Unterwegs von Santiago nach Finisterre
Tagebücher von einst leiten Hannes Leo Meier auf seinem Weg von Santiago nach Finisterre.
Bild: © Roger Wehrli

Unterwegs von Santiago nach Finisterre

In seinem Online-Tagebuch nimmt uns Hannes Leo Meier mit ans Ende der Welt

Nach bald vierzig Jahren nimmt der Autor und Geh-Coach den Weg, den er als 23-Jähriger gemacht hat, nochmals unter die Füsse. Im Gepäck hat er Tagebucheinträge von damals, welche die «Lichtblick»-Redaktorinnen für ihn ausgewählt haben. Jeden Tag öffnet Hannes Leo Meier einen Umschlag mit einem Satz. Seine Gedanken, die er sich dazu auf seinem Weg macht, teil er mit uns in seinem Online-Tagebuch.


4. Oktober 2025

Heute ist der 4. Okto­ber. Es ist 10.25 Uhr, bald muss ich das Zim­mer ver­lassen. Gestern beim Ver­fassen des Textes merk­te ich, dass Ner­vosität aufkommt. Oder war es ein­fach die Müdigkeit, weil ich 17 km mit ein­er einzi­gen kurzen Essenspause zurück­gelegt hat­te? Nein, ich glaube nicht. Es ist das Ziel, welch­es mich nervös macht. Ankom­men ist eine grosse Sache. Ankom­men ist ein Geschwis­ter­paar mit dem Los­ge­hen. Und im Ankom­men wartet sehr viel auf einen, in meinem Falle sind es sog­ar mehrere Ebe­nen. Aber sich­er ist, dass man kein Ziel erre­ichen kann, ohne es zu ver­lieren. Und aller meis­tens han­delt man sich damit dann auch eine rechte Leere ein. Je gröss­er das Ziel ist, desto gröss­er ist die Leere danach.

Eine der Lehren aus meinem Camino von 1988 war, dass es sich lohnt, sich vor dem Ziel zu fra­gen, was alles noch getan oder gelebt oder erlebt sein müsse, dass wenn man das Ziel erre­icht, sich dann schlicht und ein­fach in diese Leere hinein fall­en lassen kann. In meinen sieben Kom­po­nen­ten des Gehens ist «Ori­en­tieren» die Sech­ste: Frage dich, woher du kommst. Frage dich, weswe­gen du über­haupt aufge­brochen bist. Frage dich, ob du unter­wegs erlebt und gelebt hast, dass es nun stim­mig sein kann, anzukom­men. Und sollte dem nicht so sein, dann mache noch alles, was es dein­er Mei­n­ung nach braucht, damit du dich am Ziel nur noch in diese magis­che Leere hinein fall­en lassen kannst; In diese Leere, die deinen Weg nun würdigt. Ja, dieses Loch, welch­es wir nicht gern haben, ist ele­men­tar wichtig. Diese Leere ist der Raum, wo Anfang und Ende sich die Hand geben. Ohne Ankom­men kein Los­ge­hen. Und mit dieser Leere hin­ter dem Ziel würdigst du deinen Weg.

Und eben dies wartet nun auf mich. 38 Jahre später werde ich nun heute am Kap von Fin­is­terre ankom­men. Und in mein­er Per­son wer­den dann mehrere Seit­en von mir den Weg in die Wogen des Meeres ver­schwinden sehen. Es ist als Erstes der ganz jet­zige Fusspilger, der seine sech­stägige Wan­der­reise abschliesst. Aber es ist weit­er auch ein Ich, welch­es sich lange danach sehnte, diese let­zte Etappe noch ein­mal gehen zu kön­nen. Weit­er ist es der 61-jährige, der da an der Küste mit dem Blick in die Unendlichkeit dem imag­inären 23-jähri­gen Ich begeg­net (und wie ich dies hier schreibe, schiessen mir die Trä­nen in die Augen). Und vielle­icht als Viertes kommt da auch ein 61-jähriger Mann an, der unendlich dankbar ist für sein Leben und sich in der sich zeigen­den Leere auch die Frage gestellt bekommt: «Quo vadis? Wohin des Weges, nun? Worum geht es die kom­menden Jahre?


