ner­lei Schutz vor die­ser Ver­fol­gung bie­ten kön­nen: Land­jä­ger Eglin hät­te kaum gezö­gert, auf die Bett­ler zu schies­sen, wenn er sie von Anwi­ler Boden aus auf dem Hei­mat­lo­sen­platz ent­deckt hät­te. Denn gera­de dort hät­te er kei­ne Stra­fe von der Obrig­keit eines andern Kan­tons befürch­ten müs­sen. Ret­tung vor aku­ter Ver­fol­gung konn­te für die Hei­mat­lo­sen nicht der her­ren­lo­se Spickel brin­gen, son­dern viel­mehr das Aus­wei­chen über die Gren­ze auf das Gebiet eines andern Kan­tons. Denn auf Solo­thur­ner oder Aar­gau­er Boden durf­te der Oltin­ger Land­jä­ger Eglin nichts aus­rich­ten, wenn ihm das «Lum­pen­pack» ent­wisch­te.Der Name Hei­mat­lo­sen­platz kann des­halb nicht so ver­stan­den wer­den, dass die Hei­mat­lo­sen dort über einen siche­ren Platz ver­füg­ten, wo sie sich unbe­hel­ligt von staat­li­chem Zugriff hät­ten auf­hal­ten kön­nen. Das wäre eine roman­ti­sche, rea­li­täts­fer­ne Vor­stel­lung. Eher könn­te die Bezeich­nung den Wunsch der sess­haf­ten Bevöl­ke­rung aus­drücken, die Hei­mat­lo­sen soll­ten sich doch in die­ses unwirt­li­che «Nie­mands­land» bege­ben und sich vor allem von jedem Gemein­de­ge­biet fern­hal­ten. Viel­leicht ist der Name aber auch scherz­haft gemeint, weil das frag­li­che Gebiet sel­ber «hei­mat­los» war und kei­ner Gemein­de ange­hör­te – genau wie die Hei­mat­lo­sen. Der Name «In der Frey­heit» wie­der­um, auf einem Grenz­plan von 1837 ein­ge­tra­gen, dürf­te sich eher auf die Steu­er­frei­heit der Grund­be­sit­zer bezie­hen. Denn für die Behör­de, die einen sol­chen Plan erstell­te, war die Steu­er­pflicht gewiss von grös­se­rer Bedeu­tung als die «Frei­heit» der Hei­mat­lo­sen.Chri­sti­an von Arx [esf_gallery columns=“3”]     
Christian von Arx
mehr zum Autor
nach
soben