Entschleunigen und die Welt ein wenig heilen
Der Schriftsteller, Kabarettist und Liedermacher Franz Hohler (81) gehört der christkatholischen Kirche an.
Bild: © Luchterhand

Entschleunigen und die Welt ein wenig heilen

Der Schriftsteller Franz Hohler und der Schüler Ezra Osherovich erzählen von ihrer Beziehung zur Religion. Ein Artikel zum Thema «Religiöse Erziehung» aus der interreligiösen Zeitung «zVisite».

«Ich bin nie aus der Kirche ausgetreten, weil die Kirchen in unserer Zeit eine Aufgabe haben: als Gegengewicht zur temporeichen Oberflächlichkeit, als Ort der Besinnung und auch als Helferinnen der Bach-Kantate ‹Die Elenden sollen essen›», sagt Franz Hohler.


«Ich bin in ein­er christkatholis­chen Fam­i­lie aufgewach­sen. Dadurch füh­le ich mich mit diesem Glauben ver­bun­den. Aus mir wurde zwar kein gläu­biger Christ, ich bin aber nie aus­ge­treten, weil die Kirchen in unser­er Zeit eine Auf­gabe haben: als Gegengewicht zur tem­por­e­ichen Ober­fläch­lichkeit, als Ort der Besin­nung und auch als Helferin­nen der Bach-Kan­tate ‹Die Elen­den sollen essen›.

Mein Vater ging mit ein­er gewis­sen Selb­stver­ständlichkeit in die Kirche. Das diente mir als Vor­bild. Als Erwach­sen­er fragte ich ihn ein­mal, ob er eigentlich an ein ewiges Leben glaube. Eben­so selb­stver­ständlich sagte er nein. Aber er war Kirchge­mein­de­präsi­dent.

Der Charme einer Minderheitenkirche…

In unser­er ehe­ma­li­gen Pri­marschulk­lasse gab es neb­st mir nur noch einen weit­eren Christkatho­liken. In der vierten Klasse durften wir zwei die Schule etwas früher ver­lassen, weil wir zusam­men auf die andere Aare­seite in den Reli­gion­sun­ter­richt mussten, der damals Chris­ten­lehre hiess. Das gab uns das Gefühl, etwas Beson­deres zu sein – der Charme ein­er Min­der­heit­enkirche …

Im Reli­gion­sun­ter­richt lernte ich, dass Jesus Chris­tus für uns gestor­ben sei. Das Alte Tes­ta­ment beein­druck­te mich allerd­ings fast mehr als das neue, weil es in stärk­erem Mass Geschicht­en erzählt. In der Kirche war ich eine Weile lang Mess­di­ener. Von der Sakris­tei aus sah ich auf die Hin­ter­seite des Altars. Vorne war dieser ein geheimnisvolles Heilig­tum Gottes, mit Brokat­deck­en, sil­ber­nen Kerzen­stän­dern und einem gold­en glänzen­den Taber­nakel. Die Hin­ter­seite aber war ganz nor­mal ver­putzt, und davor stand ein Kübel mit ein­er Feg­bürste.

Dieses Bild ist wohl mit ein Grund für meine Skep­sis allem gegenüber, was würde­voll und respek­t­ge­bi­etend daherkommt. Sei­ther ver­mute ich dahin­ter stets eine bedeu­tend weniger edle Rück­seite.» Aufgeze­ich­net von Anouk Hiedl

Üben für die Bar-Mizvah-Feier

Ezra Osherovich legt den Gebetss­chal um die Schul­tern, holt feier­lich die Tho­ra-Rolle – die jüdis­che heilige Schrift – aus dem kost­baren Schrein mit samte­nen Vorhän­gen, schre­it­et damit im Kreis. Der 13-Jährige übt für seine Bar-Miz­vah-Feier. Das ist der Tag, an dem ­jüdis­che Kinder im religiösen Sinn erwach­sen wer­den. Dann wird Ezra zum ersten Mal vor der ver­sam­melten Gemeinde der Sch­a­bat-Feier vorste­hen und aus der Tho­ra vor­lesen. Vor­lesen heisst: die hebräis­chen Schriftze­ichen entz­if­fern und den Text in Ivrit, der hebräis­chen Sprache, nach allen Regeln der Kun­st vorsin­gen. Das braucht Übung und einige Jahre ­Unter­richt.

