Den richtigen Ton zu treffen, ist eine Kunst

Den richtigen Ton zu treffen, ist eine Kunst

  • In diesen Tagen erscheint die Zeitung «zVis­ite» als Beilage ver­schieden­er kirch­lich­er Pub­lika­tio­nen in der Deutschschweiz.
  • Aktuelles The­ma der inter­re­ligiösen Zeitung ist «Das Wort in den Reli­gio­nen».
  • Der Sprech­coach Markus Wentink analysierte Videos von Predigten. Dabei ent­deck­te er Floskeln, Dro­hge­bär­den und Macht­ge­baren. Um das Pub­likum zu begeis­tern, braucht es mehr als Worte.

Wer das Stich­wort «Predigt» bei Youtube ein­tippt, find­et von der flam­menden Endzeit­darstel­lung bis zur nüchter­nen Suren­-Ausle­­gung die ganze Palette religiös­-rhetorisch­er Kun­st. Markus Wentink, katholis­ch­er The­ologe und Coach für mündliche Kom­mu­nika­tion, ist bere­it, in dieses Uni­ver­sum einzu­ tauchen. Vorher hält er fest, worauf er bei der Predigt­-Analyse beson­ders achtet: «Was ist das Ziel? Wel­che Stim­mung entste­ht? Geht es um dial­o­gis­che Rhetorik oder um blos­se Verkündi­gung göt­tlich­er Wahr­heit? Und natür­lich: Wie wirkt die Red­ner­in oder der Red­ner?»

«Was bei einem Date schlecht ist, funktioniert auch in der Predigt nicht»

Den Anfang macht eine refor­mierte Pfar­rerin. Sie predigt aus den Büroräum­lichkeit­en ihrer Kirchge­meinde und steigt ein mit: «Die Gna­de von Gott sei mit euch.» Nicht opti­mal, find­et Wentink, denn mit dieser Aus­sage präsen­tiere sich die Pfar­rerin in ein­er Macht­po­si­tion. In einem Gottes­di­enst soll­ten in­klusive Formeln ver­wen­det wer­den, die die Leute ein­laden. Zum Beispiel: «Wir feiern den Gottes­dienst im Namen des Vaters.» In der Über­leitung zum Bibel­text erwäh­nt die Sprecherin dann, der Psalm, um den es heute gehe, gehöre zu ihrer täglichen Med­i­ta­tion. «Was beim Tin­der­-Date schlecht ist, funktio­niert auch beim Sprechen im litur­gischen Kon­text nicht», meint Wen­tink. Zu viel von sich sel­ber reden, ver­an­lasse die Zuhören­den abzu­hängen. «Wer die Leute abholen will, muss sich in ihre Welt bege­ben und diese ansprechen.»

Aktuell: Woche der Religionen

Diese Woche (6.–14. Novem­ber 2021) wird die «Woche der Reli­gio­nen» began­gen. Sie hat jedes Jahr in der ersten Novem­ber­woche ihren fes­ten Platz in der inter­re­ligiösen Agen­da.

Rund 100 Ver­anstal­tun­gen laden zu Begeg­nung und Dia­log zwis­chen den in der Schweiz ansäs­si­gen Reli­gio­nen und Kul­turen ein. Organ­isiert wird die Woche vom inter­re­ligiösen Net­zw­erk Iras Cotis.

Saft im Bart des Sprechers

Im näch­sten Video filmt ein Rab­bi seinen Reli­gion­sun­ter­richt. Es geht um All­t­ags­fra­gen, die er anhand der Tho­ra beant­wortet. Heute sitzt der Herr mit grauem Bart in sein­er pri­vaten Küche, mixt Bloody Marys und verteilt sie an seine Schüler.

Eine gut ver­ständliche Sprache und eine überzeu­gende Körperhal­tung, attestiert ihm Experte Wentink. «Er stellt etwas dar, von dem er weiss, dass es nicht All­ge­meingut ist. Sei­ne Welt ver­tritt er selb­st­be­wusst, manch­mal fast etwas trotzig.» Der Rab­bi lässt die Zuschauer nah an sich ran. Sie sind fast real dabei, wenn ihm Saft in den Bart tropft. Markus Wentink schätzt diese Au­thentizität: «Er hat zwar unbestrit­ten eine sehr ortho­doxe Sicht der Dinge, wirkt aber echt und ver­steckt nichts.» Zum Schluss sagt der Rab­bi: «Ich sprech’ jet­zt einen Segen.» Gut so, find­et Markus Wen­tink: «Er führt den Segen ein und nimmt so die Zuhören­den mit.»

Angriffiger Igel

Bei der Predigt eines islamis­chen Sche­ichs achtet Wentink beson­ders auf die Gestik. Der Red­ner macht den «Igel»: Er legt die Hand­flächen aneinan­der und zeigt mit gestreck­ten Fin­gern auf die Zuhör­er. «Das wirkt angrif­fig.» Allerd­ings sei Gestik stark kul­turell geprägt und müsse deshalb vor­sichtig interpre­tiert wer­den.

Kämpferisch zeigt sich auch ein Mufti, der über den Umgang mit dem Video­por­tal Tik­tok spricht. Er klopft auf den Tisch, reisst die Augen auf, zieht die Augen­brauen hoch, dro­ht mit dem Fin­ger. Der Sprech­coach attestiert ihm, dass er wach und engagiert wirke, aber auch bedrohlich: «Dass er Tik­tok gefährlich find­et, begreift jed­er, oh­ne die Sprache zu ver­ste­hen.»

Die gemeinsame Sache

Im let­zten Video tritt der Pas­tor ei­ner beliebten Freikirche auf. Er ste­ht mit Mikro­fon auf der Bühne, die Bibel unter den linken Arm ge­klemmt. Das Buch scheint ihn zu block­ieren. «Wegle­gen», rät Mar­kus Wentink. Der braunge­bran­nte Mit­tfün­fziger macht kaum Pausen, atmet schnap­pend und bleibt im­mer mit der Stimme oben. «Nach­denken ist hier nicht gefragt», kon­statiert Wentink. Er ver­misst den Zuschauerbe­zug. «Es braucht auch mal eine Rel­a­tivierung im Stil von: Ich weiss nicht, wie es euch geht.» Hier miss­achte der Red­ner einen Grund­satz der koop­er­a­tiv­en Rhetorik: «Wer spricht, muss Fra­gen und Gedanken der Zuhör­er ernst nehmen und das Besproch­ene zur gemein­samen Sa­che machen.»

Marie-Christine Andres Schürch
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