Was hat sie gesehen?
Bild: © Frank Lorenz

Was hat sie gesehen?

Die feministische Theologin Monika Hungerbühler denkt in ihrer Kolumne darüber nach, was Bernadette Soubirous in ihren Visionen gesehen hat.

Bernadette Soubirous hat «etwas» gese­hen, das sie in ihrem pyrenäis­chen Dialekt «Aque­ro» (das da) nen­nt. Sofort geschieht in ihrem Umkreis die klare Iden­ti­fika­tion von «Aque­ro» mit der Jungfrau Maria, was Bernadette jedoch lange bestre­it­et. In einem einein­halb­stündi­gen Ver­hör durch die Polizei 14 Tage nach der ersten Erschei­n­ung kommt das zum Aus­druck:

«Kom­mis­sar: Und dann hast du die heilige Jungfrau gese­hen.​
Bernadette: Ich habe nicht gesagt, dass ich die heilige Jungfrau gese­hen habe.
​K: Nun gut, du hast also nichts gese­hen!
​B: Doch, ich habe etwas gese­hen!
​K: Also, was hast du denn gese­hen?
​B: Ich habe etwas in Weiss gese­hen.
​K: Was nun, etwas oder jeman­den?
​B: Das da, was ich gese­hen habe, sieht aus wie ein kleines Fräulein.​
K: Und ‹das da› hat dir nicht gesagt: ich bin die allerselig­ste Jungfrau?
​B: Nein, das hat es mir nicht gesagt …»
​In: Ursu­la Bernauer, Die schöne Dame von Lour­des.

In den ärztlichen Pro­tokollen ist später die Rede von «l’object». Mit dem Sprechen im Neu­trum (Aque­ro ) scheint Bernadette ihre Ehrerbi­etung gegenüber dem Unaussprech­lichen auszu­drück­en, das bei einem Rosen­strauch geleuchtet haben soll, und sie nähert sich damit der fra­gen­den Hal­tung des Mose an, dem das Göt­tliche in einem Dor­nengestrüpp erschienen sein soll.

Monika Hungerbuehler
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