Freitag, 3. Oktober 2025

Heute ging’s auf dem Weg durchs Geniesel und ins Grau. Der Weg ver­lor sich spätestens nach 100 m rät­sel­haft. Aber da hier der Camino inzwis­chen so sich­er markiert ist, indem alle 300 m eine Stein­säule mit Pfeil und Kilo­me­terangabe ste­ht, sowie Pfeile und Muschelem­bleme gelb auf tief­blauem Grund in Mauern und Hauswän­den ein­ge­lassen sind, ist es unmöglich, sich selb­st bei schlimm­stem Wet­ter zu ver­lieren. Eine Weg­be­glei­t­erin meinte zum Camino, er sei ein Aben­teuer mit Sicher­heits­garantie.

Wobei, da möchte ich doch noch die beza­ubern­den Pil­ger­per­so­n­en anführen, von denen ich gestern schrieb. Die Alberge von Logroso ist zwar total gediegen, aber sehr abgele­gen. Deswe­gen schafft es kein Gepäck­ser­vice dahin. Und fol­glich fan­den sich gestern Abend auch nur Gehende dort ein, die ihr ganzes Gepäck auf sich tra­gen, diejeni­gen, die weit­wan­dern. Und da kommt in so einem Ensem­ble ein­fach eine andere Stim­mung auf. Wer schon min­destens 800 km in den Sohlen hat, der oder die ist aller­meist schon recht bei sich. Solche Leute kön­nen zuhören, solche Leute kön­nen die Fünfe ger­adeste­hen lassen und sie wis­sen: «Heute ist heute und mor­gen geht es zu Fuss weit­er». Da gibt es nichts zu bluffen, über­haupt nichts. Wir alle kamen zu Fuss hier an und wir alle gehen zu Fuss weit­er. Und eigentlich ist das im Leben doch auch so.

Nun zum Satz des Tages: Ich geste­he, ich öffnete das Kuvert mit dem Zettel tat­säch­lich erst heute kurz bevor ich um 15 Uhr los­marschierte. Die anderen Tage davor habe ich das immer schon am Abend vorher gemacht. Heute aber war ich so beschäftigt mit meinem Stock und den Geist­blät­tern und dem Wun­sch, noch ein­mal malen zu gehen, dass ich für den Satz noch nicht parat war. Zudem wachte ich in der Nacht auf – wie auch alle Nächte davor – aber dies­mal war mein Kopf ein­fach wohlig leer. Kein Gedanke zu oder über etwas, was ich noch müsste, oder sollte, oder nicht getan habe, oder jemand anders getan hat … nichts. Ein­fach eine stim­mige und erfüllte Leere. Kein Groll, keine Pen­denz, kein Gram, kein Neid, keine Schuld, … ein­fach: «Ja, so ist es gut».

Nun aber wirk­lich zurück zum Satz: Diese Lek­tion habe ich wirk­lich gel­ernt. Nicht ren­nen! Nicht ren­nen, wenn es nicht nötig ist! Und die eigentliche Kun­st, nicht ins Ren­nen zu kom­men ist – so denke ich zumin­d­est – wenn man sich sein­er Schritte bewusst ist. Unser Gehen ist der grösste Gradmess­er, sowohl als Hin­weis, als auch als Werkzeug.

Wie schon gesagt, ich ging heute also erst um 15Uhr los und machte dann bis Cor­cu­bión an die 17 km. Ich war sowohl im Gehen äusserst präsent und bei mir, wie auch davor im noch nicht gegan­gen Sein – im Wald beim Recher­chieren um die Geiss­blät­ter und am Bach beim Malen.

So nun ste­ht jet­zt die let­zte Nacht an, bevor ich mor­gen dann in Fin­sterre zum zweit­en Mal in meinem Leben ankom­men werde.


Donnerstag, 2. Oktober 2025

Wie kam nur dieser Satz in meinem Tage­buch? Er ste­ht tat­säch­lich so und eben­so allein, ohne irgen­deinen Bezug, der aus dem heute noch zu erken­nen liesse, woher dieser Wun­sch nach ein­er Bibelschule rührt. Eine Bibelschule? Wären dort wom­öglich all jene Fra­gen beant­wortet wor­den, die ich damals auf dem Camino in Bezug zum Chris­ten­tum und zum Katholizis­mus gesam­melt hat­te?