«Die hebräis­chen Buch­staben ler­nen wir von klein auf im jüdis­chen Reli­gion­sun­ter­richt», erzählt Ezra. «Aber zuerst ist man sehr auf das Lesen konzen­tri­ert und weniger auf das Ver­ständ­nis.» Während es für die Melodie in gedruck­ten hebräis­chen Bibeln eine Art Nota­tion gibt, muss man sie in der Tho­ra-Rolle auf­grund der Worte und Buch­staben sel­ber sin­gen kön­nen, was zusät­zliche Übung bedeutet. Es gibt im Juden­tum viele rit­uelle Gebete, Gebräuche und Regeln. Ezra find­et es «span­nend, das alles ken­nen­zuler­nen». Denn seine Fam­i­lie ist nicht ortho­dox, daher ken­nt er das alles noch gar nicht. «Wir feiern die Feste, das ist alles.»

«Die Tho­ra-Rolle ist schw­er», sagt Ezra, während er sie hochhält. Sein Lehrer Dan Dunkel­blum bere­it­et die Kinder geduldig und liebevoll auf ihren grossen Tag vor. Dieses Jahr sind es zwei Buben – neb­st Ezra auch noch Jonathan. «Aber Mäd­chen feiern bei uns in der lib­eralen jüdis­chen Gemeinde genau gle­ich wie die Buben», betont Dunkel­blum. «Bei den Mäd­chen heisst es Bat Miz­vah.» Bar oder Bat Miz­vah heisst über­set­zt «Sohn» beziehungsweise «Tochter des Gebotes». Als es in der Schule kür­zlich um ver­schiedene Reli­gio­nen gegan­gen sei, habe er die Unter­schiede und Gemein­samkeit­en zwis­chen der jüdis­chen und der christlichen Reli­gion gut erk­lären kön­nen, sagt Ezra. Um die Kinder vorzu­bere­it­en, lässt Dan Dunkel­blum sie auch schon vor der Feier die heilige Schrift anfassen, rit­uell vorzeigen und aufs Lesepult leg­en. «Ich sel­ber durfte vor mein­er Bar Miz­vah die Rolle nie berühren. Aber ich finde es schön, wenn die Kinder das kurz vorher ein‑, zweimal üben kön­nen. Das lin­dert die Aufre­gung sehr», meint er.

Verantwortung für die Welt übernehmen

Ezra wird nicht nur seinen Tho­ra-Text vor­lesen. «Ich muss auch eine Rede hal­ten, erk­lären, wie ich den Text inter­pretiere, und mein Pro­jekt vorstellen.» Zum Text wird er sich noch Gedanken machen. Doch das Pro­jekt läuft. «Wir nen­nen das ‹tikkun olam›, das heisst‚ ‹die Welt heilen›.» Denn zum religiösen Erwach­sen­wer­den gehöre auch, Ver­ant­wor­tung für die Welt zu übernehmen. Ezra unter­stützt mit seinem Pro­jekt «World Cen­tral Kitchen». Er hat eigens eine Web­site erstellt, wo er das Pro­jekt vorstellt und einen Link angibt, über den man spenden kann. «Diese Organ­i­sa­tion verteilt Essen in Kriegs­ge­bi­eten, aktuell in der ­Ukraine und in Gaza, für die Men­schen, die am Ver­hungern sind. Sie schauen auch, dass es gut verteilt wird», erk­lärt Ezra mit grossem Ernst. Ezra hat sel­ber entsch­ieden, die Bar Mitz­vah zu machen. «Meine Eltern sagten: ‹Es ist bess­er, wenn du es machst, aber du musst nicht.›» Ezra ist sich bewusst: «Es ist eine Tra­di­tion, die schon vor tausend Jahren so durchge­führt wurde.»

Das möchte er weit­er­führen. Bei Fre­un­den hat er schon erlebt, dass sie nach der Bar Miz­vah in der Syn­a­goge zu Hause ein «Riesen­fest» gefeiert haben. «Ich möchte das klein­er und ruhiger feiern. Für mich ist das anschliessende Fest weniger wichtig. Ich habe ja keinen Nobel­preis gewon­nen.» In der Syn­a­goge vor die ver­sam­melte Gemeinde hin­ste­hen und mutig den alten Text vor­tra­gen, die Verbindung zum eige­nen Leben aufzeigen, und mit seinem Pro­jekt «die Welt heilen», das ist ihm wichtig. Beat­rix Led­erg­er­ber-Baumer

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Redaktion Lichtblick
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