«Stoppt die Ausschaffungen nach Kroatien!»

«Stoppt die Ausschaffungen nach Kroatien!»

  • Kroa­t­ien habe zu wenige Asylplätze und die medi­zinis­che Ver­sorgung in Asylzen­tren sei man­gel­haft.
  • Dies stellt das kirch­liche «net­zw­erk migrationscharta.ch» vor Ort fest. Es fordert einen Stopp der Rückschaf­fun­gen.
  • Das Staatssekre­tari­at für Migra­tion (SEM) sieht das anders.

Das Inter­view ist zuerst im Bern­er «pfar­rblatt» erschienen.

Sie sind Ende Juli mit ein­er Del­e­ga­tion von «Migra­tionschar­ta» vier Tage nach Zagreb und Rije­ka gereist. Was war das Ziel Ihrer Reise?

Nico­la Nei­der: Wir woll­ten uns vor Ort sel­ber ein Bild machen, wie es Asyl­be­we­berin­nen und Asyl­be­wer­bern in Kroa­t­ien geht. In der Schweiz leben mehr als 900 Men­schen, die nach Kroa­t­ien zurück­geschafft wer­den sollen. Sie haben grosse Angst vor dieser Rückschaf­fung, weil sie bei der Ein­reise schlimme Erfahrun­gen gemacht haben. Wir haben von «Sol­i­dar­ité sans fron­tières» und anderen NGOs gehört, dass die Struk­turen des Asyl­we­sens in Kroa­t­ien vol­lkom­men unzure­ichend seien.

Sie stellen Män­gel fest in der medi­zinis­chen Ver­sorgung und in der Unter­bringung von Asyl­suchen­den. Wie sehen diese Män­gel konkret aus?

Bis Ende 2022 hat­te das Asylzen­trum eine Leis­tungsvere­in­barung mit der bel­gis­chen NGO «Médecins du monde» (MDM). Seit Anfang Mai ist kein medi­zinis­ches Per­son­al mehr im Zen­trum, weil der Ver­trag aus­ge­laufen ist. Das Gesund­heits- und das Innen­min­is­teri­um sind aktuell daran, den Auf­trag neu auszuschreiben.

Wie sieht die medi­zinis­che Ver­sorgung jet­zt aus?

Der Leit­er des Zen­trums sagt, die Asyl­be­wer­ben­den kön­nten in eine nahe gele­gene Gemein­schaft­sprax­is gehen mit ein­er entsprechen­den Kostengut­sprache. Andere sagten uns, dass ein Arzt jeden Tag im Zen­trum sei. Sel­ber haben wir ihn in diesen vier Tagen nicht gese­hen.

Der Zen­trum­sleit­er sagte allerd­ings auch mehrmals: «Es ist ein gross­es Chaos.» Er wartet hän­derin­gend auf medi­zinis­che Ver­sorgung. Wir haben gese­hen, dass das Rote Kreuz präsent ist. Dieses ist aber in der Betreu­ung tätig, nicht in der medi­zinis­chen Ver­sorgung.

Kurz nach unserem Besuch kon­nte MDM eine vom SEM unter­stützte Über­brück­ungslö­sung mit den kroat­is­chen Behör­den vere­in­baren. Die medi­zinis­che Grund­ver­sorgung wird somit voraus­sichtlich noch im August wieder ange­boten, bis über die Auss­chrei­bung entsch­ieden ist.

Welche Män­gel in der Asy­lun­ter­bringung haben Sie fest­gestellt?

Das Asylzen­trum selb­st fan­den wir abso­lut in Ord­nung. Es ist ein ehe­ma­liges Hotel mit kleinen Zim­mern mit eigen­er Nasszelle. Junge Flüchtlingsmän­ner haben uns allerd­ings gesagt, dass sie nicht satt wer­den und dass die Hygiene der Nasszellen zu wün­schen übri­glasse. Das Haupt­prob­lem ist, dass das Zen­trum völ­lig über­belegt ist. Es gibt zwar ein zweites, das ist allerd­ings für die vul­ner­a­blen Per­so­n­en gedacht, also vor allem für Fam­i­lien mit Kindern. Ins­ge­samt gibt es in Kroa­t­ien Platz für 1000 Asyl­suchende. Doch allein in der ersten Hälfte dieses Jahres sind 31’000 Geflüchtete in Kroa­t­ien angekom­men. Das kann nicht funk­tion­ieren.

Kroa­t­ien ist als Durch­gangs­land bekan­nt. Viele Flüch­t­ende ziehen weit­er.

