Wo verletzliche Lebensgeschichten auf harte behördliche Kriterien treffen

Wo verletzliche Lebensgeschichten auf harte behördliche Kriterien treffen

  • Die Filmemacherin Lisa Gerig engagiert sich seit Jahren im Asyl­bere­ich.
  • Mit ihrem ersten Lang­film «Die Anhörung» hat sie das Kern­stück des Asylver­fahrens scharf analysiert.
  • In einem für die Asyl­suchen­den exis­ten­tiellen Moment sind diese ganz beson­ders den Behör­den­mi­tar­bei­t­en­den aus­geliefert.
  • «Die Anhörung» hat den «Prix de Soleure» an den diesjähri­gen Solothurn­er Film­ta­gen gewon­nen.

Erzählen Sie von Ihrem Engage­ment im Asyl­bere­ich.
Lisa Gerig: Ich habe mit mein­er Schwest­er beim Solinetz Zürich Asyl­suchen­den Deutschunter­richt erteilt. Während mehreren Jahren habe ich ausser­dem Men­schen im Auss­chaf­fungs­ge­fäng­nis in Kloten besucht. Der Aus­tausch mit ihnen war für mich von Anfang an sehr bere­ich­ernd, weil ich viele Lebens­geschicht­en gehört habe, die so anders sind als meine eigene. Gle­ichzeit haben meine Schwest­er und ich und viele unser­er Fre­unde, die sich eben­falls im Asyl­we­sen engagieren, real­isiert, dass es im Asyl­we­sen viele Missstände gibt im Umgang mit den geflüchteten Men­schen. Meine Schwest­er leit­et heute das Solinetz Zürich. Ich ver­suche mit mein­er Fil­mar­beit einen Beitrag zu ein­er Verbesserung der Sit­u­a­tion zu leis­ten.

Wieso ste­ht die Anhörung der Asyl­gründe in Ihrem Film im Fokus?
Die Anhörung ist das Ker­nele­ment jedes Asylver­fahrens und ein beson­ders sen­si­bler Moment. Dort tre­f­fen die weichen, ver­let­zlichen Lebens­geschicht­en auf die harten Kri­te­rien und bürokratis­chen Prozesse der Behör­den.

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Wie sind Sie auf die Idee gekom­men, eine Anhörung zu insze­nieren?
Ich habe in den vie­len Gesprächen in Auss­chaf­fungs­ge­fäng­nis­sen erfahren, wie exis­ten­tiell die Anhörung für die Asyl­suchen­den war. Als Filmemacherin habe ich eine Par­al­lele gese­hen zwis­chen den Erzäh­lun­gen in den Anhörun­gen und in den Erzäh­lun­gen im Film. Ich wollte das exis­ten­tielle Erzählen auf die Lein­wand brin­gen. Gle­ichzeit­ig soll­ten meine Pro­tag­o­nistin­nen eine zeitliche Dis­tanz zu ihrer Anhörung haben, damit die Insze­nierung für sie nicht zu belas­tend ist.

Im Film machen Sie mit der Befra­gung der SEM-Mitar­bei­t­en­den durch die Asyl­suchen­den deut­lich, dass es einen grossen Unter­schied macht, wer die Fra­gen stellt und wer sie beant­wortet. Wie beurteilen Sie dieses Ver­hält­nis?
Wer fragt, ist in der Macht­po­si­tion. In Asy­lan­hörun­gen ist die Art der Fra­gen und wie die Fra­gen gestellt wer­den, von grösster Bedeu­tung für den Ver­lauf der Anhörung, und schliesslich für den Asy­lentscheid.

Kri­tisieren Sie die Anhörun­gen?
An den EU-Aus­sen­gren­zen wer­den anhal­tend und mit­tler­weile sys­temim­ma­nent Grund- und Frei­heit­srechte von Schutz­suchen­den unter­graben. Vie­len Men­schen wird die Möglichkeit ver­wehrt einen Asy­lantrag zu stellen. Insofern schauen wir, wenn wir die Asy­lan­hörung anschauen, auf ein mit­tler­weile vertei­di­gungswertes Kern­stück eines fairen Asyl­sys­tems: Jed­er Schutz­suchende muss aus­führlich zu seinen Flucht­grün­den ange­hört wer­den. Umso brisan­ter ist es, dass sich auch hier, beim genauen Hin­schauen, dann Abgründe auf­tun. Ich will in meinem Film wed­er moral­isieren noch poli­tis­che Bew­er­tun­gen abgeben. Als Filmemacherin mache ich auch keine Verbesserungsvorschläge. Es ist die Auf­gabe des SEM, die Anhörun­gen gerecht zu gestal­ten.

Die SEM-Mitar­bei­t­en­den vertreten eine Behörde, wenn sie die Entschei­de tre­f­fen. Ver­steck­en sie sich hin­ter ihr?
Die vier SEM-Mitar­bei­t­en­den in meinem Film vertreten ein Sys­tem, das wir als ganze Gesellschaft stützen. Die Organ­i­sa­tion des Asylver­fahrens ist hoch poli­tisch. Ich finde es mutig von ihnen, dass sie ihr Gesicht zeigen und beim Film mit­gemacht haben. Aus der täglichen Prax­is wis­sen sie am besten, wie die Anhörun­gen fair­er gemacht wer­den kön­nten. Aber die Real­ität ist auch, dass die Gestal­tung der Asylver­fahren von der poli­tis­chen Stim­mung im Land abhängt.

Woraus schöpfen die Men­schen, die durch den Asyl­prozess gehen, Hoff­nung?
Das müssten wir sie sel­ber fra­gen und ist natür­lich von Per­son zu Per­son unter­schiedlich. Aber ich weiss, dass Begeg­nun­gen mit Men­schen aus der Schweiz­er Gesellschaft extrem wichtig für viele Asyl­suchende sind. Sie möcht­en aus der gesicht­slosen Masse der Asyl­suchen­den her­aus­treten und als Indi­vidu­um wahrgenom­men wer­den mit ihren Wün­schen, Träu­men, Fähigkeit­en und Äng­sten. Sie möcht­en unsere Sprache ler­nen, arbeit­en, um ein Teil unser­er Gesellschaft zu sein.

Hier geht es zum Filmtipp

https://www.horizonte-aargau.ch/wer-fragt-bestimmt/

Eva Meienberg
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