So tönt es, wenn Hannes Leo Meier unter­wegs ist auf seinem Weg ans Ende der Welt.

Tat­säch­lich machte ich mich 1988 mit fünf Inter­essen­feldern auf den Weg: Die eine Suche galt der Gretchen­frage: «Wie hast du’s mit der Reli­gion?». Damals sagte ich mir: «Entwed­er ich komme in San­ti­a­go als Heiliger oder als Athe­ist an». Weit­er beschäftigte ich mich damit, was ich beru­flich machen werde. Als Drittes inter­essiert es mich, den Begriff der Frei­heit auszu­loten. Als Viertes fragte ich mich, wo ich mich wohl nieder­lassen werde, wo meine Heimat sei. Und als Fün­ftes ging ich auf den Weg, um in der part­ner­schaftlichen Liebe zwei bis vielle­icht möglicher­weise gar sieben Schritte weit­erzukom­men.

In Bezug zur Gretchen­frage schien ich am Ende des Caminos einen grossen Hunger gehabt zu haben, die Bibel bess­er ver­ste­hen zu kön­nen. Ob ich heute mehr weiss als damals?

Der Satz aus mein­er Ver­gan­gen­heit bescherte mir heute aber min­destens drei göt­tliche Momente: Der eine war ein Gespräch, in dem eine Fusspilgerin mir anver­traute, dass sie ent­täuscht sei, weil sie wider Erwarten auf dem Camino Gott nicht begeg­net sei – oder er ihr nicht. In allen Büch­ern, die sie gele­sen habe, hätte es min­destens einen solchen magis­chen Moment gegeben. Als Zweites flog mir heute eine Gotte­san­be­terin über den Weg. Gelandet ist sie kaum zu erken­nen, so gut getarnt ist sie. Eine Gotte­san­be­terin! Wenn dies kein Zeichen ist! Und als Drittes, und dies ist auch wahr und bestätigt noch ein­mal den Satz, dass wir sehen, was in uns ist, fand ich heute eine Pflanze, nach der ich seit min­destens fünf Jahren schon auf der Suche bin: Das gemeine Waldgeiss­blatt. Ich suchte es nicht, es fiel mir plöt­zlich ein­fach auf unter­wegs.

Warum ist das gemeine Waldgeiss­blatt für mich so wichtig? Handw­erk­er, die auf die Walz gehen, auf die Tip­pelei, haben Wan­der­stöcke mit speziellen Drehun­gen bei sich. Diese Drehun­gen ver­mag das Waldgeiss­blatt zu schaf­fen, weil es den Ast der­massen umrankt, dass der Baum nur aussen rum weit­er wach­sen kann. Diese Äste, aus denen die Stöcke gemacht wer­den kön­nen, sind rar. Ich aber weiss jet­zt, wo ich so einen Stock find­en kön­nte.

Heute ging ich bei Son­nenauf­gang los, ging 16 km weit, bestieg dazu noch zusät­zlich einen Berg, und bin nun in ein­er beque­men und beza­ubern­den Her­berge in Logoso angekom­men. Zusam­men mit beza­ubern­den Pil­gerin­nen und Pil­gern.


Mittwoch, 1. Oktober 2025

Nach dieser zweit­en Nacht in der Pil­ger­her­berge «San José», wo man im Schlaf­saal eine Studie machen kön­nte, welche Arten von Schnar­chen es gibt, stand ich heute rechtzeit­ig auf und ging auf dem Weg noch im Dunkeln. Auch Nebel lag im Städtchen und machte das Hin­aus­ge­hen durchs Stadt­tor noch mehr in der Zeit ver­loren. Auf einem Pfos­ten sass im Obskuren eine Katze, als hüte sie den Weg vor mir als Gral­srit­ter und im Wald dann, als es endlich «katz­dunkel» war und ich immer noch kein Licht machte, roch meine Nase plöt­zlich inten­siv­er. Ich hörte den Tau von den Bäu­men tropfen und meine Füsse erkan­nten einen wahren Tep­pich aus frisch gefal­l­enen Kas­tanienigeln, was sich wohl anfühlte, wenn ich an einen Sturz dachte aber den Hän­den dann wohl doch nicht so gefall­en hätte. Sachte kam Licht in die Gegend und wie auf einen Schlag plöt­zlich war die Farbe da und plöt­zlich begann das Herb­st­laub zu strahlen.