Ja, die Ver­weil­dauer der Leute ist sehr kurz. Im Zen­trum von Rije­ka kamen allein let­zte Woche 700 Per­so­n­en an, die alle weit­erziehen woll­ten. Sie gehen über die ital­ienisch-slowenis­che Gren­ze nach Europa. Oft haben sie in Deutsch­land, der Schweiz oder in den Nieder­lan­den Ange­hörige.

«netzwerk migrationscharta.ch»

Zur Del­e­ga­tion des «net­zw­erks migrationscharta.ch» gehörten Nico­la Nei­der Ammann, Fach­bere­ich­slei­t­erin Migration&Integration der katholis­chen Kirche Stadt Luzern, Andreas Nufer, Pfar­rer an der Heiliggeistkirche Bern, Ver­e­na Müh­lethaler, Pfar­rerin offene Kirche St. Jacob Zürich. Das «net­zw­erk migrationscharta.ch» ent­stand 2015 aus ein­er Gruppe evan­ge­lisch-reformiert­er und römisch-katholis­ch­er The­ologin­nen und The­olo­gen aus der Deutschschweiz. Es set­zt sich für eine neue Migra­tionspoli­tik ein, in der alle Men­schen ein Grun­drecht auf Nieder­las­sung haben. Die Char­ta wurde inzwis­chen von rund 900 Per­so­n­en unterze­ich­net.

Mit welchen staatlichen Stellen haben Sie vor Ort gesprochen?

Mit einem Angestell­ten des kroat­is­chen Innen­min­is­teri­ums, der für die Unter­bringung aller Asyl­suchen­den zuständig ist. Er leit­et das Asylzen­trum in Rije­ka und ist auch für den Aus­bau des Asyl­sys­tems ver­ant­wortlich. Ausser­dem haben wir mit dem Stel­lvertreter des Schweiz­er Botschafters gesprochen, weil dieser selb­st ger­ade in den Ferien war.

Was sagen die staatlichen Stellen zu Ihren Vor­wür­fen?

Der Vertreter der Schweiz­er Botschaft sagte, dass Kroa­t­ien unter einem gewalti­gen Druck ste­he und dabei sei, neue Plätze in einem neuen Zen­trum zu schaf­fen. Dieses könne aber früh­stens 2024 eröffnet wer­den.

Was sagt das SEM dazu, dass es zu wenig Plätze gibt?

Darauf geht das SEM gar nicht ein.

Und zur man­gel­haften medi­zinis­chen Ver­sorgung?

Das SEM ist darüber informiert. Chris­tine Schran­er Bur­gen­er, Schweiz­er Staatssekretärin für Migra­tion, war Mitte Juli selb­st in Zagreb. Ihre Schlussfol­gerun­gen sind andere: Sie sagt, der kroat­is­che Staat gewährleiste die medi­zinis­che Ver­sorgung. Sie bezieht sich dabei auf die Gemein­schaft­sprax­is.

Die 900 Per­so­n­en, die in der Schweiz leben und über Kroa­t­ien ein­gereist sind: Was für Per­so­n­en sind das?

Sie kom­men aus Afghanistan, aus Kur­dis­tan, aus dem Irak, dem Iran sowie aus Burun­di. Aus Burun­di sind es mehrheitlich allein reisende Män­ner, aus Kur­dis­tan und Afghanistan sind auch Fam­i­lien mit Kindern, zum Teil schw­erst trau­ma­tisiert durch die Erfahrun­gen auf der Flucht. Von den Fam­i­lien, die ich per­sön­lich kenne, ist min­destens eine Per­son in psy­chi­a­trisch­er Behand­lung, zum Teil in der Psy­chi­a­trie, andere haben psy­chi­a­trische Spi­tex.

Was würde mit diesen Men­schen passieren, wenn sie nach Kroa­t­ien aus­geschafft wür­den?

Wir gehen davon aus, dass sie nach weni­gen Tagen zurück in die Schweiz kom­men oder in ein anderes Land weit­er­reisen. Wenn sie in Kroa­t­ien bleiben, wer­den sie in einem der bei­den Zen­tren unterge­bracht, und dann ist es für diejeni­gen, die medi­zinis­che Betreu­ung brauchen, sehr ungewiss, wie es ihnen gesund­heitlich gehen wird. Ich kenne eine Frau, die so durcheinan­der ist, dass sie täglich Unter­stützung von ein­er Psy­chi­a­triefach­frau braucht. Diese sorgt dafür, dass sie ihre Medika­mente richtig ein­nimmt.

Was ist Ihr Anliegen?

