«Wieviel kommen noch bei Ihnen am Sonntag?»

Ich wollte eigentlich einen Artikel schreiben, warum sich in den Gottes­di­en­sten in unseren Kirchen, beson­ders in unserem Pas­toral­raum in den let­zten Jahren einiges verän­dert hat. Stelle ich fest: Die Gottes­di­en­st­be­suche und Anfra­gen für sakra­men­tale Feiern (Taufen, Abdankun­gen, Trau­un­gen…) gehen spür­bar und tat­säch­lich zurück, höre ich gle­ich wieder Stim­men, die dage­gen­hal­ten: Bei uns kom­men sie, die tra­di­tions­be­wussten Katholiken:innen. Aber ist das der Massstab? Sollen die Kirchen voll sein? Egal, was son­st in den Pfar­reien passiert?

Mein Argu­ment ist dann, wenn disku­tiert wird, nicht sel­ten fol­gen­des: Vor gut 100 Jahren waren die Kirchen voll, 99 % der Bevölkerung waren reformiert oder katholisch. Von Mus­li­men sprach nie­mand, und doch hat­ten wir zwei Weltkriege und die Shoa (den Holo­caust), das ganze Leid, die Dik­tatur in Deutsch­land, und all die Fol­gen der Spal­tung in ein west­lich mark­twirtschaftlich ori­en­tiertes Europa auf der einen und das kom­mu­nis­tis­che Sys­tem auf der anderen Seite, mit all den bekan­nten Fol­gen von Unter­drück­ung und Frei­heit­sentzug im Osten, und den zunehmenden Mate­ri­al­is­mus und Tra­di­tionsver­lust im West­en.


Die Kirchen wer­den sich nicht mehr füllen, wie es war, als wir am Son­ntag in die Kirche gehen mussten, weil die Fam­i­lie, die Tra­di­tion, die – im heuti­gen Deutsch: die com­mu­ni­ty – das eben forderte. Auch mit Notzeit­en zu rech­nen «wenn es den Men­schen schlecht geht, kom­men sie wieder in die Kirche» ist aus mein­er Sicht zynisch. Ich möchte bei­des nicht, Leid oder Pflicht als Motor und Moti­va­tion, am Son­ntag in die Kirche zu gehen.


Wo ste­hen wir heute? Zwei Aus­sagen in der ver­gan­genen Woche zeigen ein wenig, wo. Als ich einem Her­rn im Alter­sheim die Kom­mu­nion reichen wollte, fragte er, ob sie auch ohne vorge­hende Beichte gültig wäre. Oder die Aus­sage von Taufel­tern, dass sie schon glauben, aber nicht unbe­d­ingt an den Gott der Kirche, ob sie trotz­dem taufen kön­nten, ein­fach es sollte nicht so «steif» und «katholisch» sein.


Unsere Pfar­reien haben längst reagiert. Neben den tra­di­tionellen Eucharistiefeiern bietet unser Pas­toral­raum eine Vielzahl wun­der­bar und men­schen­nah gestal­teter Feiern und Gottes­di­en­ste, für Kinder, Jung und Alt, offen für neue For­men, ob an den Fam­i­lien­sam­sta­gen in Aarau, den Feiern am Tisch oder gen­er­a­tionsüber­greifend in Suhr oder die viel­seit­ige Gestal­tung von Feiern an Wei­h­nacht­en und Ostern in Schöft­land, Ent­felden, Buchs, Suhr und Aarau.


Vielle­icht erre­ichen wir damit nicht mehr alle. Aber das ist sich­er: Nie­mand kommt, weil er muss oder um nur für sich etwas «abzu­holen». Gesellschaftliche und selb­stkri­tis­che Fra­gen wer­den nicht aus­geklam­mert. Es wird das Evan­geli­um in unsere ganz konkreten Leben hineinge­sprochen und gefeiert, so dass es nach­hallt und im All­t­ag weit­er-gelebt wird, weit­er eben als nur bis zur Kirchen­tür. Eine volle Kirche macht noch keine bessere Gesellschaft. Wenn die Feier zu Herzen geht, Men­schen per­sön­lich ange­sprochen und ermutigt wer­den, wer­den wir zu Verkünder:innen des Lebens, das uns in den Feiern durch Gebet, Brot, Gemein­schaft und Mit­ge­fühl mit der Welt kraftvoll geschenkt wird. Danke, wenn Sie bis hier­hin den Gedanken gefol­gt sind. Zum Ende eine Ein­ladung: Wenn Ihnen die Kirche, die christlichen Werte wichtig sind, Sie einen Ort fürs Danken, Nach-Denken und gemein­schaftlich­es Feiern von Gottes Wort und Antwort suchen – nehmen Sie teil und bleiben Sie Teil, gestal­ten Sie mit. Kirche ist so gut und schlecht, wie es die Men­schen sind, die mit­tra­gen, ob angestellt oder frei­willig, als Gast oder zahlen­des Mit­glied.


Text: Burghard Förster, Pfar­reileit­er in Aarau

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