Der heutige Begleit­satz bewies mir ein­mal mehr, dass wird eben das sehen, was wir in uns tra­gen. Wie ich so vor mich hing­ing, kam plöt­zlich eine alte Frau auf mich zu, wie damals auch, mit einem eben­solchen Hut. Bis dahin fiel mir keine Per­son mit so ein­er Kopf­be­deck­ung auf. Ich sprach die Dame an und wir ver­standen uns. In den let­zten 40 Jahren hat sich hier in Gal­izien in Bezug zur Armut wohl viel getan. Im Plaud­ern erfuhr ich von ihr, dass sie Car­men heisse und dass es ihr gut gehe.

Wie ich dann im Tage­buch nach­schlug, fand ich eine Zeich­nung zur Per­son von damals und die Beschrei­bung, dass diese Frau gestützt auf einem Stock und ein­er Rinde unter­wegs gewe­sen war. Car­men aber freute sich, denn sie ging aufrecht. Als ich sie fragte, ob wir zusam­men ein Foto machen wür­den, war sie glück­lich.

Fün­fzehn Kilo­me­ter später viel mir in ein­er Schenke nochmals ein solch­er Hut auf. Dieser hing an der Wand als Relikt aus früheren Zeit­en. Hätte mich mein Satz nicht geleit­et, hätte ich ihn wohl nicht gese­hen und die Frau nicht bemerkt. Zum The­ma Armut: Einen Wagen mit Holzrädern habe ich nur einen gese­hen, als anti­quar­isches Objekt aus­gestellt in einem Garten. Alle Bauern hier sind inzwis­chen mit Trak­toren unter­wegs. Vor 40 Jahren zogen noch manch­mal Kühe solche Gefährte aus Holz und Frauen gin­gen mit zwei Kühen am Halfter zum Grasen auf öffentliche Feld­wege hin­aus. Es hat sich viel getan.

Zum The­ma Armut und Pil­gern liesse sich aber auch noch einiges sagen: Pil­gern – oder Gehen auf dem Camino – ist im Kern ein frei­williger Verzicht, eine Reduk­tion aufs Min­i­mum und die Hingabe an die Entschle­u­ni­gung. Anscheinend tut es vie­len gut, denn der Camino wird von vie­len Men­schen began­gen.

Heute ging ich gute 22 km und kam in San­ta Mar­iña an. Jet­zt lege ich mich in den Schlaf­saal und werde mich wieder damit befassen, welche Arten von Schnar­chen es gibt.


Dienstag, 30. September 2025

Unter­wegs auf dem Camino ist es eine ständi­ge Bedin­gung, sich beständig auf die gegebe­nen Bedin­gun­gen einzu­lassen: Regen, Sonne, Kör­p­er, Men­schen… Und wom­öglich ist dieser Umstand eines der befreien­den Gefüh­le auf diesem Weg. Dass man ein­er­seits wirk­lich frei wählen kann – Gehen oder Nicht-Gehen – und dass man die Kon­se­quen­zen der Entschei­dung selb­st trägt.



Als ich mich damals vor­bere­it­ete, fragte ich mich sehr wohl, was ich denn neben dem Gehen auch noch tun würde. Es war mir bewusst, dass man nicht nur ob zu wenig Nahrung ver­hungern kann. Auch das inner­liche Aus­ge­laugt­sein, erachtete ich als eine Bedro­hung für mich unter­wegs. Und so bepack­te ich meinen Ruck­sack neben den Jonglier­bällen auch noch mit ein­er Fis­cher­rute, einem Skizzen­buch, meinem Aquarel­lka­s­ten, mit Büch­ern – unter anderem mit «Der leere Spiegel» von Jan­willem van de Weter­ing – weswe­gen mir von daher klar war, was ein Koan ist –, einem Walk­man für Kas­set­ten zum Musikhören und um von unter­wegs ein­mal eine Tonauf­nahme machen zu kön­nen, sowie – und dies ent­deck­te ich erst wieder beim Lesen der Tage­büch­er – mit ein­er Schnöregi­ige. Am Ende des Weges kam ich dann aber wed­er als Jon­gleur an, noch als Strassen­musik­er, der zu wer­den ich mir damals auch erträumte. Aber das Zeich­nen und malen entwick­elte ich unter­wegs tat­säch­lich so weit­er, dass ich mir danach während einiger Zeit mein Geld als Strassen­maler ver­di­enen kon­nte.