Wir appel­lieren an das SEM und an Jus­tizmin­is­terin Elis­a­beth Baume-Schnei­der. Sie mögen Rück­sicht darauf nehmen, dass der kroat­is­che Staat in seinem noch sehr jun­gen Asyl­we­sen Unter­stützung braucht, um die nötige Kapaz­ität auszubauen. Unsere Min­i­mal­forderung ist, dass die medi­zinis­che Ver­sorgung gewährleis­tet ist, ehe Men­schen zurück­geschafft wer­den. Es gibt eine Klausel in der Dublin-Verord­nung. Diese besagt, wenn in einem Land sys­temis­che Män­gel im Asyl­we­sen herrscht­en, solle man von Rückschaf­fun­gen abse­hen. Unser Appell ist, diese Klausel zu aktivieren und vorder­hand keine Men­schen nach Kroa­t­ien auszuschaf­fen.

Und wenn Kroa­t­ien ein funk­tion­ieren­des Asyl­we­sen auf­bauen kön­nte?

Wenn es genü­gend Auf­nah­me­plätze gäbe, würde Kroa­t­ien eine ein­ma­lige Chance bieten, dass Men­schen sich dort inte­gri­eren kön­nen. Kroa­t­ien vergibt sehr lib­er­al Arbeits­be­wil­li­gun­gen an aussereu­ropäis­che Men­schen. Ein gesun­der junger Mann kann nach drei Monat­en im Asylzen­trum eine Arbeits­be­wil­li­gung erhal­ten. In der Folge erhal­ten sie recht unbürokratisch auch eine Aufen­thalts­be­wil­li­gung. Damit wird das Asylge­such hin­fäl­lig.

Stellungnahme des SEM zu den Vorwürfen:

Zum Ver­hält­nis der Anzahl Asylge­suche zur Anzahl Auf­nah­me­plätzen:

Das SEM bestre­it­et die Zahlen nicht, geht aber bezüglich der Auf­nah­meka­paz­itäten von anderen Über­legun­gen aus: Weil Kroa­t­ien ein Tran­sit­land sei, werde das Asylge­such oft nur gestellt, «um den Aufen­thalt in Kroa­t­ien vor­läu­fig zu regeln», schreibt Medi­en­sprech­er Samuel Wyss auf Anfrage des «pfar­rblatt». In solchen Fällen sprechen das SEM und das Net­zw­erk Migra­tionschar­ta übere­in­stim­mend von «express inten­tion» (Absicht­serk­lärung). Die effek­tive Gesuch­stel­lung erfolge erst in Asylzen­trum, wohin viele nicht oder nur kurz reis­ten. «So kom­men die rund 900 effek­tiv­en Asylge­suche für das erste Hal­b­jahr 2023 zus­tande, von denen das SEM aus­ge­ht.» Die 31’000 Asylge­suche zeigten primär, wie viele Migran­tinnen und Migranten durch Kroa­t­ien reis­ten, «sie sind aber kein Indika­tor für die effek­tive Belas­tung des kroat­is­chen Asyl­sys­tems und der Unter­bringungsstruk­turen.»

Zur medi­zinis­chen Ver­sorgung:

In Bezug auf die medi­zinis­che Betreu­ung hält das SEM fest, dass diese auch nach Ablauf des Man­dats von «Médecins du monde» gewährleis­tet sei: «Die kroat­is­chen Behör­den stellen – in Zusam­me­nar­beit mit dem kroat­is­chen Roten Kreuz – die medi­zinis­che Ver­sorgung bis zur Ver­gabe des neuen Man­dats sich­er. Bei Rückschaf­fun­gen beson­ders vul­ner­a­bler Per­so­n­en entschei­de das SEM im Einzelfall auf Basis der medi­zinis­chen Berichte. Eine Men­schen­rechtsver­let­zung würde nur dann vor­liegen, «wenn die Per­son im Ziel­land keine angemessene medi­zinis­che Behand­lung erhielte und Gefahr liefe, dass sich ihr Gesund­heit­szu­s­tand rasch und irre­versibel ver­schlechterte.»

Zur Bitte, die Rückschaf­fun­gen vorder­hand auszuset­zen:

Aus den oben genan­nten Grün­den hält das SEM eine Aus­set­zung der Rückschaf­fun­gen nicht für angezeigt. Die Rückschaf­fung erfolge vorschrifts­gemäss, die Betrof­fe­nen hät­ten Zugang zum Rechtssys­tem und die Betreu­ung sei sichergestellt. Wed­er das SEM noch das Bun­desver­wal­tungs­gericht sähen sys­temis­che Schwach­stellen im kroat­is­chen Asyl­sys­tem. Überdies habe «kein ander­er Dublin-Staat Über­stel­lun­gen nach Kroa­t­ien aus­ge­set­zt.»

Eva Meienberg
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