Auch heute habe ich mich auf die Bedin­gun­gen ein­ge­lassen: Ich ging nicht. Also, ich ging schon. Erst fuhr ich mit dem Bus wieder zurück nach Ponte Maceira. Die mit­te­lal­ter­liche Brücke dort beein­druck­te mich gestern beim Vor­beige­hen der­massen, dass ich sie heute skizzieren wollte. Und als zweites war es mir wichtig, einem mein­er Vorsätze wirk­lich Raum zu geben: Gib dir Zeit und nimm dir Zeit! Denn ich habe damals, vor 40 Jahren, den Camino auch als eine Art Schule für das Leben gelebt und so geht es mir auch heute: Hier kann ich bestens das ange­hen und mich hineinge­hen lassen, in das, wie und was ich mir wün­sche, dass es in Zukun­ft auch so gehen kön­nte.


Montag, 29. September 2025

Heute bin ich von San­ti­a­go de Com­postela aufge­brochen. Ich ging weg. Weg. Ich wollte weg gehen und ich ging. Sei­ther bin ich weg. Ich bin so qua­si Weg. Mir gefällt diese Nähe der Bedeu­tung von «wegge­hen» und «Weg gehen». «Weg» als Prä­fix und als Nomen. Der berühmte Buchti­tel von Hape Ker­kel­ing kön­nte für mich heis­sen: «Ich bin dann mal Weg».

Für meinen heuti­gen Weg haben mir die «Lichtblick»-Redaktorinnen diesen Satz aus meinen Tage­büch­ern von damals mit­gegeben. Was ich da vor 38 Jahren schrieb, kommt mir heute vor, wie ein Koan (rät­sel­hafte Frage, Anek­dote, um den Geist her­auszu­fordern; Begriff aus dem Zen-Bud­dhis­mus, Anm.d.Red.). Vielle­icht kann ich den Satz tat­säch­lich auch in dieser Art mit­nehmen.

Inhaltlich besagt er aber wohl, dass ich damals stark den Wun­sch hat­te, San­ti­a­go wieder zu ver­lassen. Erst wollte ich über Monate nur dahin, und dann plöt­zlich dieser Traum, ja, dieser klare Entscheid! Es war näm­lich so, dass ich nach vier Tagen genug hat­te vom Feiern und vom Rum­mel zusam­men mit all den Fre­un­den, die ich ken­nen gel­ernt hat­te auf dem Weg in Spanien. Während dieser Tage kam ich nicht ein­mal dazu, nur eine Notiz in mein Tage­buch zu schreiben. Geze­ich­net und skizziert habe ich wohl. Denn dass ich ein Bild, an dem ich anscheinend zweiein­halb Stun­den gear­beit­et hat­te, danach ver­schenk­te, schrieb ich Tage danach dann noch nieder.

Ja, es muss mich richtigge­hend in Rich­tung Fin­is­terre gezo­gen haben. Ich denke, ich freute mich damals sich­er auch, wieder in den alten Gehmodus zu kom­men, näm­lich in das Alleine-Gehen. Dieses pflegte ich gezwun­gener­massen die ersten acht Wochen zwis­chen Ein­siedeln und der franzö­sisch-spanis­chen Gren­ze. Kaum jemand ging zu jen­er Zeit den «Camino», denn in Mit­teleu­ropa war er nur wenig bekan­nt. Es war sog­ar so, dass es in der Schweiz und danach bis nach Le Puy nicht ein­mal einen markierten Weg gab, geschweige denn Pil­ger­her­ber­gen. Nichts­destotrotz musste ich mich nach San­ti­a­go also doch wieder auf das «Wilde-Gehen» gefreut haben, denn auch von San­ti­a­go bis Fin­is­terre musste ich damals den Weg selb­st suchen. Mit ein­er für Aut­o­fahrer gedacht­en Karte unter­wegs, wusste ich, dass ich so sich­er nicht die «Opti­mallinie» gehen würde. – was ich damals mit Slalom­fahren assozi­ierte.

Mir gefällt mein Satz aber noch in ein­er weit­eren Hin­sicht: Wenn es Zeit ist, aufzubrechen, dann soll man auf­brechen. Ich sage: «Geh, geh los, mach dich auf dem Weg – werde Weg. Und mach es, auch wenn du nicht sich­er bist, dass du die ‹Opti­mallinie› erwis­chen wirst.» Wichtig ist, dass du deinem Ziel ent­ge­gen gehst. Und eben­so wichtig ist es, was du unter­wegs erleb­st. Das Ziel sel­ber macht dich nicht wirk­lich zu einem neuen Men­schen, son­dern das, was unter­wegs mit dir geschieht. Also steh auf und geh!

Ich bin heute nach guten 24 km Fuss­weg nun in Negreira angekom­men – und schon ein biss­chen ein ander­er Men­sch.


Sonntag, 28. September 2025

Zum zweit­en Mal in meinem Leben bin ich auf dem Platz vor der Kathe­drale in San­ti­a­go de Com­postela. Aus ein­er Seit­en­gasse klingt wieder eine Gai­ta (Dudel­sack, Anm.d.Red.), wie vor 38 Jahren, als ganze Grup­pen mit diesem gal­izis­chen Instru­ment durch die Gassen zogen und einen Hin­weis darauf gaben, dass die Galici­er mehr mit den Englän­dern und Iren – also den Kel­ten – zu tun haben, als mit den eigentlichen Iber­ern.

Was es mit mir macht? Es ist eine Form der Rührung, der Berührung da. Ein­er­seits freue ich mich, wieder hier zu sein oder sein zu kön­nen. Zwar habe ich dies­mal keinen einzi­gen Pil­gerk­ilo­me­ter gemacht und unter­schei­de mich deswe­gen ziem­lich von den Hun­derten, die hier täglich ankom­men und teils in Jubel und Geschrei aus­brechen. Aber ich sah auch Leute unter Trä­nen. Und auch die kann ich gut ver­ste­hen. Ein Ziel zu erre­ichen, heisst es auch, zu ver­lieren.

Es hat mir beson­ders gefall­en, mich auf den Platz zu leg­en, alle Viere von mir gestreckt, wie viele um mich herum dies tat­en. Es mag ein Zeichen des Abspan­nens sein, aber auch des Loslassens, des Nicht-mehr-Müssens, des grossen Ausat­mens. Für mich ist das eine Feier auf mein Leben – das auch eine grosse Wan­derung ist – welch­es ich in den let­zten 38 Jahren leben und erleben durfte.

Damals brach ich mit 23 Jahren in der Schweiz auf, um die Tür zu meinem Leben vor­be­halt­s­los aufzus­tossen. Ich hat­te keine Ahnung, was aus mir wer­den kön­nte. Und nun ahne ich, was mein Weg mit mir gemacht hat und ich mit ihm.

Deswe­gen mag es gut sein, wenn wir im Leben ab und an Plätze auf­suchen, die uns eine Ahnung geben, welchen Weg, welche Wege wir zurück­le­gen durften – und welch­es immense Glück an Erfahrun­gen, Leis­tun­gen, Erleb­nis­sen und Wach­s­tum darin gebor­gen ist. Ähn­lich einem Pil­ger, der sich auf seine hun­derte Fusskilo­me­ter zurückschauend freuen kann und sich jet­zt, wie hier auf dem langersehn­ten Platz, nur glück­lich ausstreck­en darf.

Heute Abend ziehe ich nun den ersten Zettel und mor­gen gehe ich los zum Ende der Welt nach Fin­istère. Zum zweit­en Mal, 38 Jahre später.

Hannes Leo Meier
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